Um das zu ändern, setzt Lidl nicht mehr nur auf das Preisargument. Backstationen wurden installiert, in denen mehrmals täglich vom Ciabatta-Brötchen bis zum Croissant rund drei Dutzend Teig-Bestseller gebacken werden. Das Frischesortiment besteht nicht länger nur aus eingeschweißten Paprikas im Tricolore-Mix, sondern auch aus losem Obst und Gemüse aus der Region, das – so beteuert Einkaufschef Pohl – zwischen 24 und maximal 48 Stunden vor dem Verkauf geerntet wird. Auch das Fleisch- und Fischangebot wurde ausgebaut. Und pünktlich vor den Feiertagen stellt Lidl unter der Marke Deluxe regelmäßig Perlhuhnviertel, Trüffelkäse und sonstige Festtagshighlights in die Auslage.
Selbst in der Supermarkt-Domäne Wein hat der vermeintliche Billigheimer aufgerüstet. In dunklen Holzkisten stapeln sich Barolo- und Bordeaux-Bouteillen teils jenseits der Zehn-Euro-Grenze. Im Online-Shop hält der Händler rund 1000 Weine parat, bisweilen sogar Edelstoff wie den 2011er Château d’Yquem für stolze 349 Euro.
Was hat das noch mit Discount zu tun?
Immer weniger, glauben Experten wie Matthias Queck, der bis vor Kurzem für den Branchendienst Planet Retail die Handelszunft beobachtet hat. „Langfristig geht es in Richtung Discountsupermarkt, Lidl nähert sich Rewe und Edeka an“, sagt Queck.
Der Preis sei nach wie vor zentral, und Discount-Tugenden wie Effizienz und Produktivität gehörten weiter zur Lidl-DNA, sagt Deutschland-Chef Raimund. „Aber insgesamt beschreibt das Schlagwort ‚Discounter‘ das Unternehmen nur unzureichend.“
Edel sei der Lidl, preiswert und gut?
Die Atlantikquerung
Vor ein paar Jahren wäre die Abkehr von der reinen Billiglehre wohl mit sofortigem Hausverbot geahndet worden. Seit Unternehmenspatron Dieter Schwarz 1973 die erste Filiale in Ludwigshafen eröffnete, gilt das Handelskonzept Lidl’scher Prägung als Erfolgsmodell – nicht nur in Deutschland.
Gemeinsam mit dem Lidl-Schwesterunternehmen, dem Großflächendiscounter Kaufland, und unter Oberaufsicht von Schwarz’ Statthalter und Vertrautem Klaus Gehrig spannte die Gruppe ein Netz von mehr als 11.000 Filialen mit 335.000 Mitarbeitern über den Kontinent. Vom beschaulichen Neckarsulm nahe Heilbronn aus dirigiert Gehrig inzwischen ein Handelsreich, das sich von der Atlantikküste bis zu den Karpaten erstreckt.
Die stramme Expansion hat die Erlöse in der vergangenen Dekade nach oben katapultiert und nicht nur in der Chefetage des britischen Rivalen Tesco für Alarmstimmung gesorgt.
„Lidl verzeichnete zwischen 2008 und 2013 im Schnitt jährliche Wachstumsraten von 7,4 Prozent“, sagt Experte Queck. Übertroffen wurden die Lidl-Zuwächse den Daten von Planet Retail zufolge nur vom Rivalen Aldi Süd, der pro Jahr um 7,8 Prozent zulegte. Aldi Nord blieb mit 2,9 Prozent jährlichem Umsatzplus dagegen weit hinter dem Lidl-Tempo zurück.
Mit jedem Cent mehr Umsatz in den Kassen wird indes die Frage drängender, wo in Zukunft das Wachstum herkommen soll. Denn ähnlich wie in Deutschland gehen den Strategen vom Neckar auch europaweit die Expansionsziele aus.
Für 2018 hat Konzern-Lenker Gehrig daher ein neues Ziel ins Auge gefasst: die USA. Die Vorbereitungen für die Atlantikquerung laufen bereits. Von Arlington nahe der Hauptstadt Washington aus sondiert eine Truppe von 100 Mitarbeitern den Markt, sucht Grundstücke und klärt Eigentumsverhältnisse. Mit der Eröffnung von mehr als 100 Läden auf einen Schlag will Gehrig dereinst ins US-Abenteuer starten.
Der Aufbau des US-Geschäfts wird Unsummen verschlingen und Managementressourcen über Jahre binden. Zudem bringt Wettbewerber Aldi, der bereits in Amerika aktiv ist, sein Billig-Bollwerk gegen den Dauerkonkurrenten in Stellung: Bis 2018 will Aldi die Zahl seiner US-Filialen von 1400 auf rund 2000 hochfahren.
Die größten Discounter der Welt 2014
Dollar Tree belegt den zehnten Platz unter den weltgrößten Discountern. Das US-Unternehmen erzielte 2013 einen Umsatz von 6,2 Milliarden Euro.
Auch aus Skandinavien kommt ein Discounter, der es unter die Top Ten der weltgrößten geschafft hat: Rema 1000 gehört zum Konzern Reitangruppen. 2013 setzte das Unternehmen 6,8 Milliarden Euro um.
Der US-Discounter Family Dollar verkaufte 2013 Waren im Wert von 8,2 Milliarden Dollar und belegt damit weltweit den achten Platz unter den größten Discountern.
Auch der siebtgrößte Discounter der Welt findet sich auf der Iberischen Halbinsel: Biedronka stammt aus Portugal und wird von JMR Jerónimo Martins Retails betrieben. 2013 setzte die Kette 8,3 Milliarden Euro um. Zum Vergleich: Aldi erwirtschaftete im gleichen Zeitraum mehr als den siebenfachen Betrag.
Die sechstgrößte Discountkette der Welt stammt aus Spanien. Das Unternehmen mit dem Namen Dia (zu Deutsch „Tag“) setzte 2013 11,4 Milliarden Euro um.
Auf dem fünften Platz findet sich wieder ein deutsches Unternehmen: Der Discounter Penny, der zur Rewe-Gruppe gehört. 2013 betrug der Umsatz des Discounters laut Ranking von Planet Retail 12,1 Milliarden Euro.
Erst an vierter Stelle ist ein nicht-deutsches Unternehmen zu finden. Die US-Kette Dollar General verkaufte 2013 Waren im Wert von 13,9 Milliarden Euro.
Mit großem Abstand folgt der drittgrößte Discounter der Welt: Netto. Die Kette gehört zur Edeka-Gruppe und erzielte 2013 14,2 Milliarden Euro Umsatz.
Der Discounter Lidl, der zur Schwarz Gruppe gehört, belegt im Ranking der weltgrößten Discounter den zweiten Platz. 2013 betrug der Brutto-Außenumsatz der Supermarktkette 59 Milliarden Euro.
Aldi ist die Nummer eins im Ranking von Planet Retail (Juni 2014) im weltweiten Discounter-Markt. 2013 machte das deutsche Unternehmen einen Brutto-Außenumsatz von 61,1 Milliarden Euro.
Klar ist: Soll Lidls US-Expansion nicht kläglich scheitern oder – wie bereits in der Vergangenheit geschehen – wieder abmoderiert werden, braucht der Konzern ein krisen- und skandalfreies Heimatgeschäft. Drei Jahre bleiben, um „Glasnost in Neckarsulm“ zu etablieren, wie ein früherer Lidl-Manager den Kurswechsel in Anspielung an die Öffnungspolitik der ehemaligen Sowjetunion bespöttelt.
Die Brause-Schmach
In Essen-Kettwig müht sich Deutschland-Chef Raimund derweil nach Kräften, die neue Linie umzusetzen. Ein Foto des Managers im Schneeregen vor dem Markt? Kein Problem. Ein Porträt vor Obstkisten? Selbstverständlich. Man merkt ihm zwar an, dass er lieber über Griffmulden in Einwegflaschen, Salat-Ortung per GPS oder die hauseigenen Ciabatta-Brötchen philosophiert, als für die Kamera zu posieren. Doch der 48-Jährige spielt mit. Nur als ihn der Fotograf bittet, für ein Bild eine Flasche Coca-Cola in die Hand zu nehmen, lehnt er lächelnd ab.