Es war ein jahrelanger Kampf für Gareth Ackerman. Der Sohn des Gründers der südafrikanischen Supermarktkette Pick n Pay hat lange vergeblich versucht, das hochkarätigste Treffen der Konsumbranche in seine Heimatstadt Kapstadt zu bringen. Und nun, im Juni 2016, als er am Ziel ist, ist ausgerechnet der ganz große Enthusiasmus der vergangenen Jahre für den Kontinent verflogen. Die Spitzenmanager von 50 internationalen Konzernen, versammelt im Konsumgüterforum CGF, schauen kritisch auf den Kontinent, nachdem dessen Rohstoffeinnahmen deutlich zurückgegangen sind.
„Die gefallenen Rohstoffpreise drücken sicherlich das Wachstum. Aber Afrika bleibt die letzte ungenutzte Chance für viele“, beteuert Ackerman im Gespräch mit dem Handelsblatt am Rande der Konferenz.
Eine Chance bietet der Kontinent auch dort, wo es Ackerman wenig gefallen könnte: Südafrikas organisierter Einzelhandel, fest in der Hand von vier großen Spielern, wäre nach Meinung von Experten ein fast perfekter Ort für die weitere Expansion von Discountern, also allen voran die international tätigen deutschen Ketten Aldi und Lidl. Schließlich haben die Deutschen bereits in Großbritannien, den USA und sogar Australien gezeigt, dass sie Märkte umkrempeln können.
Warum Aldi billig ist
Es ist eine Gretchenfrage: Wie viele Artikel biete ich meinen Kunden an? 1946 ging es um nichts mehr als ums Sattwerden. Die Aldi-Brüder schauten auf ihren Tages- und Wocheneinkauf. Erst im Laufe der Jahre kamen Non-Food-Artikel hinzu – anfangs waren sie verpönt.
Mit der Zeit pendelte man sich bei 400 Artikeln ein. Inzwischen – in Zeiten der feiner werdenden Nuancen – ist die Zahl auf über 900 Basisartikel gewachsen. Der Stellplatz in den Filialen hat natürliche Grenzen. Zudem ist Produktpflege ein aufwändiges Geschäft.
Von Beginn an galt bei den Albrechts das Gebot der Warengleichheit: In allen Filialen sollten die Kunden dieselben Produkte finden. Schnell ging es soweit, dass sie es sogar an derselben Stelle fanden.
Eine echte Revolution war die Einführung von Kühlware in den Siebzigerjahren. Sowohl bei Aldi Nord als auch bei Aldi Süd gingen Grundsatz-Diskussionen voraus. Entgegen der Behauptungen gab es darüber aber keinen brüderlichen Zwist. Allerdings musste der vorpreschende Karl Überzeugungsarbeit leisten beim abwägenden Theo. Doch die Kühltruhe kam, erst im Kleinformat, dann immer mehr.
Seit Jahren macht andere Discounter wie Netto (vorher Plus) gute Geschäfte mit Markenartikeln. Aldi hat stets eine Aversion gegen sie gehabt - gab inzwischen aber nach. Auf der anderen Seite taten sich die Hersteller von Markenartikeln anfangs auch sehr schwer, bei einer Billigkette zu listen, als die Aldi galt.
Vereinfacht gesagt besteht Aldis größtes Problem darin, die erforderlichen Liefermengen von mehreren Anbietern zu beziehen. Bei vergleichenden Qualitätsstandards heißt es immer wieder: Bedarfsdeckung versus Preis. Gerade zu Ostern und Weihnachten ist es eine Sisyphusarbeit in Planung und Organisation, für ausreichend Waren zu sorgen und sie auf die Filialen zu verteilen.
Die Preisfindung in diesem „Wettkampf“ ist das eigentliche Erfolgsrezept Aldis. Als Marktführer, ausgestattet mit dem Hebel der Mengenmacht, hat man hier natürlich Vorteile. Dabei bündeln Aldi Nord und Aldi Süd ihre Einkaufsstrategie in vielen Sortimenten. Auf der anderen Seite hat Aldi auch kein Interesse, die Lieferanten so sehr zu schröpfen, dass sie in den Ruin gehen.
Lieferanten unterliegen leicht der großen Verlockung, mit Aldi so zu verhandeln, dass die eigentlichen Kapazitätsgrenzen überschritten werden. Zwar kann man mit Aldi vermögend werden, aber das Risiko, sich zu sehr abhängig zu machen, ist groß. Denn Aldi streicht durchaus schnell einen Lieferanten. Fachleute raten dazu, maximal 50 Prozent seiner Produkte an Aldi zu verkaufen.
Die Wettbewerber sind dem Preisdiktat ausgesetzt. In den vergangenen Jahres war gut zu beobachten, was passiert, wenn Aldi die Preise für Alltagsprodukte wie Milch senkte: Die Konkurrenz zog innerhalb weniger Stunden nach. Preisvergleich und Preispolitik sind Tagesaufgaben.
Doch warum agieren die Discounter eigentlich so nah am „gerechten Preis“? Die Frage ist durchaus berechtigt, denn die Durchschnittskunde ist eigentlich sehr wenig mit den Preisen vertraut. Er stellt seinen Warenkorb den Bedürfnissen und Gepflogenheiten zusammen. Die meisten gehen nicht mit offenen Augen durch die Läden. Angebote werden auch bei Aldi sehr deutlich mit andersfarbigen Schildern gekennzeichnet, damit sie überhaupt auffallen. Umso wichtiger ist also, dauerhaft der Preisführer zu sein – und dieses Image zu pflegen.
Egal wie günstig ein Produkt ist – die Qualität muss stimmen: Aldi testet wie auch die anderen Discounter ständig seine aktuellen und auch mögliche neuen Produkte. Zudem nützt das tollste Sonderangebot nichts, wenn es um 11 Uhr ausverkauft ist.
Kein Produkt hat bei Aldi eine Existenzgarantie. Jeder Lieferant ist austauschbar. Und das lässt Aldi seine Partner ganz genau wissen. Es herrscht rigorose Preiskontrolle vom Einkauf bis zum Verkauf. Der Kunde entscheidet. Nimmt er ein Produkt nicht (mehr) an, fliegt es aus dem Sortiment. Das gilt besonders für Sonderverkäufe. Schlagen sie nicht ein, bekommen sie keine zweite Chance.
Im Fachjargon heißen sie Zugartikel, die Produkte, an denen Aldi praktisch nichts verdient. Die Marge liegt nahe null, aber sie sind dennoch sehr wichtig. Denn sie locken Kunden in den Laden. Und die Kunden kaufen dann eben auch andere Produkte, wo die Margen entsprechend höher liegen. Die sogenannte Quermarge stimmt also auch bei Zugprodukten.
Regale sind das eine, Vorstelltische das andere. Bei Aldi haben sie eine sehr hohe Bedeutung. Reste gehen hier rasant weg.
Der Filialleiter hat die wesentliche Aufgabe, sein Personal geschickt einzuspannen. Aldi näht hier auf Kante, sprich: Die Personaldecke ist extrem eng. Im Krankheitsfall bricht rasch der Notstand aus, wenn nicht umgehend Ersatz zur Hand ist: verdreckte Böden, unsortierte Regale, Schlangen an den Kassen. Entsprechend sind Filialleiter entscheidende „Produktchefs“ und es gelten hohe Standards.
Heute, in Zeiten der Piep-Piep-Kassen, ist es nicht mehr so wichtig: Aber groß geworden ist Aldi auch wegen einer vermeintlich selbstverständlichen Eigenschaft der Kassiererinnen und Kassierer: Sie kannten die Preise der Produkte auswendig und konnten sie blitzschnell in die Kasse eingeben.
Die Logistik dahinter ist alles andere als einfach: Wie bekommt man all die hohen Bargeldsummen, die sich in den Kassen auftürmen, sicher zur Bank? Das ist die eine Frage, die Discounter wie Aldi lösen müssen. Die andere ist, wie man die Liquidität möglichst schnell reinvestiert. Bei einer Umschlaggeschwindigkeit der Waren von 8,5 Tagen und einem Zahlungsziel von 14 Tagen gegenüber dem Lieferanten ist die Ware nahezu zweimal verkauft, ehe sie einmal zu bezahlen ist. Und das mit zwei Prozent Skonto.
Wohin also mit dem Geld? Die erste Antwort lautet: Nicht mehr mieten, sondern kaufen – also die Immobilien, in denen sich die Filialen befinden. Zudem fließt bei Aldi viel Geld in die Familienstiftung. Dort wird es gefahrensicher angelegt. Zudem war Aldi frühzeitig darauf aus, in der Plastikindustrie zuzukaufen.
Aldi ging schon früh einen Weg, der damals alles andere als üblich war und setzte auf eigene Produkte. Die alte Kaufmannsweisheit, dass der Vertreiber nicht selbst produzieren soll, damit er nicht mit Reklamationen überschüttet wird, gilt heute längst nicht mehr. Aber damals war es etwas ziemlich neues. Es begann mit eigenem Kaffee, der in Herten produziert wurde.
Bei Aldi wird alles und ausnahmslos umgetauscht, wenn der Kunde dies wünscht. Jede eingequetschte Tomate und jede Laufmasche. Filialleiter dürfen unter keinen Umständen Einwände erheben.
Die beiden Aldi-Unternehmen brüsten sich damit, nicht zu werben. Das ist natürlich nicht wörtlich gemeint, schließlich sind die Anzeigen aus den regionalen und überregionalen Zeitungen nicht wegzudenken. Was Aldi meint ist, dass man die Kunden besonders anspricht, also über den Preis argumentiert und auf Mund-zu-Mund-Propaganda setzt.
Einmal im Jahr gibt es den bisweilen gefürchteten Vergleich zwischen Aldi Nord und Aldi Süd. Folgende Zahlen spielen darin die Hauptrolle: Hauptkostenarten bei Personal, Mieten, Energie usw. sowie Anzahl der Filialen, Umsätze und Gesamtkosten.
Bei Aldi gibt es praktisch keine innerbetrieblichen Veranstaltungen. Sozialkontakte erstrecken sich auf den gemeinsamen Einsatz für sprudelnde Umsätze. Als ein Geschäftsführer mal anlässlich der Heirat seiner Tochter Theo Albrecht nebst Gattin Chily einlud und es dort Zusammentreffen mit wichtigen Lieferanten gab, verzog Theo keine Miene. Das Arbeitsverhältnis wurde gelöst.
„Es ist zu hoffen, dass ein Discounter in das Land kommt. Südafrika braucht das“, sagt Bart van Dijk, Landeschef der Beratung AT Kearney. Die Flaute, die auch die Einzelhändler trifft, könne eine Chance sein, den Markt aufzurollen. Tatsächlich war Südafrika seit dem Ende der Apartheid nur in der globalen Finanzkrise so wachstumsschwach wie heute. Und so sagt auch Andrew Cosgorve, Lead-Analyst für Konsumgüter bei der globalen Beratung EY: „Es gibt Platz für einen Discounter in Südafrika.“ Mit preiswerten und gut ausgewählten Produkten könne solch ein Laden-Format die Kunden überzeugen.
AT Kearney-Experte Van Dijk hat die Strukturen auf dem gut 27 Milliarden Euro schweren Markt genau analysiert: Beim Umsatz je Fläche, der wichtigsten Kennzahlen für die Effizienz, liegen Südafrikas Supermärkte weit hinter den europäischen Supermärkten. Zugleich sind die Preise vergleichsweise hoch. Ein Angreifer könnte also mit gut eingespielten Abläufen bei Logistik und Verkauf als Preisbrecher auftreten – und damit sogar Kunden von den informellen selbstständigen Läden in den Townships abwerben.
„Es gibt bislang keinen Hard-Discount in Südafrika“, sagt van Dijk. In anderen Bereichen feierten Preisbrecher beim südafrikanischen Mittelstand bereits Erfolge – etwa H&M. Die südafrikanischen Einzelhändler dagegen sind bislang weitgehend unter sich – allein Wal-Mart ist 2012 bei Massmart eingestiegen, hat aber an den Strukturen wenig verändert. Einen Preiskampf will bislang keiner von ihnen riskieren. Und Walmart-Chef Doug McMillon muss sogar Gerüchte zerstreuen, er wolle am liebsten aus dem Markt aussteigen: „Südafrika ist ein großartiger Markt“, ruft er von der Bühne.
Glaubt der lokale Supermarkt-König Ackerman an einen Angriff der Billigheimer Aldi und Lidl? „Ich hoffe nicht“, sagt er. „Sie sind zwar sehr erfolgreich in der entwickelten Welt, müssten hier aber sicherlich noch viel lernen.“ Probleme etwa durch schlechte Infrastruktur und Strom- und Wassermangel seien den deutschen Discountern unbekannt. Zudem seien die Margen im südafrikanischen Einzelhandel sehr niedrig.
Berater van Dijk will letzteres nicht gelten lassen. Mit fünf Prozent seien die Margen dank relativ hoher Verkaufspreise im Schnitt sogar höher als im internationalen Wettbewerb. Und: Nur zehn Prozent der Produkte in den Supermarktregalen sind Eigenmarken – ein Drittel des deutschen Werts. Mit solchen Produkten kann der Handel jedoch seine Margen steigern und zugleich Preise senken. Discounter wie Aldi und Lidl setzen fast ausschließlich auf solche selbst in Auftrag gegebenen Produkte – und könnten diese wohl auch in Südafrika produzieren lassen. „Die Regierung würde solch einen Vorstoß sicherlich unterstützen. Schließlich brächte er Aufträge auch für den schwarzen Mittelstand und könnte die Preise für die Verbraucher, die oft an der Armutsgrenze leben, deutlich senken“, meint van Dijk.´
Pick n Pay treibt die Expansion voran
Ackerman verfolgt derweil eine andere Strategie: Er will mehr kleine informelle Läden, die sogenannten Spaza-Shops, in den ärmeren Gebieten und Townships an Pick n Pay zu binden. Schließlich halten sie 40 Prozent des Markts. Als Franchise-Nehmer werden sie an den Großhandel angebunden, bekommen Unterstützung bei Finanzierung und der Modernisierung von Läden. Sie können auch die Eigenmarken der Kette nutzen – nicht aber das Logo. „Wir sind dabei noch im Test-Modus“, sagt Ackerman, der insgesamt 1410 Shops mit 72,4 Milliarden Rand (4,2 Milliarden Euro) und zwei Prozent Gewinnmarge vor Steuern betreibt.
Zudem treibt er die internationale Expansion voran. Mit einem örtlichen Partner sollen Läden in Nigeria eröffnen – dem siebten Auslandsmarkt für Pick n Pay. Der ebenfalls südafrikanische Konkurrent Woolworths hat sich gerade erst aus dem Land zurückgezogen. „Anders als Woolworths bieten wir keine Mode, sondern Lebensmittel an. Und wir haben einen Partner, der sich vor Ort bestens auskennt“, sagt Ackerman. Das Risiko sei gering, weil Pick n Pay nur wenig Kapital einsetze – auch für die ebenfalls geplante Expansion nach Ghana. „Klar ist, dass die Expansion dorthin Zeit braucht. Wirklich Geld verdienen wird dort wohl erst die Generation nach mir“, sagt Ackerman.
Auch sein härtester Konkurrent in Südafrika, Shoprite-Chairman Christo Wiese, warnt: „Man muss in vielen Ländern Afrikas dazu bereit sein, viel Geld in eigene Infrastruktur zu stecken. In manchen Fällen haben wir sogar die Straßen zum Einkaufszentrum selbst gebaut.“ Kein Wunder, dass in Afrika südlich der Sahara 88 Prozent der Supermarktfläche auf Südafrika konzentriert ist.
Dennoch muss Ackerman die freien Aktionäre bei Laune halten. Dazu hat Pick n Pay in dieser Woche eine Vereinfachung der Aktienstruktur angekündigt. „Die Aktie ist absolut auch für Investoren aus Deutschland und Europa geeignet“, wirbt Ackerman – zumindest, solange ein Großangriff des Discounts ausbleibt.
Mitarbeit: Florian Kolf