Stellen Sie sich vor, ein Kunde kommt zu Rewe oder Edeka und sagt zu einer Verkäuferin: "Ich suche einen Brotaufstrich für meine Enkelin. Der heißt Nutello oder so ähnlich. Haben Sie den?"
Die Verkäuferin blickt in Gedanken versunken an die Decke: "Nutello, Nutello, Nutello. Nee, tut mir leid. Nie gehört. Haben wir nicht, hatten wir auch nie und kriegen wir auch nicht rein."
"Schade. Ok, dann suche ich noch nach einer Weingummi- und Lakritzmischung. Die heißt irgendwie Coloradi und ist von Haribu."
"Sowas haben wir auch nicht."
"Und Frischkäse namens Philodolphia oder so?"
"Nee, keinen blassen Schimmer."
Alberne Geschichte, oder? Unrealistisch. Weil sie nicht in der Apotheke spielt.
Neulich bat mich eine Kollegin, auf dem Weg zum gemeinsamen Mittagessen etwas aus der Apotheke mitzubringen. Ich mag sie, also tat ich ihr den Gefallen. Sie nannte mir den Namen des Präparats. Ich versuchte, ihn mir zu merken. Es gelang mir nur halbwegs.
Irgendwas mit Vitracap. Ein Präparat gegen winzige Verklumpungen im Glaskörper des Auges, die sich als nervige graue Mini-Schatten im Gesichtsfeld bemerkbar machen. "Ein rezeptfreies Nahrungsergänzungsmittel", wie meine Kollegin sagte.
Der Apotheker war ein typischer Apotheker. Hager, Brille, mit weißem Kittel, weil es anders ja sehr unhygienisch wäre, Pappschachteln anzufassen, in denen Tabletten in Blisterverpackungen eingeschlossen sind.
Ich war an der Reihe: "Ich hätte gerne Vitracap oder so ähnlich."
Der Apotheker tippte auf seiner Kasse herum: "Das gibt es nicht."
"Das ist ein Mittel, das für eine klare Flüssigkeit im Glaskörper des Auges sorgt. Irgendwas mit Cap am Ende."
"Hmm, der kann nicht nach hinteren Silben suchen."
"Und Prozentzeichen plus Cap?"
"Nein, das geht nicht."
"Also muss man immer die ersten Silben des Namens kennen? Wie in den Achtzigerjahren, als man noch Karteikarten und Kataloge durchgeblättert hat?"
Schweigen. Ich setzte neu an: "Naja, der Name ist ja auch egal. Es ist ein Mittel gegen Verklumpungen von Collagenketten im Glaskörper."
Der Apotheker wirkte nun noch hagerer. Er glotzte stumm auf sein Kassendisplay. Seine Hände bewegten sich nicht. Ich überlegte, wie ich dem Apotheker weiterhelfen konnte: "Probieren Sie doch mal Vitrocap."
Klackern auf der Tastatur: "Das gibt es, aber das haben wir nicht da. Kann ich Ihnen bis heute Nachmittag bestellen."
"Nee, ich..."
"Oder Moment, hier haben wir noch was anderes."
Er griff schräg hinter sich ins Regal. Auf der Schachtel stand fett unter dem Namen: Makula-Degeneration.
Ich: "Das ist doch was gegen Netzhautprobleme."
Er: "Ach so, ja."
Ich suchte das Weite. Denn ich hatte noch ein paar Minuten. Und wo eine Apotheke war, war die nächste nicht weit. Stellen Sie sich in einer Fußgängerzone mal vor eine Apotheke und gucken Sie links und rechts. Fast immer erblicken sie die nächste Apotheke.
Warum ist das so? Solange es sich lohnt, in Innenstädten alle 200 Meter eine Apotheke zu betreiben, läuft was falsch im Gesundheitssystem - auf Kosten der Patienten.
Salben mischen und Pillen drehen
"Guten Tag, ich hätte gerne Vitrocap."
"Gerne." Die Apothekerin drückte eine Taste am Computer und hielt dann ihre Hand in den Schachtelschacht hinter sich. Die Pillen plumpsten ihr automatisch in die Finger. Ich las: "Ergänzende bilanzierte Diät zu diätetischen Behandlung". Ich fragte: "Wie genau muss man denn diätetisch essen, um Collagen-Klumpen im Auge vorzubeugen?"
Sie sagte: "Gesund." Sie hätte doch einfach sagen können: "Keine Ahnung. Ich bin ja keine Ärztin."
Da lernen die Apotheker an der Uni jahrelang vor sich hin. Aber an den Bedürfnissen vieler Kunden vorbei. Heutzutage müssen sie eben kaum noch Salben mischen und Pillen drehen. Sie müssen Schachteln in kleine Plastiktütchen stecken und ein Päckchen Tempos dazu.
Und weil ihnen der Monitor auf der Kasse den Text der Beipackzettel anzeigt, wissen sie auch eine Menge über die gekauften Präparate zu berichten. Aber sobald eine Frage aufkommt, die sich nicht mit ein paar Mausklicks lösen lässt, herrscht in vielen Apotheken dösige Stille. Macht aber nichts. Ich frage einfach meinen Arzt, lese die Packungsbeilage und recherchiere im Internet. Das reicht völlig. Warum sollte ich auch ausgerechnet auf jenen hören, der mit meiner Medizin Geld verdienen will?
Wie kommt es zum Beispiel, dass jetzt im November gefühlt jede Apotheke ihre Auslagen hinter dem Tresen bis zur Decke mit den blauen Kartons von Orthomol immun vollstopft? Antwort: Weil das Zeug unfassbar teuer ist. Dabei gibt es keine einzige Studie, die die Wirksamkeit des Sirups zur Vorbeugung gegen Erkältung belegt. Keine!
Muss es auch nicht geben. Ist ja nur ein Nahrungsergänzungsmittel. Selbst der Hersteller behauptet das nirgends. Aber die Apotheken verkaufen es als gesundes Herbstmittelchen vor der kalten Jahreszeit. Motto: Kann doch zumindest nicht schaden.
Geldmacherei und seriöse Beratung gleichzeitig. Kann das funktionieren? Dass Ärzte ihre Fortbildungen zum Teil von der Pharmaindustrie bezahlen lassen, ist denen selber nicht geheuer. Viele Mediziner fordern ein Verbot des Sponsorings. Aber dass wir Apotheker zu Risiken und Nebenwirkungen befragen sollen, obwohl sie mehr verdienen, je mehr und je teurer sie verkaufen, stört die Apotheker-Zunft offenbar nicht. Wie Supermarktverkäufer mit Hochschulabschluss.
Und nun berichtet die WiWo in der aktuellen Ausgabe: Einzelne Apotheken fallen jetzt auch noch auf organisierte Kriminelle rein und lassen sich versehentlich gefälschte Medizin andrehen - die sie ahnungslos an ihre Kunden weiterverkaufen. Nahezu monatlich werden neue Fälle bekannt.
Das war doch das letzte unumstößliche Argument der Apotheker: Originale Präparate kauft man am sichersten beim Original und nicht im Pfui-Bäh-Internet. Was spricht nun noch gegen eine anonyme Internet-Apotheke, solange sie seriös ist? Den netten Apotheker von nebenan können die Kriminellen von der Pillenmafia ja offensichtlich genauso erwischen. Trotz des weißen Kittels.
Ich bin gar nicht der Meinung, dass Apotheker alles auswendig wissen müssen und kein Geld verdienen sollen. Aber wenn sie wenig auswendig wissen, sollen sie eben weniger verdienen. Das macht die Zäpfchen und Tabletten und Säfte und Salben und Ampullen billiger. Und wenn sich Apotheken nur lohnen, wenn wir Patienten dafür ordentlich drauf zahlen, dann sollten lieber einige Apotheken dort verschwinden, wo es sie doppelt und dreifach gibt. Dann bleibt uns am Ende des Monate mehr Geld für Brotaufstrich, Lakritz und Frischkäse.