Fragt man prominente Werber und Experten, wohin die Werbe-Reise bis zum Jahre 2020 geht, antworten sie mit Schlagworten wie Micro-Kampagnen, Targeting und Retargeting, hyper-personalisierter und individualisierter Werbung, Social Media, Interaktivität und Dialog. Sie faseln von Verbrauchern, die ihre Gefühle mit Marken teilen, von Kühlschränken, die Brotempfehlungen abgeben und ähnlich gelagertem, total chicem, digitalen Werbe-Schnick-Schnack. Bis hin zur geradezu abenteuerlichen Behauptung: “Marketing will have totally moved online.“ Bob Hoffman nennt das schlicht und ergreifend „horseshit“.
Tatsächlich scheinen die Werber nichts begriffen zu haben. Sie treiben ihre Kunden immer tiefer in den digitalen Dschungel, aus dem es nur dann ein Entrinnen gibt, wenn der Kunden selbst die Notbremse zieht.
Das alles ist kaum verarbeitet, da ereilt der nächsten Digitalinnovation Ungemach: Der Customer Journey. Wer die digitale Reise des Verbrauchers analysiert und definiert, lenkt seine Waren ferngesteuert in den Einkaufskorb der Kunden. So das Versprechen der Heilsbringer.
Doch auch mit dem neuen Heiligen Gral ist es nicht weit her. Der Kunde, schreibt Sven Bruck von der Agentur Dialogagenten, ist „ein über die sieben Meere irrendes Geisterschiff. Er taucht plötzlich auf, verbreitet bei Marketing und Vertrieb Angst und Schrecken oder irrationale Hoffnungen und verschwindet genauso plötzlich wieder in den nebeligen Weiten. Er setzt seine Kundenreise fort - unbeobachtet und ohne Zugriff - um zu einem nicht definierten Zeitpunkt wieder aufzutauchen.“
Customer Journey durch den Irrgarten
Big Data ist schön und gut. Doch dem Daten- und Technologie-getriebenen Marketing fehlt nicht nur die Empathie, die nötig ist um Menschen und ihr Handeln zu verstehen. Sie werben selbst an den Grundbedürfnissen vorbei. Es fehlt am simplen Verständnis schon für das unterschiedliche Kaufverhalten von Männern und Frauen. Männer steuern einen Shop an, ob real oder digital, wissen genau, was sie wollen - und kaufen. Jedes Retargeting geht ins Leere.
Onlinehandel: So kauft der Durchschnittsdeutsche ein
Die Marketing-Plattform intelliAd hat vom 1. Januar bis zum 31. April 2016 rund 1,6 Millionen Onlinekäufe in verschiedenen Branchen untersucht und von den Ergebnissen ausgehend das durchschnittliche Onlinekauf-Verhalten in Deutschland ermittelt.
Quelle: Customer Journey Analyse, intelliAd
Der durchschnittliche Online-Käufer in Deutschland braucht ganze 91 Stunden, um eine Kaufentscheidung zu treffen. Vom ersten Kontakt mit einem gewünschten Artikel bis zum vollen Warenkorb vergehen also knapp vier Tage.
Die Conversion-Rate beschreibt das Verhältnis zwischen Besuchern einer Webseite und getätigten Transaktionen. In deutschen Onlineshops liegt sie bei durchschnittlich 3,2 Prozent.
Wenn Käufer sich dann erst einmal für einen oder mehreren Artikel entschieden haben, geben sie im Schnitt 72 Euro aus.
Bis sich Nutzer für den Kauf einer Ware entscheiden, tätigen sie rund 3,6 Klicks im Online-Shop.
Frauen suchen stundenlang scheinbar ziellos - und kaufen nichts davon. Die digital aufgezeichnete Customer Journey gleicht einem Irrgarten. Mag sein, dass die vermeintlich ferngesteuerte Kundin zwei Wochen später in einem Laden auftaucht - und dort etwas wieder völlig anderes kauft. Was jede Frau und jeder Ehemann weiß, treibt den Algorithmus in den Wahnsinn.
Wie lange wohl werden die Unternehmen noch zusehen, wie in digitale Technologie vernarrte Werber Milliardenumsätze vernichten? Wie lange wird es dauern, bis die Werber selbst begreifen, welche unverzichtbare Rolle die Massenmedien für den Absatz spielen - und zeitgleich welche Rolle den digitalen Medien zugeordnet werden kann?
Vielleicht war ja die Entscheidung von Procter & Gamble der Weckruf, den die Branche brauchte.