Baulärm und Fetzen eines Sommerhits wehen über den Parkplatz vor dem Real-Markt im Krefelder Stadtteil Oppum. Draußen rollen Bagger über das Gelände, drinnen cruisen elektrische Hebebühnen durch eine leere Halle, in der vor wenigen Wochen noch Käse-, Wurst- und Milchpackungen über die Kassenbänder liefen. Lediglich ein Hinweisschild am improvisierten Eingang lässt erahnen, dass es nicht um Abbruch sondern Aufbruch geht. „Hier entsteht der beste Markt Deutschlands“, ist darauf zu lesen. Es klingt wie eine Kampfansage.
Die größten Lebensmittelhändler Deutschlands
Bartells-Langness
Umsatz mit Lebensmitteln 2015: 3,09 Milliarden Euro (Schätzung)
Globus
Umsatz mit Lebensmitteln 2015: 3,23 Milliarden Euro
Rossmann
Umsatz mit Lebensmitteln in Deutschland: 5,18 Milliarden Euro
dm
Umsatz mit Lebensmitteln 2015: 6,33 Milliarden Euro
Lekkerland
Umsatz mit Lebensmitteln 2015: 8,98 Milliarden Euro
Metro (Real, Cash & Carry)
Umsatz mit Lebensmitteln 2015: 10,27 Milliarden Euro (Schätzung)
Aldi (Nord und Süd)
Umsatz mit Lebensmitteln 2015: 22,79 Milliarden Euro (Schätzung)
Schwarz-Gruppe (Lidl, Kaufland)
Umsatz mit Lebensmitteln 2015: 28,05 Milliarden Euro (Schätzung)
Rewe-Gruppe
Umsatz mit Lebensmitteln 2015: 28,57 Milliarden Euro (Schätzung)
Edeka (inkl. Netto)
Umsatz mit Lebensmitteln 2015: 48,27 Milliarden Euro
Quelle: TradeDimensions / Statista
Tatsächlich ist der Umbau in Krefeld Teil eines der gewagtesten – und wohl auch verzweifeltsten – Experimente, die derzeit im deutschen Einzelhandel zu besichtigen sind. Der Markt ist Pilotprojekt für eine große Umbauwelle bei der Warenhauskette.
Gastronomische Angebote sollen massiv ausgebaut werden, Einkäufe für Kunden zu kulinarisch-kalorischen Hindernisparcours avancieren. An Pizza- und Pastaständen, Sushi- und Burgerstationen wird es Spezialitäten geben. Auch eine Weinlounge, eine Kaffeerösterei und eine gläserne Vollbäckerei sollen in Krefeld Einzug halten.
Nach Jahren des Niedergangs probt Real mit dem radikalen Konzeptwechsel den Befreiungsschlag. Bewährt sich der Prototyp, könnte in den kommenden Jahren rund die Hälfte aller 283 Märkte auf das „Food-Lover“ getaufte Gastro-Konzept umstellen.
Intern wird sogar über einen neuen Namen für die umgebauten Filialen nachgedacht. Scheitert die Handelsmetamorphose dagegen, droht der Schlussverkauf. Schließlich ist Real schon seit einer Dekade das Sorgenkind des Düsseldorfer Handelskonzerns Metro. Bei einem Umsatz von 7,7 Milliarden Euro erzielten die Märkte zuletzt eine operative Marge von schlanken 1,14 Prozent. Zu wenig für den Klassenerhalt.
Vor wenigen Wochen, als Gespräche mit der Gewerkschaft Verdi stockten, wurde bereits über einen Verkauf von Real spekuliert. Am Ende einigten sich die Parteien auf eine Art Sanierungstarifvertrag: Die Personalkosten sinken, dafür nimmt Metro in den kommenden Jahren insgesamt eine Milliarde Euro in die Hand, um das Unternehmen wieder flott zu kriegen. „Das ist die letzte Chance“, heißt es im Konzernumfeld. Floppt das Konzept, dürften auch die beiden Mitte April zu Real-Chefs beförderten Manager Henning Gieseke und Patrick Müller-Sarmiento massiv unter Druck geraten.
Wie Feldherren stehen beide Mitte Juli in der Düsseldorfer Metro-Zentrale vor einem großformatigen Lageplan des Pilotmarktes. Müller-Sarmiento schwärmt von Tomahawk-Steaks und Stockfisch und zeichnet auf der Skizze die Laufwege der Kunden nach. „Unser Ziel ist es“, sagt Müller-Sarmiento, „dass sich die Leute auf den Weg machen, um gezielt bei Real einzukaufen.“
Dabei setzen die Manager auf ein Ernährungsdilemma. Viele Menschen würden sich zwar gerne gesünder und bewusster ernähren, haben aber keine Zeit selbst zu kochen. Real will ihnen mit frischen Produkten helfen, die direkt im Markt zubereitet werden. Das Kalkül dahinter: „Für uns steigt die Wertschöpfung“, sagt Gieseke. „Für eine zubereitete Mahlzeit können sie insgesamt eine höhere Spanne nehmen, als wenn sie nur Lebensmittel verkaufen.“
Zugleich soll der Umbau zum Snack- und Schlemmerdorado jene Kunden nicht verschrecken, die ihren Groß- und Wochenendeinkauf wie bisher zügig erledigen wollen. Es werde sogar „Preissenkungen im Standardsortiment geben“, kündigt Gieseke an. Kann der Spagat gelingen?
Gastronomie als Möglichkeit, sich von den Wettbewerbern abzuheben
„Der Handel entdeckt die Gastronomie zunehmend als Möglichkeit, sich vom Wettbewerb abzuheben“, sagt Handelsexperte Martin Fassnacht von der Wirtschaftshochschule WHU. Derzeit sorgt etwa der Gourmetfoodanbieter Eataly mit einem Mix aus italienischem Supermarkt, Bistro, Kochschule und Pastamanufaktur in der Branche für Aufsehen. Auch Feinkostsupermärkte von Edeka-Kaufmannclans wie Zurheide an Rhein und Ruhr oder Hieber im Großraum Freiburg zelebrieren Essen als Lebensart. Doch derlei Delikatessendestinationen sind Solitäre im deutschen Handel.
Hier sieht Real eine Lücke. Läuft der Markt in Krefeld gut an, will die Führungscrew 2017 acht weitere Standorte umrüsten. In den Folgejahren könnte die Schlagzahl noch steigen. Langfristig sei „das Food-Lover-Konzept für rund die Hälfte aller Real-Märkte geeignet“, sagt Gieseke. Das wären gut 140 Filialen. „Am Ende müssen wir auch überlegen, ob der Name Real dazu noch passt“, sagt Müller-Sarmiento.
Der Vertriebschef eines Lieferanten, der in die Pläne eingeweiht ist, hält dagegen „allenfalls zwei Dutzend Standorte“ für geeignet. Für mehr sei die Marke Real schlicht „zu unprofiliert“. Über Jahre sollte die Metro-Tochter alles gleichzeitig sein – Discounter mit niedrigen Preisen, Supermarkt mit frischen Produkten und Kaufhaus mit Textil-, Elektronik- und Sportabteilung. Von Autoreifen über Fernseher bis zu frischem Fisch reichte in der Vergangenheit das Sortiment.
„Einmal hin. Alles drin“ lautet bis heute Reals Werbeversprechen. Ähnlich heterogen ist das Filialnetz, das von rumpeligen Einkaufsbunkern an Ausfallstraßen bis zu gepflegten Warenwelten in besten Lagen reicht.
Wenn Müller-Sarmiento und Gieseke ihr neues Konzept wirklich im großen Stil ausrollen wollen, können sie sich nicht allein auf urbane Standorte mit hoher Kaufkraft stürzen. Sie müssen auch in der Provinz nach Liebhabern von Langusten, Lachs und Gänseleber fahnden. Ein aufwendiges Unterfangen.
Schon Krefeld-Oppum ist nicht unbedingt als kulinarischer Hotspot bekannt. Marktleiter Bernd Szameitpreiks bahnt sich seinen Weg zum Eingang und blickt hinüber zu den Imbissbuden auf dem Parkplatz. Es gibt Bratenbrötchen für 2 Euro und Currywurst in 4 Schärfen. Nebenan bei Roland’s Grillhähnchen stehen zwei Bauarbeiter und beobachten, wie halbe Hähnchen am Spieß brutzeln – das Stück für 3,90 Euro.
Ist da wirklich Platz für einen „Food-Tempel“, wie er Müller-Sarmiento vorschwebt? Szameitpreiks zögert keine Sekunde: „Das Einzugsgebiet ist groß, und es gibt einen riesigen Bedarf“, sagt er. „Der Markt wird ein Kundenmagnet.“
Das muss er wohl auch, soll sich der Umbau je rechnen. Allein die Pilotfiliale kostet einen zweistelligen Millionenbetrag. Um den Eröffnungstermin im November zu halten, ackern die Arbeiter auf der Großbaustelle derzeit rund um die Uhr. Gleichzeitig ist Szameitpreiks dabei, neue Mitarbeiter zu rekrutieren. Bisher arbeiten im Markt 170 Vollzeitbeschäftigte, ab Herbst sollen 70 Kräfte hinzukommen. In der Etage über der Verkaufsfläche werden eigens Schulungsräume für sie eingerichtet. Darunter läuft der Verkauf weiter. „Das ist eine Operation am offenen Herzen“, sagt Szameitpreiks.
Die Einschätzung dürften seine Chefs teilen. Ab Herbst wird sich zeigen, ob ihr Eingriff glückt.