Flugzeugkatastrophen Fluggesellschaft auch bei Abschuss haftbar

Auch wenn die Malaysian Airlines am Abschuss von Flug 17 über der Ukraine im Juli keine Schuld trifft, haben die Angehörigen der Opfer Anspruch auf Entschädigung. Ein internationales Abkommen regelt diesen Anspruch.

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Wrackteile von Flug MH17, der über der Ostukraine abstürzte. Quelle: AFP

New York Kaum sechs Wochen nach dem tragischen Abschuss der Passagiermaschine über der bürgerkriegsgebeutelten Ostukraine hat die Betreibergesellschaft Malaysian Airlines begonnen, den Hinterbliebenen der Opfer eine Entschädigung in Höhe von je rund 38 000 Euro anzubieten. Dies berichten Behörden in den Niederlanden, wo die meisten Angehörigen leben. Nach Ansicht vieler Anwälte sei das aber nur ein Zeichen guten Willens, eigentlich stehe den Hinterbliebenen nach internationalem Recht weit mehr zu.

Es ist das sogenannte Montrealer Übereinkommen, das seit 1999 den Angehörigen von Opfern einer Flugzeugkatastrophe eine Entschädigung in Höhe von mindestens 132 000 Euro zuspricht, und zwar völlig unabhängig von der Schuldfrage. Seit den Anfängen der zivilen Luftfahrt gibt es solche Abkommen, die im Wesentlichen ähnlich funktionieren wie eine KFZ-Haftpflichtversicherung.

Das Montrealer Übereinkommen sichert den Angehörigen eine Mindestsumme zu, und im Fall einer nachgewiesenen Schuld können die Hinterbliebenen auf eine höhere Summe klagen. Diese Klagen können im Heimatland des Opfers, der Fluggesellschaft, dem Zielland des Fluges oder in dem Land, in dem das Ticket gekauft wurde, eingereicht werden.

Fachanwälte halten es für unwahrscheinlich, dass es Sinn haben dürfte zu versuchen, Russland oder die prorussischen Rebellen für den Abschuss haftbar zu machen. Nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen ist Flug 17 der Malaysian Airlines am 17. Juli beim Überflug der Ostukraine von einer bodengestützten Flugabwehrrakete getroffen worden. Das Flugzeug war von Amsterdam nach Kuala Lumpur unterwegs. 298 Menschen verloren ihr Leben.

Die Route galt als sicher, solange eine Mindestflughöhe von knapp 10 000 Metern eingehalten wird. Unterhalb hatte die Ukraine den Luftraum geschlossen, um auszuschließen, dass die Rebellen Flugzeuge mit tragbaren Raketenwerfern abschießen. Oberhalb der 10 000-Meter-Grenze gilt das als unmöglich.


Eine Klage wäre möglich

Auch andere Fluglinien nutzten bis zum Abschuss die Route über die Ostukraine, einschließlich der deutschen Lufthansa - auch nachdem die Rebellen Anfang Juli ukrainische Militärjets abgeschossen hatten. Auch deshalb haben die Familien der Hinterbliebenen eine gute Ausgangslage für eine Klage auf eine höhere Entschädigung. „Zu sagen, dass andere Fluggesellschaften ähnlich dämlich waren, ist ein schwaches Argument“, sagt Fachanwalt Jonathan Reiter aus New York über die Ausrede der Malaysian Airlines, dass auch andere Gesellschaften die Route geflogen waren.

Allerdings kann es gut sein, dass die Hinterbliebenen lange Zeit auf eine Entschädigung warten müssen, wenn sie klagen. Mehrere Jahre können sich solche Prozesse hinziehen. Dass es dabei nicht immer gerecht zugeht, haben frühere Fälle gezeigt: „Es kann sein, dass die Angehörigen von zwei Sitznachbarn mit ähnlichem Einkommen mal mit mehreren Millionen und mal mit 55 000 Euro abgefunden werden“, sagt Justin Green, der einige Familien der Opfer des Lockerbie-Anschlags von 1988 vertrat. Über Schottland zerstörte die Bombe libyscher Staatsterroristen seinerzeit die Passagiermaschine der Pan Am, 270 Menschen starben bei dem Absturz.

Viele Angehörige der Opfer der jüngsten Katastrophe über der Ukraine überlegen noch, ob sie klagen wollen. Gastronom Kevin Fan verlor beide Eltern und seine Großmutter. Der 30-Jährige lotet derzeit aus, wie es mit dem Familienbetrieb weitergehen soll. Sein Vater war Koch und seine Mutter Kellnerin; die Familie betreibt zwei asiatische Restaurants in Rotterdam. „Es ist noch so viel zu erledigen“, sagt Fan. An eine Klage denke er derzeit nicht. Er sei froh, dass seine Familie ihm helfe, über den Verlust hinwegzukommen.

Harun Calehr verlor zwei Neffen bei dem Abschuss und war von dem Angebot einer Zahlung durch die Malaysian Airlines tief berührt. „Meine Mutter und meine Schwester haben gesagt, das ist Blutgeld und wollten es nicht annehmen. Ich habe ihnen widersprochen: 'Ihr profitiert damit nicht vom Tod der Jungs, sondern das ist Euer Recht'. Alles, was man von der Fluggesellschaft bekommt, ist Geld und vielleicht eine Entschuldigung“, sagt er.

Die Hinterbliebenen des im März spurlos verschwundenen Fluges 370 der Malaysian Airlines begannen bereits, auf Entschädigung zu klagen. Steve Wang, ein Chinese, der seine Mutter bei dem vermuteten Absturz verlor, will mehr als die im Montrealer Übereinkommen zugesicherten 132 000 Euro. Das sei eine Frage der Verhältnismäßigkeit und ein Mittel, über den finanziellen Druck die Ermittlungen des mysteriösen Verschwindens der Maschine zu erhöhen. „Mir geht es gar nicht so sehr um das Geld, ich will wissen, was an Bord passiert ist. Wo ist das Flugzeug jetzt?“ fragt Wang.

Was mit Flug 17 über der Ukraine passierte, weiß man inzwischen fast sicher. Und die Hinterbliebenen können sich Hoffnungen auf Entschädigungszahlungen machen, wenn sie einen langen Atem haben. Es gibt mehrere Präzedenzfälle, bei denen auch Passagiermaschinen abgeschossen und Angehörige entschädigt wurden.
Zwar zahlte die Sowjetunion keine Kopeke nach dem Abschuss des koreanischen Linienflugs von Seoul nach Anchorage im Jahr 1983, bei dem 269 Menschen starben. Aber die Angehörigen verklagten die Fluggesellschaft erfolgreich auf umgerechnet insgesamt rund 7,5 Millionen Euro. Und die USA zahlten 46,8 Millionen Euro an die Hinterbliebenen, nachdem ein US-Kriegsschiff im Persischen Golf 1988 versehentlich eine iranische Passagiermaschine abschoss und 290 Menschen starben. Auch die Angehörigen der Lockerbie-Opfer wurden nach langer Zeit abgefunden: Libyen zahlte 2002 mehr als zwei Milliarden Euro.

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