Die schweren Lederbügel senken sich langsam über den Köpfen der Kinder, die sich voller Erwartung auf den kommenden Nervenkitzel in die Sitze pressen. Laute Hip-Hop-Musik dröhnt aus den Boxen, in grellen Farben blinken und blitzen die Lichter an den Stahlkonstruktionen. Es riecht nach gebrannten Mandeln, Popcorn und Bratwürsten. Dann beginnt der 23 Meter lange Stahlstab, um dessen Ende herum die 16 Besucher sitzen, hin- und herzuschwingen. Er schwingt höher und höher, das Gekreische wird immer lauter, bis er sich schließlich einmal in die Vertikale stellt und die Adrenalinsüchtigen über Kopf durch die Luft wirbelt und dabei noch einmal um sich selbst dreht.
Besitzer Ronny Langenberg sitzt unten in seinem Häuschen auf der Haaner Kirmes in der Nähe von Düsseldorf, kontrolliert die Fahrt des „Salto Mortale“ und spornt seine Fahrgäste laut über das Mikrofon an: „So, wie schaut’s aus, könnt ihr noch, und wollt ihr noch“, bevor er sie ein weiteres Mal über Kopf durch die Luft schleudern lässt. Vor Kurzem hat der 29-Jährige den „Salto Mortale“ allerdings für einige Monate im Lager eingemottet und verkauft jetzt Crèpes auf den Weihnachtsmärkten in Bochum und Mülheim.
Wie für Langenberg werden die glitzernden bunten Buden für viele Schausteller immer wichtiger. Fast die Hälfte gibt an, dass die Bedeutung der Weihnachtsmärkte für sie stark gestiegen ist. Das zeigt eine aktuelle Studie der Kölner ift Freizeit- und Tourismusberatung im Auftrag des Deutschen Schaustellerbundes (DSB).
Die zehn Städte mit den meisten Weihnachtsmarktbesuchern
Hamburg
1,8 Millionen Besucher
Nürnberg
2,0 Millionen Besucher
Erfurt
2,0 Millionen Besucher
Leipzig
2,2 Millionen Besucher
Dresden
2,5 Millionen Besucher
München
2,8 Millionen Besucher
Stuttgart
3,0 Millionen Besucher
Frankfurt am Main
3,0 Millionen Besucher
Dortmund
3,6 Millionen Besucher
Köln
4,0 Millionen Besucher
Doppelt aktiv
Danach sind inzwischen 90 Prozent der knapp 5.000 Schaustellerunternehmen in Deutschland im Dezember zusätzlich mit Ständen auf den rund 1.450 Weihnachtsmärkten vertreten, neben kleinen Karussells vor allem mit Gastronomiebetrieben. Sie verkaufen Glühwein oder Bratwürste an die Besucher, die sich zwischen Engelsfiguren aus dem Erzgebirge und handgezogenen Bienenwachskerzen in Weihnachtsstimmung bringen möchten.
Grund dafür ist die Schwäche im traditionellen Geschäft: Nur noch 150 Millionen Menschen vergnügten sich in diesem Jahr auf den rund 10.000 Volksfesten zwischen Kiel und Konstanz, schätzt der DSB. Im Jahr 2000 waren es noch 170 Millionen. Setzte die Branche damals allein auf den Volksfestplätzen 3,5 Milliarden Euro um, waren es zuletzt nur noch 2,45 Milliarden.
Grund für den Weihnachtsmarkt-Boom
Die Lücke gleichen viele Schausteller auf den boomenden Weihnachtsmärkten aus, wo die Besucherzahl laut ift-Studie seit 2000 um 70 Prozent auf 85 Millionen gestiegen ist. Sie lassen allein in den Kassen der Schausteller, die zusammen mit anderen Branchen wie dem Kunsthandwerk Weihnachtsmärkte beschicken, 980 Millionen Euro. Damit liefern sie dem Schaustellergewerbe fast ein Drittel des Umsatzes. Grund für den Erfolg: Der Budenzauber findet in den Innenstädten nah an den Kunden statt, die im Advent Lust aufs Geldausgeben haben. Zudem werden die Märkte von den Städten stark beworben und von Tourismusunternehmen vermarktet.
Bei den Volksfesten laufen große Klassiker wie das Oktoberfest in München oder der Hamburger Dom zwar gut. Dafür darben aber viele kleine und mittlere Veranstaltungen. „Die Besucher sind heute verwöhnt, ihnen reicht das Angebot auf einer kleinen Kirmes oft nicht mehr aus“, konstatiert DSB-Präsident Albert Ritter. Der 59-Jährige stammt aus einer Schaustellerfamilie und betreibt auf vielen Plätzen seinen Ausschank „Zum armen Ritter“. Zudem würden große Volksfeste besser von der Kommunalpolitik gefördert: „Die sind gut für das Image, und die Besucher bringen der Stadtkasse im Durchschnitt einen Euro Gewerbesteuer.“ Eine kleine Kirmes habe weniger politischen Rückhalt und werde schon mal aus der City verbannt.
Weihnachtsmärkte in Zahlen
85 Millionen Besuche verzeichnen die 1.457 Weihnachtsmärkte im Jahr 70 Prozent mehr als 2000.
90 Prozent der fast 5.000 Schaustellerunternehmen beschickten neben Volksfesten auch Weihnachtsmärkte.
150 Millionen Menschen besuchen die mehr als 10.000 Volksfeste. 2000 waren es noch 170 Millionen.
2,45 Milliarden Euro setzen die Schausteller 2012 auf Volksfesten um, eine Milliarde weniger als 2000.
980 Millionen Euro erzielen sie zusätzlich auf Weihnachtsmärkten.
Teurer Strom
Das bestätigt Gerd-Jürgen Giebel, der zuletzt im Oktober mit dem Kinderkarussell seiner Lebensgefährtin auf der Kirmes in Haan stand. Der 51-Jährige zieht durch ganz Deutschland und profitiert so auch von den großen umsatzstarken Festen. Viele kleine Karussells seien aber nur in ihrer Region unterwegs und damit vor allem auf kleine Plätze angewiesen: „Die sind oft nicht gut ausgelastet.“ Sein 16 Jahre altes Kinderkarussell ist zum Glück abbezahlt. „Wenn ich es heute neu bestellen würde, würde sich das kaum rechnen“, sagt Giebel.
Vielen Schaustellern machen außerdem die hohen Nebenkosten zu schaffen. Die Sprit- und Stromkosten fressen bei vielen einen Großteil der Umsätze auf. Weihnachtsmärkte sind daher mittlerweile unerlässlich für die meisten Schausteller: „Es kann sich kaum jemand mehr erlauben, im Winter keine Einnahmen zu erzielen“, sagt Verbandspräsident Ritter.
Das gilt auch für Romina Bruch. Auf dem Oberhausener Weihnachtsmarkt am Shoppingcenter Centro betreibt sie in diesem Jahr das nostalgische Kinderkarussell ihrer Schwiegereltern. Auf kleinen alten Holzpferden, Elefanten oder in weihnachtlichen Schlitten fahren kleine Kinder im Kreis, während wenige Meter weiter die Eltern am Glühweinstand andocken. „Meine Eltern brauchten noch keinen Weihnachtsmarkt. Aber heute könnten wir ohne ihn nicht überleben“, erzählt die 29-Jährige. „Im Oktober sind die letzten Volksfeste. Dann kämen fünf Monate ohne Einkommen, das funktioniert nicht mehr.“
In den Sommermonaten ist Bruch zusammen mit ihrem Mann William mit dem Fahrgeschäft „Break Dancer“ unterwegs. Das Nostalgie-Kinderkarussell fährt nur auf Weihnachtsmärkten. „Auf den Volksfesten wollen sie neuere Sachen“, sagt Bruch. Und vor allem Schnellere. In rasender Geschwindigkeit wirbelt der „Break Dancer“ die Kirmesbesucher in autoähnlichen Gondeln um die eigene Achse.
Das Problem mit den Stromkosten
Durch die ganze Republik ziehen die Bruchs mit ihrem Fahrgeschäft – 80.000 bis 100.000 Kilometer mit ihrem Auto plus vier spritfressenden Transportern, die den „Break Dancer“ transportieren. Ist der an einem Kirmesort angekommen, verbraucht er zwar keinen Diesel mehr, aber viel Strom durch die vielen Lichter und strombetriebenen Motoren.
„Die Strompreise haben sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt“, klagt Bruch. Schausteller-Präsident Ritter kritisiert zudem, dass mobile Schausteller den sogenannten Baustellenstrom kaufen müssen, der bis zu zehn Cent pro Kilowattstunde teurer sei als normaler Gewerbestrom.
Angesichts der hohen Kosten können Schausteller froh sein, die ihr Fahrgeschäft bereits abbezahlt haben – wie Rudolf und Bärbel Schütze. Seit 1923 betreibt die Familie in mehreren Generationen Geisterbahnen. Zuletzt standen die Schützes damit auf der Herbstkirmes in Köln-Deutz.
700.000 D-Mark hat das Ehepaar vor 34 Jahren für ihre Bahn „Schloss Dracula“ investiert. „Die konnten wir schnell abbezahlen“, sagt Bärbel Schütze. Die 71-Jährige verkauft im Geisterkassenhäuschen die Eintritts-Chips. In kleinen drachenähnlichen Wagen fahren Kinder an Mumien vorbei, die aus einem Sarg springen, leuchtenden Kürbisköpfen oder Skeletten.
Preußische Weihnacht in Berlin
Das Geschäft wird schwieriger
Wie Bruch beklagen auch die Schützes die hohen Sprit- und Strompreise. „Wir versuchen, das Beste draus zu machen, aber die rosigen Zeiten sind vorbei“, sagt der ebenfalls 71-jährige Rudolf Schütze. Wenn die Schützes nicht wie in diesem Jahr auf dem Winter-Dom in Hamburg einen Platz haben, stehen sie daher im Dezember auf dem Weihnachtsmarkt in Mülheim an der Ruhr oder Oberhausen.
Ältere Geschäfte haben allerdings auch Nachteile, nämlich durch die Umweltauflagen der Städte. Schaustellerpräsident Ritter kritisiert die Handhabe in den Umweltzonen: „Viele Schausteller reisen mit alten Fahrzeugen an, die dann wochenlang auf der Veranstaltung stehen und kein CO2 ausstoßen. Trotzdem dürfen sie auf Volksfeste oder Weihnachtsmärkte, die in Umweltzonen liegen, nicht mehr fahren.“ Ritter fordert eine Ausnahmeregelung für nur von Kirmes zu Kirmes reisende Fahrzeuge.
Die Branche beklagt nicht nur hohe Nebenkosten und Umweltauflagen. Auch der demografische Wandel hinterlässt seine Spuren. „In Kinderkarussells braucht man nicht mehr zu investieren“, sagt Ritter. Um die Lücke auszugleichen, werben viele Schausteller um ältere Kirmesbesucher. So gibt es bei den Essständen ein viel größeres Angebot wie Gemüsegerichte oder Lachs statt nur die obligatorische Bratwurst.
Obwohl das Geschäft schwieriger wird, fasziniert viele Schausteller das Leben auf dem Rummelplatz noch immer. Doch wer neu einsteigt, muss erst einmal Erfolge vorweisen können, bevor die Banken ein größeres Fahrgeschäft finanzieren.
Schwankende Geschäfte
Bereits mit 18 Jahren hatte „Salto Mortale“-Betreiber Langenberg sich selbstständig gemacht. Von seinen Eltern kaufte er zunächst einen „Kinder-Flieger“, bei dem Kinder auf Zirkustieren auf und ab schweben. Zusätzlich investierte er kurze Zeit später in zwei „Greifer“, mit denen Kinder Plüschtiere und anderes Spielzeug aus einer großen verglasten Box angeln können.
Dann wagte er sich an den „Intoxx“, ein einfacheres Überschlagkarussell mit großer Gondel, und bekam dafür seinen ersten Kredit von der Sparkasse. Als die Bilanzen stimmten, verkaufte er den „Intoxx“ und finanzierte mit einem neuen Bankkredit seinen Traum von einem größeren Fahrgeschäft: den „Salto Mortale“.
GfK sagt glänzendes Weihnachtsgeschäft voraus
Eine Million Euro hat Langenberg vor zwei Jahren investiert, inklusive Musikanlage und Zugmaschine. Wenn er heute von seinem „Salto Mortale“ erzählt, tut er das mit der gleichen Professionalität und Begeisterung, mit der ein junger Gründer sein erfolgreiches Internet-Startup beschreibt. Rund dreieinhalb Minuten dauert eine Fahrt für drei Euro. „Der Umsatz kann in der Stunde zwischen 50 und 500 Euro liegen“, erzählt Langenberg.
Mit stark schwankendem Geschäft haben sie alle zu kämpfen. Schüttet es vom Himmel, wie auf der Herbstkirmes in Köln-Deutz, ist der Platz leer gefegt. Die meisten Schausteller ziehen sich in ihre Wohnwagen zurück, das Riesenrad steht still, die Autoscooter sind geparkt. Auch wenn – wie kürzlich in Haan – die Kirmes einen Nachmittag wegen Sturm schließen muss, gehen wertvolle Einnahmen verloren.
In Familienhand
„Wenn es regnet, denkt man sich, wär’ ich doch lieber normal arbeiten gegangen“, sagt Langenberg. Aber so wirklich kann er sich das nicht vorstellen: „Schausteller sein ist eine Lebenseinstellung. Man fährt 500 Kilometer weiter und kennt jeden wieder“, sagt der Spross einer Schausteller-Familie. Seine Eltern betreiben auf vielen Volksfesten einen Süßwarenstand. Auf rund 30 Veranstaltungen ist Langenberg pro Jahr mit seinem Fahrgeschäft unterwegs – von Hannover bis Friedrichshafen, vielleicht demnächst auch in der Schweiz oder Holland.
Etwa 90 Prozent der Unternehmen – bei denen aktuell nach DSB-Schätzungen gut 45.000 Menschen dauerhaft ihr Brot verdienen plus Saison- und Aushilfskräfte – sind seit mehreren Generationen aktiv. Das Ehepaar Bruch zieht sogar schon in der sechsten Generation von Platz zu Platz. Den „Break Dancer“ haben die Bruchs vor einem Jahr von Williams Tante übernommen. Und Williams Onkel Oscar Bruch zählt mit den Achterbahnen „Alpina Bahn“ und „Spinning Racer“ zu den größten Schaustellerbetrieben Deutschland.
Eine klassische Ausbildung gibt es nicht. Romina Bruch hat wie üblich im elterlichen Betrieb durch Anpacken gelernt: Sie half, seit sie 13 ist, neben der Schule im Autoscooter mit. Zwar ist Urlaub bei den Bruchs selten. „Aber die Familie ist nie weit weg, beim Essen sitzen wir alle zusammen“, sagt Romina Bruch. „Viele probieren einen anderen Job aus, aber kommen bald wieder zurück – da fehlt oft die Action.“