Offene Wunde Mit Karstadt sterben die Innenstädte

Rund 20 Karstadt-Filialen will der neue Eigentümer René Benko schließen. Bürgermeister fürchten die Verödung ihrer Innenstädte – denn so erging es vielen Städten nach der Insolvenz von Hertie.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Foto von einer Karstadt-Filiale Quelle: dpa

Sonja Jürgens stakst in ihren hohen Schuhen über die kleinen, grauen Glasmosaike der zerbrochenen Türe. Die Bürgermeisterin lässt ihren Blick über die ehemalige Verkaufsfläche schweifen. Fast sechs Jahre steht das ehemalige Hertie-Kaufhaus in Gronau, einer 47.000-Einwohner-Stadt in Westfalen, schon leer. Dekoration und Papierreste liegen auf dem staubigen Parkettboden, Kleiderständer und halbe Schaufensterpuppen stehen sinnlos mitten im Raum verteilt. Neben der ehemaligen Süßigkeitenecke hat jemand Feuerlöscher in einem Kreis aufgestellt.

„Dahinter standen mal die Schreibwaren“, sagt die 36-jährige Kommunalpolitikerin. Früher kauften hier Jugendliche CDs oder Senioren eine Strickjacke. Doch 2008 ging Hertie in die Insolvenz, und die Mitarbeiter in Gronau mussten die Schaufenster mit braunem Packpapier zuhängen. „Obwohl die Filiale hier schwarze Zahlen schrieb“, beteuert Jürgens, noch immer mit Empörung in der Stimme.

Die größten Baustellen von Karstadt
Der neue Karstadt-Eigentümer René Benko übernimmt ein Unternehmen in der Krise. Die Karstadt-Warenhäuser schreiben rote Zahlen und kämpfen mit sinkenden Umsätzen. Ein Teil der Probleme ist auf den Strukturwandel im deutschen Einzelhandel zurückzuführen. Andere Schwierigkeiten sind hausgemacht. Welche Herausforderungen erwarten den Immobilieninvestor. Quelle: dpa
Übermächtige KonkurrenzDie Warenhäuser in Deutschland haben in den vergangenen Jahrzehnten insgesamt massiv an Marktanteilen verloren. Denn Konkurrenten wie H&M, Zara und zuletzt Primark haben sich mit preiswerten, schnell wechselnden Kollektionen einen immer größeren Teil des Einkaufsbudgets der Verbraucher gesichert. Außerdem geht der Siegeszug der Einkaufszentren zulasten der Warenhäuser. „Alles unter einem Dach“ gibt es dort in der Regel in weitaus größerer Auswahl als in den Warenhäusern. Quelle: dpa
Schwaches Online-GeschäftDer Online-Handel ist zurzeit der mit Abstand größte Wachstumsträger im Einzelhandel. Doch auch hier kann Karstadt bislang mit der Konkurrenz nicht mithalten. Im Gegenteil: Während die meisten Online-Anbieter im vergangenen Weihnachtsgeschäft zweistellige Zuwachsraten verzeichneten, schrumpften die Verkäufe des Essener Unternehmens über das Internet. Quelle: dpa
Unklare MarkenpositionierungDer bis Ende 2013 amtierende Karstadt-Chef Andrew Jennings versuchte Karstadt mit der Brechstange ein jugendlicheres Image zu verpassen. Er wollte den Konzern stärker auf Mode ausrichten, setzte auf neue trendige Marken und gab ganze Sortimentsbereiche wie etwa Elektronik auf. Das verschreckte die ältere Stammkundschaft. Doch neue Zielgruppen wurden dennoch nicht im erhofften Umfang erreicht. Quelle: dpa
Verunsicherte MitarbeiterDie Unsicherheit der vergangenen Jahre und der schleichende Personalabbau in den Filialen ist an den Karstadt-Mitarbeitern nicht spurlos vorübergegangen. Die Gewerkschaft Verdi kritisiert vor allem den bisherigen Eigentümer Nicolas Berggruen: „Die Beschäftigten sind von diesem angeblich sozialen Investor Berggruen bitter getäuscht worden“, sagt Verdi-Bundesvorstandsmitglied Stefanie Nutzenberger. Wenn Benko die Karstadt-Mitarbeiter auf einem harten Sanierungskurs mitnehmen will, muss er das Vertrauen der Beschäftigten zurückgewinnen. Quelle: dpa
Großer InvestitionsstauDie meisten Handelsexperten sind sich einig, dass bei Karstadt in den letzten Jahren viel zu wenig investiert wurde. Heinemann schätzt den Investitionsstau sogar auf mindestens 1,5 Milliarden Euro. Soviel Geld wäre nach seiner Auffassung nötig, um das Unternehmen zukunftsfähig auszurichten - im stationären, wie im Internethandel. Quelle: ZB

Viele Bürgermeister in Deutschland befürchten, dass die Warenhäuser in ihren Innenstädten bald genauso verkommen wie das in Gronau. Spätestens seit dem Einstieg des österreichischen Immobilienentwicklers René Benko bei Karstadt ist klar, dass es zu tiefen Einschnitten in das Filialnetz des Essener Traditionskonzerns kommen wird. Bis zu 20 der 83 Karstadt-Filialen sollen schließen. Und falls Benko sein langfristiges Ziel für eine Fusion mit dem Erzrivalen Kaufhof erreicht, könnte ein noch drastischeres Filialsterben folgen. In den Stadträten sorgen sich die Kommunalpolitiker deshalb bereits um die Verödung ihrer Fußgängerzonen.

Gronau ist nur ein Beispiel dafür, wie sehr Einzelhandel und Kommune leiden, wenn ein großes Warenhaus seine Türen schließt. Nach beinahe sechs Jahren haben die Politiker in der westfälischen Kleinstadt an der niederländischen Grenze das Warten auf einen Investor aufgegeben. Im vergangenen Oktober kaufte die Stadt die Immobilie. Die Kleiderständer, das Papier an den Schaufenstern, die Feuerlöscher, all das gehört jetzt der Kommune.

Karstadts Krisen-Chronik

„Hauptsache, es geht voran“, macht sich Bürgermeisterin Jürgens Mut. Denn das geschäftliche Leben auf dem menschenleeren Marktplatz vor dem ehemaligen Hertie-Kaufhaus ist heute völlig eingeschlafen. Mehmet Torun hofft jeden Tag, dass das rote Hertie-Logo an dem klobigen Betonbau gegenüber durch das Schild eines neuen Eigentümers ersetzt wird. Sein Geschäft für orthopädische Schuhe liegt auf der anderen Seite des Platzes, schräg gegenüber vom ehemaligen Kaufhauseingang. „Die Geschäfte hier haben doch arge Probleme, weiter zu bestehen“, sagt Torun.

Von Delmenhorst bis Dinslaken und von Itzehoe bis Idar-Oberstein, überall haben die Einzelhändler dieselben Schwierigkeiten, seit Hertie seine Türen schloss. „Für die umliegenden Geschäfte ist das eine Katastrophe. Da fehlt die Sogwirkung, die so ein Kaufhaus auf die Kunden hat“, sagt Gerd Hessert, Handels-Professor an der Universität Leipzig. So erging es auch Bingen am Rhein. „Hertie ist die offene Wunde in unserem Stadtzentrum“, sagt Bürgermeister Thomas Feser.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%