Angefangen hat damals alles im Partykeller der Nachbarn - mit der Bar aus Kiefernholz, Doppeldeck-Radiorekorder im Regal hinterm Tresen, in die Arbeitsplatte eingelassene Zapfanlage mit HSV-Wimpel, Spülbecken mit Bierglasbürste und Kühlschrank mit Pril-Blumen. In den 80er-Jahren. Alles voller Luftschlangen.
Damals lernten wir Kinder, wie Fröhlichkeit nach Zeitplan funktioniert. Um 19 Uhr kamen wir mit der ganzen Familie an und bekamen prompt jeder einen Partyhut zugesteckt, den wir uns alle mit dem Gummizug auf den Schädel spannten. Wir Kinder durften dann bis zum gemeinsamen Abendessen mit diesen Tröten spielen, deren eingerollter Vorbau aus Papier sich beim Hineinblasen nach vorne entfaltet und aufbläht. Aber nach rund zwanzig Minuten war das Papier an der Falz zwischen Plastiktröte und Rolle schon derart durchgesabbert, dass die Dinger in der Ecke landeten.
Gegen 20 Uhr gab es Abendessen: Party-Frikadellen, Party-Würstchen, Party-Gürkchen, Mixed Pickles, Käseigel, Eiersalat mit Presskochschinken-Würfeln und Dosenmandarinen, Ketchup aus der großen Partyflasche, Chips ungarischer Art aus der Partytrommel, Toffifee, Treets und Tortenboden belegt mit Bananenscheiben und Schattenmorellen aus dem Glas.
Die häufigsten Verletzungen mit Feuerwerkskörpern
Pyrotechnik, die noch in der Hand explodiert, ruft mit die schlimmsten Verletzungen hervor. Abgerissene Finger samt durchtrennter Knochen, Nerven und Blutgefäße gehören noch zu den harmloseren Fällen, sagt der Chefarzt der Klinik für Hand-, Replantations- und Mikrochirurgie des Unfallkrankenhauses Berlin (ukb), Andreas Eisenschenk: „Im schlimmsten Fall verlieren Patienten die ganze Hand.“ Bei schweren Handverletzungen müssen sie bis zu fünf Wochen im Krankenhaus bleiben. „Um die Hand so weit wie möglich wieder zu rekonstruieren, braucht es meist weitere Operationen.“
Knalltrauma nennen Experten Verletzungen des Gehörs, die von Explosionen in nächster Nähe verursacht werden. Durch den Druck des Schalls kann das Innenohr geschädigt werden. Patienten hören dann vorübergehend schlecht und haben ein Fiepen im Ohr, sagt der Notfallmediziner Tobias Lindner von der Berliner Charité. Manchmal seien Hörstörungen auch dauerhaft.
Neben Gehörschäden zählen Augenverletzungen zu den häufigsten Gründen, warum Menschen an Silvester in die Notaufnahme kommen: Durch den Funkenflug oder Hitze kommt es zu Sehschwächen, die teilweise irreparabel sind, sagt der Berliner Mediziner Eisenschenk. Eine Empfehlung zum Tragen einer Schutzbrille fordern Augenärzte auch hierzulande, wie die Deutsche Ophthalmologische Gesellschaft (DOG) mitteilte. In anderen Ländern gebe es die Brillen beim Kauf von Feuerwerk gratis.
Sie entstehen nicht nur durch den direkten Kontakt mit Feuerwerkskörpern. „Funkenflug oder die Nähe zu einem explodierenden Knaller kann ausreichen“, sagt Lindner von der Charité. Typisch seien lokale, aber sehr heftige und tief reichende Verbrennungen, erläutert der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Verbrennungsmedizin, Bert Reichert. Meist sei eine OP unausweichlich. Bei Patienten mit kleineren Verbrennungen kann es nach Angaben Lindners dauern, bevor ein Arzt aufgesucht wird: „Manche unterschätzen die Schwere der Verletzung in der Nacht.“
Selten, aber umso gefährlicher sind Fälle explodierender Knaller in der Hosentasche. Am Unfallkrankenhaus in Berlin komme es ein bis zweimal pro Jahr vor, dass Patienten mit Verletzungen bis hin zu den Genitalien eingeliefert würden, sagt Eisenschenk. Knaller explodierten, weil sie aneinander oder an ebenfalls in der Tasche aufbewahrten Streichhölzern reiben, sagt der Mediziner.
Silvester - das ist Druckbetankung und Böllerterror
Danach bis 22 Uhr lustiges Beisammensein. Von der Kassette krachte "Gib mir bitte einen Kuss" von Helga Feddersen , "Der Nippel" von Mike Krüger und "Polonaise Blankenese" von Gottlieb Wendehals. Für die Erwachsenen dabei Druckbetankung mit Bier, Korn und Faber Sekt, für die Kinder Druckbetankung mit Orangenlimo und ausnahmsweise River Cola, weil wir ja lange aufbleiben durften.
Dann Bleigießen. Ich weiß nur noch, dass ich damals was hatte mit einem langen Hals oder Ast oder so. Die Erwachsenen lachten sehr.
Ab rund 23 Uhr Kampf gegen den Schlaf, 23 Uhr 55 hektisches Sektglasverteilen unter den Großen. Ab 0 Uhr draußen Böllerterror mit Ohren zuhalten, bis die Arme schmerzten, dann nochmal rein, im Halbschlaf rumlungern bis halb zwei und ab nach Hause. Hach! Für uns Kinder war das damals einfach ein wunderbarer Rutsch ins nächste Jahr! Unsere erste richtige Party! Ein schöner Traum.
Silvester ist auch nicht mehr, was es mal war
Heute weiß ich: Ich kann dieses fantastische Silvestergefühl seitdem nicht mehr herstellen. Es klappt einfach nicht. Ich habe als Erwachsener alles versucht, es zu erzwingen:
1. Während des Studiums gemeinsame Druckbetankung in der WG-Küche. An Neujahr dann Fernsehen mit Schüttelfrost und mit Eimer neben dem Sessel.
2. Luftschlangen, Bleigießen, Polonaise bei Bekannten. Der Blick in den Badezimmerspiegel war so demütigend: Dieser verdammte Partyhut mit Gummizug!
3. Silvester in der Disco: Wie hatten die den Sekt bloß so warm gekriegt?
Arbeiten statt unproduktiver Rückzug
4. Gemeinsam gemütlich kochen mit Leuten, die gemeinsam gemütlich kochen super unsilvesterig finden. Ab dem Tiramisu das einzige Thema: Wer trifft wen gleich wo zu Feuerwerk und Party? Die Smartphones glühen. Weil die einen treffen sich vorher mit jenen und gehen dann kurz noch bei anderen vorbei und nicht dass dann um Mitternacht das Handynetz überlastet ist und es war doch eigentlich was anderes besprochen und der Dingens meldet sich jetzt gar nicht mehr und was denn nun sei? Prost!
5. Um 23 Uhr mit Ohropax ins Bett
Nichts hatte mich überzeugt. Aber es gelingt mir auch nicht, diesen letzten Abend im Jahr einfach zu ignorieren. Jedes Jahr sage ich mir: Ach, Silvester ist mir doch im Grunde Wurscht. Aber wenn ich einen guten Silvesterplan habe, fühle ich mich trotzdem wohler. Und dann ist mir wiederum Wurscht, dass ich mir Silvester dieses Jahr doch eigentlich wirklich Wurscht sein lassen wollte.
Naja, dieses Jahr die nächste Variante: Fondue mit zwei Leuten. Heute stellt sich raus: Der eine will später noch gemeinsame Freunde auf einer Party treffen, die andere findet Feuerwerk und Party zu laut.
Ich werde vermitteln müssen und habe mir überlegt: Ich schenke derart diszipliniert und unauffällig Wein nach, dass den beiden ab halb 12 sowieso alles völlig egal ist. Und dann entscheide ich kurzfristig alleine. Ha! Ich sehe uns um Mitternacht schon Scrabble spielen.
Ich würde an Neujahr gern arbeiten
Und egal wie: Alles plätschert wie immer aus in die große graue Stille. Der erste Januar. An keinem Tag des Jahres gucken die Deutschen mehr Fernsehen. Das beweisen die Einschaltquoten. Aber was soll man auch sonst machen? Auf den Straßen diese gespenstische Ruhe zwischen all den leeren Sektflaschen und dem nassen kratzigen Matsch aus Böllerpappe und Streusplit. Die Jahre in Mitteleuropa beginnen immer so saft- und kraftlos. Deutschland zieht sich kollektiv die Daunendecke über die Ohren und denkt sich: Und wieder zurück auf Los. Dabei geht doch alles geradewegs so weiter. Klinge ich deprimiert? Da sehen Sie mal, was allein der Gedanke an Neujahr in mir auslöst.
Neujahr sollte ein Arbeitstag sein. Ich würde am ersten Januar wirklich gerne arbeiten. Oh, das hätte so viele Vorteile. Wir würden an Silvester früher ins Bett gehen und folglich weniger saufen und weniger Geld mit Böllern verbrennen. Der graue Tag wäre endlich produktiv genutzt.
Die Fernsehsender würden ihre Blockbuster-Spielfilme nicht alle an diesem einen Tag rausballern, sondern wohl dosiert über das ganze Jahr.
Und wir dürften das ganze Leergut in die Container schmeißen und einen Nagel in die Wand hämmern, um den neuen Kalender aufzuhängen, ohne dass die Nachbarn über Ruhestörung meckern können.
Und der Feiertag, der am ersten Januar wegfällt, wäre als neuer Feiertag irgendwo im Sommer doch prima angelegt. Als geschenkter Urlaubstag in der Julisonne auf dem Balkon mit einem leckeren Eis in der Hand.
Mann, da ist das Jahr fast vorbei und da hatte ich tatsächlich noch eine gute Idee. Von mir aus kann 2015 jetzt kommen. Ich wäre soweit. Ich hoffe, Sie auch. Alles Gute fürs kommende Jahr!