Kassen, die zum Kunden kommen, sprechende Schaufenster oder passende Schuhe ohne langes Anprobieren: Der deutsche Einzelhandel steht nach Einschätzung von Experten vor einer digitalen Revolution. Bereits in den kommenden fünf Jahren könnten viele der technischen Neuheiten zum Alltag in den Läden gehören, kündigte Ulrich Spaan vom Kölner Handelsinstitut EHI am Dienstag in Düsseldorf zum Start der Handelsmesse EuroCIS an.
"Go Omnichannel now", steht auf der Werbetafel in der Düsseldorfer Messehalle. "Sei auf allen Kanälen. Jetzt". Es klingt wie ein Befehl. Einer zum digitalen Wandel.
Die Omnichannel-Trends im Handel
Eine Umfrage des Handelsinstitut EHI unter Führungskräften und IT-Verantwortlichen von 95 Handelsunternehmen hat ergeben, dass 63 Prozent der Befragten Omnichannel für den bedeutendsten technologischen Trend halten. Die wichtigste Herausforderung ist dabei für 51 Prozent die Optimierung der Kanal-Integration aus organisatorischer Sicht, gefolgt von technischer Systemverknüpfung, Realtime-Anbindung und Stammdatenmanagement. Nur 12 Prozent der Firmen schätzen die Kanal-Integration im eigenen Unternehmen bereits als gut ein, 40 Prozent sehen sich auf gutem Wege.
Quelle: EHI-Studie „IT-Trends im Handel 2015“. Das Handelsinstitut EHI hat CIOs und IT-Leiter von insgesamt 95 Handelsunternehmen in Deutschland, Österreich und der Schweiz in persönlichen Interviews zu Projekten, Trends und Investitionsprioritäten befragt. Die interviewten Einzelhändler stehen für insgesamt über 300 Milliarden Euro Unternehmensumsatz.
Mobile Anwendungen stehen für 57 Prozent ebenfalls ganz oben auf der Liste der Technologietrends. Dies schlägt sich auch in den Projekten nieder: Ein knappes Viertel der Befragten hat mobile Systeme für Mitarbeiter im Store im Fokus – 17 Prozent feilen an mobilen Lösungen für ihre Kunden.
Auch das Thema Mobile Payment ist mit 26 Prozent der Nennungen ein Bereich, der sehr interessiert beobachtet wird. Viele Händler erhoffen sich hier eine Beschleunigung der Kassendurchlaufzeiten. Auch die Möglichkeiten der Verbindung mit Loyalty-Programmen oder gegebenenfalls Händler-Apps bergen Potenzial.
40 Prozent der Unternehmen erwarten entsprechend den vermehrten Anforderungen in den nächsten Jahren steigende IT-Budgets. Im Vergleich zu 2013 sind die Budgets bereits jetzt deutlich auf durchschnittlich 1,24 Prozent vom Nettoumsatz gestiegen.
Die wachsende Relevanz von Technologie in allen Unternehmensbereichen hat deutlichen Einfluss auf die Position und Bedeutung der IT-Abteilung. 62 Prozent der IT-Verantwortlichen definieren die wesentliche Rolle der IT als Enabler mit enger Einbindung in die Prozessorganisation. Für 38 Prozent ist IT darüber hinaus auch zentraler Innovationstreiber innerhalb des Unternehmens. Bedingt durch diese Entwicklung hat sich das Anforderungsprofil an Mitarbeiter der IT-Abteilung stark in Richtung Prozess- und Businessorientierung gewandelt. 66 Prozent der Handelsunternehmen haben aufgrund akuten Fachkräftemangels Schwierigkeiten, Positionen adäquat zu besetzen.
Gerichtet ist der Befehl an den deutschen Einzelhandel. Auf der EuroCIS ist er nahezu überall präsent. Mehr als 300 Austeller zeigen bei dem Branchentreffen technische Neuheiten mit denen stationäre Händler ihre Verkaufsräume so aufmöbeln sollen, dass die Kunden wieder gerne in den Laden kommen: mobile Bezahlsysteme, digitale Schaufenster und Schuhregale, die die Vorteile der Sohle erklären, wenn man den Schuh aus der Ablage nimmt.
Es ist das Equipment für eine Abwehrschlacht gegen den Onlinehandel. Zwischen 2004 und 2013 ist der E-Commerce-Umsatz in Deutschland kontinuierlich gestiegen, hat sich von 13 auf 39 Milliarden Euro verdreifacht. Und der Siegeszug der Onlineangreifer hinterlässt Verlierer aller Orten. Große Handelsketten büßen massiv an Umsatz ein. Viele kleine, stationäre Händler geben gleich ganz auf. Eine aktuelle Studie der WirtschaftsWoche zeigt, dass viele Mittelstädte kaum auf den digitalen Wandel vorbereitet sind und ihre Einkaufszonen ihm deshalb besonders schnell zum Opfer fallen werden.
Weil die die Folgen des Wandels deutlicher und schmerzhafter sind als je zuvor, erwachen immer mehr Unternehmen aus ihrem Dornröschenschlaf. Sie rüsten nicht nur ihre Filialen aus, sondern versuchen auch, das Internet für sich selbst zu nutzen. Multichannel-Strategie hieß dieser Ansatz einst, weil es futuristischer klingt als Mehrkanal-Strategie und ausdrücken soll, dass der Kunden sowohl im Laden als auch Internet Produkte kaufen können.
Was bedeutet überhaupt Multi-Channel?
Kaum ein Begriff wird in der Handelsbranche derzeit so intensiv diskutiert, wie das Multi-Channel-Retailing (Mehrkanalhandel). In der Diskussion, wie auch in den Medien, werden unter dem Oberbegriff dabei verschiedene Ausprägungen synonym verstanden. Ein kurzer Überblick.
Quelle der Begriffsdefinitionen: HandelsMonitor 2014. (R)Evolution des Mehrkanalhandels, dfv Mediengruppe
„Beim Multi-Channel-Retailing setzen Handelsunternehmen parallel mehrere Kanäle zur Distribution ein, die einheitlich markiert sind und einen wesentlichen Sortimentszusammenhang aufweisen. Die Kunden können somit zwischen den alternativen Absatzwegen eines Handelsunternehmens wählen.“
Beispiel: Der Kunde kann ein Produkt sowohl online als auch im laden kaufen.
„Das Cross-Channel-Retailing geht durch die integrative Verknüpfung der einzelnen Kanäle zur Schaffung eines nahtlosen Einkaufserlebnisses über alle Kanäle hinweg einen Schritt weiter als das Multi-Channel-Retailing. Hierdurch wird den Kunden proaktiv ein Kanalwechsel zu jeder Zeit des Kaufprozesses und über alle Touchpoints hinweg ermöglicht.“
Beispiel: Der Kunde bestellt ein Produkt online und holt es im Laden ab.
„Omni-Channel-Retailing bezeichnet die vollständige Integration aller Kanäle über alle Prozesse hinweg. Den Kunden wird die parallele Nutzung von Kanälen durch die ganzheitliche Verknüpfung in jeder Kaufphase ermöglicht.“
Beispiel: Der Kunde scannt im Geschäft mit der Shopping-App des Händlers auf seinem Smartphone des Barcode eines Produktes, und erhält so zusätzliche Informationen und Online-Kundenbewertungen.
Handelsexperten sind sich einig, dass der Verknüpfung der Kanäle in Zukunft eine hohe Bedeutung zukommen wird und dass sie stationären Händlern eine Chance im Wettbewerb mit reinen Online-Anbietern gibt.
Im Branchensprech ist daraus mittlerweile Omnichannel geworden und das Versprechen, dem Kunden auf allen Kanälen eine nahtlose Einkaufserfahrung zu geben: on- wie offline, im Laden, im Internet auf dem Smartphone.
Zumindest jeder große Händler hat sich auf die Fahne geschrieben, dem Kunden dieses Erlebnis zu bieten. Nicht den Anschluss verpassen, dabei sein, heißt derzeit die Parole. Aber bei was? "Wohin der Online-Zug fährt, weiß niemand genau, wie schnell er fährt, auch nicht", sagte Rewe-Chef Alain Capaross vor kurzem. Das trifft die Lage ziemlich genau.
"Viele Händler befinden sich bei dem Thema Omnichannel noch in einer Experimentierphase", sagt Lars Hofacker. Für eine aktuellen Untersuchung hat der E-Commerce-Experte des Handelsinstitus EHI 25 große Händler aus verschiedenen Branchen nach ihrer Strategie befragt und festgestellt, dass für die Händler die derzeit vor allem an der gelungenen Implementierungen weniger Verknüpfungspunkte zwischen On- und Offlinehandel arbeiten. Dazu gehöre die Möglichkeit, Waren im Laden zu bestelle und nach Hause liefern. Auch die Möglichkeit, Waren im Netz zu bestellen und in der Filiale abzuholen wird von vielen Händlern bereits angeboten – oder ist zumindest in Planung.
Auch die die sogenannten Online-Verfügbarkeitsanzeigen von stationären Produkten hat für viele Händler demnach eine hohe Priorität. Im Vergleich mit den Händlern in Großbritannien hinken die deutschen zwei bis drei Jahre hinterher. Vom Einsatz von iBeacons oder QR-Codes sind viele weit entfernt.
Das habe aber nicht nur etwas mit mangelnder Experimentierfreude zu tun, nimmt Hofacker die Händler in Schutz. Denn die Hürden für die richtige Umsetzung sind hoch. „Mensch und Maschine sind die größten Baustellen“, sagt der Handelsexperte. So bereite etwa nicht nur die Software-Verknüpfung Onlineshop und Warebestand im Handel Probleme und Kosten. In der Umfrage gaben viele Händler an, das Change-Management, als die Gewöhnung der eigenen Mitarbeiter an neue Angebote, unterschätzt zu haben.
Die aber müssen sich genauso an die Möglichkeiten der Onlinebestellung gewöhnen wie viele Kunden und zugleich neue Aufgaben bewältigen: Wer früher die Registrierkasse bediente, soll nun auch den Kunden mit dem Tablet in der Hand beraten und Pakete annehmen. Zugleich fürchten offenbar manche Mitarbeiter, die Kunden mit zusätzlichen Angeboten erst recht aus dem Laden zu treiben.
Weil sich der einer Omnichannel-Strategie zudem nur schwer messen und an steigenden Umsätzen festmachen lässt, investieren viele Unternehmen bislang noch sehr bescheiden, glaubt EHI-Experte Hofacker und warnt: „Die Konsumenten erwarten die Omnichannel-Services.“ Das Problem: Kann der Kunde den Pullover nicht im Laden kaufen und oder zumindest direkt im Onlineshop des Händlers bestellen, ist die Zalando- oder Amazon-App nur einen Griff in die Hosentasche entfernt. Und der Kunde vielleicht auf Dauer verloren.