Flüchtlingsdebatte Merkel nimmt Reisebranche in die Pflicht

Wie soll Deutschland den Zustrom von Flüchtlingen bewältigen? Kanzlerin Angela Merkel fordert nun die heimische Urlaubsindustrie auf, ihr dabei zu helfen. Doch die Branche fühlt sich von der Regierung gegängelt.

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Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) auf dem Branchentreff in Berlin: „Wir wollen uns nicht mit der gesamten Reisebranche anlegen.“ Quelle: dpa

Berlin Vor fast genau einem Jahr löste Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) mit ihrem „Wir schaffen das“ den größten Zustrom von Flüchtlingen in die Bundesrepublik aus. Jetzt soll ihr die heimische Urlaubsindustrie dabei helfen, die Folgen in den Griff zu bekommen.

„Wir beobachten, dass überproportional viele Neuankömmlinge einen Arbeitsplatz in der Touristikbranche finden“, sagte sie am heutigen Montag beim Bundesverband der Deutschen Touristikwirtschaft (BTW) in Berlin. Mit dem soeben gestarteten „Arbeitsmarktprogramm 2020“, das 100.000 Flüchtlingen während der laufenden Asylverfahren Jobmöglichkeiten bieten soll, werde die Bundesregierung diese Bemühungen nun unterstützen.

„Das Programm erlaubt Orientierungspraktika ohne Mindestlohn“, machte Merkel der Branche die Einstellung von Flüchtlingen schmackhaft. „In den meisten Arbeitsamtbezirken haben wir außerdem die Vorrangprüfung abgeschafft.“ Bislang mussten Arbeitgeber zuvor mühsam und bürokratisch nachweisen, dass es für die ausgeschriebene Stelle keinen geeigneten Bewerber aus der Europäischen Union gab.

Obwohl das Arbeitsmarktprogramm erst seit dem 1. August in Kraft ist, sind schon jetzt gut 1.000 Flüchtlinge in deutschen Hotels beschäftigt, wie eine Umfrage des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbands (Dehoga) ergab. Zudem wurden rund 500 Ausbildungsverträge abgeschlossen. Die Zahl könnte sich noch deutlich erhöhen. Denn die Bundesregierung garantiert seit Kurzem während der Ausbildung ein Aufenthaltsrecht – plus zwei weiterer Jahre, falls es anschließend zu einer festen Beschäftigung kommt.

„Wir müssen legale Wege finden, Menschen zu uns zu holen“, sagte Merkel. Gleichzeitig müsse es eine Möglichkeit geben, illegal mit Schleppern eingereiste Ausländer zurückzuschicken, verteidigte die Kanzlerin ihre Flüchtlingspakt mit der Türkei.

Auch bei der Ursache der Flüchtlingsproblematik will Merkel die Reisebranche in die Pflicht nehmen. „Sie sind Entwicklungshelfer“, erinnerte sie die Touristikveranstalter an deren Verantwortung. „Die Zunahme von Tourismus beinhaltet eine Vielzahl von Chancen“, sagte sie in Berlin.

Der Ausbau der Kapazitäten in den Reiseländern müsse jedoch nachhaltig geschehen – und Rücksicht nehmen auf soziale und ökologische Erfordernisse. „Im Tourismus sollten die Veranstalter auf lokale Produkte und lokale Dienstleistungen setzen“, ermunterte die Kanzlerin die nach Berlin angereisten Manager. Nur so komme die Reiselust der Deutschen auch den nationalen Wirtschaften der Entwicklungsländer zugute.

„15 Urlauber pro Jahr reichen schon aus, um in manchen Ländern einen zusätzlichen Arbeitsplatz zu schaffen“, rechnete Verbandpräsident Michael Frenzel vor. Im Gegenzug rief er die Bundesregierung aber dazu auf, die Branche „gesund und arbeitsfähig“ zu halten.


Hotels, Pensionen und Reisebüros sind in ihrer Existenz bedroht

Hier sieht der ehemalige Tui-Vorstandschef deutliche Defizite. Für fatal hält Frenzel etwa die Forderung des Finanzverwaltung, dass Reiseveranstalter vermittelte Hotels wie gemietete Gewerbeimmobilien versteuern sollen. Setzt sich diese Auffassung beim Bundesfinanzhof durch, werden Gewerbesteuernachzahlungen in Milliardenhöhe fällig. „Hinzu kommt“, mahnte Frenzel, „dass dies den Wettbewerb zu Hotelvermittlungs-Plattformen wie HRS oder Reiseveranstaltern mit Sitz im Ausland massiv verzerrt.“

Und auch die neulich vom Bundesjustizministerium vorgelegten Touristikregeln, die eine im vergangenen Herbst verabschiedete EU-Reiserichtlinie in nationales Recht fassen sollen, bringt die deutsche Reisebranche in Rage. Kommt es zu keinen Änderungen mehr, müssten selbst kleine Reisebüros in manchen Fällen in die Haftung treten, sobald vermittelte Hotels oder Airlines in die Insolvenz rutschen. „Der Entwurf gefährdet Existenzen von Hotels und Pensionen, Reisebüros und -veranstaltern“, kritisierte Frenzel.

Zu beiden Punkten gab sich Merkel vage. Bei der sogenannten „Gewerbesteuer-Hinzurechnung“ sei sich die Bundesregierung „der Sachlage bewusst“, sagte sie. Man müsse aber auch den leeren Kassen der Kommunen Rechnung tragen.

Beim Streit um die EU-Pauschalreiserichtlinie versprach sie eine „tragfähige Lösung“. „Wir wollen uns nicht mit der gesamten Reisebranche anlegen“, sagte Merkel, um leise nachzuschieben: „Aber auch nicht mit deren Kunden.“

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