Sonja Jürgens stakst in ihren hohen Schuhen über die kleinen, grauen Glasmosaike der zerbrochenen Türe. Die Bürgermeisterin lässt ihren Blick über die ehemalige Verkaufsfläche schweifen. Fast sechs Jahre steht das ehemalige Hertie-Kaufhaus in Gronau, einer 47.000-Einwohner-Stadt in Westfalen, schon leer. Dekoration und Papierreste liegen auf dem staubigen Parkettboden, Kleiderständer und halbe Schaufensterpuppen stehen sinnlos mitten im Raum verteilt. Neben der ehemaligen Süßigkeitenecke hat jemand Feuerlöscher in einem Kreis aufgestellt.
„Dahinter standen mal die Schreibwaren“, sagt die 36-jährige Kommunalpolitikerin. Früher kauften hier Jugendliche CDs oder Senioren eine Strickjacke. Doch 2008 ging Hertie in die Insolvenz, und die Mitarbeiter in Gronau mussten die Schaufenster mit braunem Packpapier zuhängen. „Obwohl die Filiale hier schwarze Zahlen schrieb“, beteuert Jürgens, noch immer mit Empörung in der Stimme.
Viele Bürgermeister in Deutschland befürchten, dass die Warenhäuser in ihren Innenstädten bald genauso verkommen wie das in Gronau. Spätestens seit dem Einstieg des österreichischen Immobilienentwicklers René Benko bei Karstadt ist klar, dass es zu tiefen Einschnitten in das Filialnetz des Essener Traditionskonzerns kommen wird. Bis zu 20 der 83 Karstadt-Filialen sollen schließen. Und falls Benko sein langfristiges Ziel für eine Fusion mit dem Erzrivalen Kaufhof erreicht, könnte ein noch drastischeres Filialsterben folgen. In den Stadträten sorgen sich die Kommunalpolitiker deshalb bereits um die Verödung ihrer Fußgängerzonen.
Gronau ist nur ein Beispiel dafür, wie sehr Einzelhandel und Kommune leiden, wenn ein großes Warenhaus seine Türen schließt. Nach beinahe sechs Jahren haben die Politiker in der westfälischen Kleinstadt an der niederländischen Grenze das Warten auf einen Investor aufgegeben. Im vergangenen Oktober kaufte die Stadt die Immobilie. Die Kleiderständer, das Papier an den Schaufenstern, die Feuerlöscher, all das gehört jetzt der Kommune.
Karstadts Krisen-Chronik
Mit seinem früheren Mutterkonzern Arcandor war Karstadt 2009 in die Insolvenz gerutscht. Im Juni 2010 stieg Investor Nicolas Berggruen ein. Von seinem Einspringen wurde die Wende erhofft. Die Chronik der Krise.
Für die wichtigsten Arcandor-Gesellschaften - darunter die Karstadt Warenhaus GmbH - wird am 1. September 2009 das Insolvenzverfahren eröffnet.
Am 1. Dezember wird bekannt, dass zehn Karstadt-Standorte mit teils mehreren Häusern nach Angaben der Insolvenzverwaltung geschlossen werden sollen. Etwa 1200 Mitarbeiter sind betroffen.
Beim Essener Amtsgericht wird am 15. März ein Insolvenzplan vorgelegt. Am 12. April stimmen die Gläubiger dem Plan zu. Am 1. Juni haben von bundesweit 94 Kommunen bis auf drei bereits alle einem Verzicht auf die Gewerbesteuer zugestimmt. Die im Insolvenzplan geforderte Zustimmungsquote von 98 Prozent gilt damit als sicher. Nur sechs Tage später erhält die Berggruen Holding vom Gläubigerausschuss den Zuschlag zur Übernahme. Einen Tag später unterschreibt Berggruen den Kaufvertrag unter Vorbehalt. Berggruen fordert vom Karstadt-Standortvermieter Highstreet deutliche Mietsenkungen. Am 14. Juni endet eine erste Verhandlungsrunde zu den künftigen Mieten ohne Ergebnis. Am 20. Juni lehnt Berggruen ein Angebot von Highstreet über Mietsenkungen von mehr als 400 Millionen Euro ab.
Am 26. August hat sich Berggruen mit der Essener Valovis-Bank geeinigt: Die Bank hatte Highstreet ein Darlehen über 850 Millionen Euro gewährt und dafür im Gegenzug 53 Waren-, Sport- und Parkhäuser als Sicherheit erhalten. Man habe sich unter anderem darauf verständigt, dass Berggruen dieses Darlehen bis 2014 ablösen könne, heißt es. Am 2. September stimmen die Highstreet-Gläubiger den geforderten Mietsenkungen zu.
Am 30. September hebt das Essener Amtsgericht das Insolvenzverfahren auf. Damit erhält Berggruen zum 1. Oktober die Schlüsselgewalt für die Karstadt Warenhaus GmbH. 40.000 Gläubiger verzichten auf zwei Milliarden Euro. Die Belegschaft verzichtet auf 150 Millionen Euro.
23. November: Der frühere Woolworth-Manager Andrew Jennings wird zum neuen Karstadt-Chef bestellt. Er beginnt Anfang Januar 2011.
Jennings legt am 6. Juli das Konzept „Karstadt 2015“ vor: Modernisierung der Warenhäuser, stärkeres Online-Geschäft und Expansion der Sporthäuser sind der Kern.
Am 16. Juli kündigt Karstadt die Streichung von 2000 Stellen an.
Karstadt kündigt am 13. April 2013 eine „Tarifpause“ für die Beschäftigten an. Am 9. Juni bestätigt das Unternehmen, dass der Vertrag von Karstadt-Chef Jennings zum Jahresende ausläuft.
Im Februar kommt Ikea-Managerin Eva-Lotta Sjöstedt nach Essen und übernimmt den Geschäftsführerposten. Am 7. Juli legt Sjösted nach nur fünf Monaten alle Ämter nieder. Als Grund dafür nennt sie, dass die „Voraussetzungen“ für den von ihr angestrebten Weg nicht mehr gegeben seien.
Der Österreicher René Benko kauft Karstadt im August für nur einen Euro. Der bisherige Eigentümer Nicolas Berggruen zieht sich komplett zurück. Die Sanierungsaufgaben bleiben gewaltig.
„Hauptsache, es geht voran“, macht sich Bürgermeisterin Jürgens Mut. Denn das geschäftliche Leben auf dem menschenleeren Marktplatz vor dem ehemaligen Hertie-Kaufhaus ist heute völlig eingeschlafen. Mehmet Torun hofft jeden Tag, dass das rote Hertie-Logo an dem klobigen Betonbau gegenüber durch das Schild eines neuen Eigentümers ersetzt wird. Sein Geschäft für orthopädische Schuhe liegt auf der anderen Seite des Platzes, schräg gegenüber vom ehemaligen Kaufhauseingang. „Die Geschäfte hier haben doch arge Probleme, weiter zu bestehen“, sagt Torun.
Von Delmenhorst bis Dinslaken und von Itzehoe bis Idar-Oberstein, überall haben die Einzelhändler dieselben Schwierigkeiten, seit Hertie seine Türen schloss. „Für die umliegenden Geschäfte ist das eine Katastrophe. Da fehlt die Sogwirkung, die so ein Kaufhaus auf die Kunden hat“, sagt Gerd Hessert, Handels-Professor an der Universität Leipzig. So erging es auch Bingen am Rhein. „Hertie ist die offene Wunde in unserem Stadtzentrum“, sagt Bürgermeister Thomas Feser.
Die Geschichte droht, sich zu wiederholen
Dabei sollte Hertie in Bingen und anderswo eigentlich der Retter der Innenstädte werden. 2005 übernahm das Traditionswarenhaus, hinter dem der britische Investor Dawnay Day stand, mehr als 70 kleinere Filialen des Konkurrenten Karstadt, als der mal wieder in der Krise steckte. Doch nur drei Jahre später rutschte Hertie in die Pleite.
Jetzt droht sich die Geschichte bei zahlreichen Karstadt-Filialen zu wiederholen. Denn der anfangs als Karstadt-Retter gefeierte deutsch-amerikanische Investor Nicolas Berggruen hat bei seinem Rückzug Mitte August seinem Nachfolger Benko eine Handelsruine hinterlassen. Benko und Karstadt-Aufsichtsratschef Stephan Fanderl müssen nun Teile des Filialnetzes kappen, um das Überleben des Unternehmens zu sichern. Jede vierte Filiale steht auf dem Prüfstand.
Die „Immobilien Zeitung“ hat bereits eine Rote Liste der Schließungskandidaten aufgestellt. Besonders gefährdet sind demnach Standorte in Bayreuth, Bottrop, Bremerhaven, Dessau, Hamburg, Iserlohn, Mönchengladbach, Neumünster, Recklinghausen und Siegen. Diese Filialen erwirtschaften besonders wenig Umsatz pro Quadratmeter und tauchten schon häufiger auf den Streichlisten des Warenhauskonzerns auf. Gewissheit wird es für die Beschäftigten an den Standorten erst geben, wenn der Karstadt-Aufsichtsrat das nächste Mal zusammenkommt. Doch eine für vergangene Woche angesetzte Sitzung wurde auf unbestimmte Zeit verschoben.
Risiko für die Städte
Für die Ratsherren vieler Städte bedeutet das nichts Gutes. Bei Hertie waren auch drei Jahre nach der Insolvenz mehr als die Hälfte der von Dawnay Day verwalteten Häuser noch ohne Käufer. „Die Strukturen bei Hertie waren so kompliziert, wir wussten nicht mal, mit wem wir eigentlich verhandeln können“, sagt der Bingener Bürgermeister Feser. Er schloss sich mit Kollegen anderer Hertie-geschädigter Städte zusammen, um gegen den Leerstand und das fehlende Engagement der Insolvenzverwalter und des Dawnay-Day-Hauptgläubigers, der Deutschen Bank, zu protestieren.
Doch 14 der ehemals 34 Bürgermeister der Runde haben heute noch immer keine Gewissheit über die Zukunft ihrer Hertie-Häuser. Für diese Immobilien habe man noch keinen Kaufvertrag abschließen können, berichtet Sebastian Mogos-Lindemann vom Immobilienfinanzierer CR Investment Management in Berlin, der für die Verwertung der Gebäude zuständig ist. Ein Problem dabei waren die überzogenen Preisvorstellungen von Dawnay Day: Die Briten hatten die Immobilien in ihren Büchern viel zu hoch bewertet und verlangten deshalb lange Kaufpreise, die nur wenige Investoren zu zahlen bereit waren.
Doch auch die Kommunen selbst erschwerten den Verkauf. So zog in Velbert bei Düsseldorf ein Investor sein Angebot für die Hertie-Immobilie zurück, weil die Stadt Plänen für ein Einkaufszentrum an anderer Stelle zustimmte. Bei anderen Gebäuden sind es die öffentlichen Vorschriften, die eine Weiterentwicklung der Gebäude blockieren. In der Ruhrgebietsstadt Herne wollte selbst bei der Zwangsversteigerung des ehemaligen Hertie-Gebäudes kein Investor zuschlagen. Weil die Fassade dem Denkmalschutz unterliegt, ist der Umbau des Haues unverhältnismäßig teuer. Nun ist für Oktober eine zweite Zwangsversteigerung angesetzt.
Nur wenige Städte können sich den Kauf der Immobilie leisten
Andere Städte haben das Warten satt. Nicht nur in Gronau, sondern auch in Peine und im Kölner Stadtteil Porz haben die Kommunen die einstigen Hertie-Immobilien übernommen. „Die Stadt hat damit Zugriff auf die zukünftige Entwicklung des Einzelhandels“, sagt Immobilienverwalter Mogos-Lindemann.
Eine Vorahnung beschlich offenbar die Stadträte von Iserlohn. Vor einem Monat unterschrieben die Sauerländer den Kaufvertrag für ihr Karstadt-Haus. Allerdings mit der Garantie, dass Karstadt bis mindestens 2021 Mieter bleibt. Nur durch Ausgleichszahlung käme Karstadt aus dem Vertrag raus. Die Stadt verschaffte sich so die Möglichkeit, das Gebäude und die umliegende Innenstadt neu zu gestalten. Für die Iserlohner könnte das schneller wichtig werden als gedacht: Auch das Warenhaus in ihrer Stadt steht auf der Roten Liste der gefährdeten Karstadt-Filialen.
Doch nur wenige Städte können sich den Kauf der Immobilien leisten. „Das ist nur bei einer extrem guten Haushaltslage möglich“, sagt Joachim Stumpf, Geschäftsführer der Münchner Handelsberatung BBE. Und risikolos ist das Investment für Städte nicht. Die goldene Zeit der Warenhäuser ist Vergangenheit. In Zeiten des Online-Handels locken Karstadt, Kaufhof und Co. immer weniger Kunden an. 1993 gab es noch 375 Warenhäuser in Deutschland, in diesem Jahr sind es nur noch 191.
Das weiß auch Gronaus Bürgermeisterin Jürgens. Ein wenig ratlos steht sie vor dem ehemaligen Eingang des Warenhauses rum und blickt die Straße runter. Am anderen Ende soll bald ein neues Einkaufszentrum entstehen, ein kleiner Sieg für die SPD-Politikerin. Der Entwickler des Einkaufszentrums, die Düsseldorfer ITG, interessiere sich auch für Hertie, sagt Jürgens. Doch konkrete Pläne gäbe es noch nicht.
Ein Passant läuft über den großen, leeren Platz vor dem heruntergekommen Betongebäude, direkt auf die Bürgermeisterin zu. „Sie sind die Bürgermeisterin, oder? Wie sieht es aus mit Hertie, passiert bald was?“, fragt er. Jürgens knipst ihr Bürgermeisterlächeln an. „Ja“, antwortet sie, „aber das wird wahrscheinlich noch etwas dauern.“