Werner knallhart

Statt Kneipe: Bierchen auf der Straße cornern und bridgen

Der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband Dehoga ärgert sich. Statt in Kneipen zu gehen, decken sich die Leute in Supermarkt und Kiosk ein und setzen sich dann direkt aufs Straßenpflaster. Wo bleibt da der ADAC?

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Der Trend zum Bordstein-Bier: Im Stehen auf der Straße trinken ist das neue Ausgehen. Quelle: dpa

Es gibt ein neues Machtvakuum auf deutschen Straßen und Plätzen: Stehen nach 22 Uhr Leute vor der Kneipe und trinken, tratschen und grölen und der Türsteher kommt und sagt: "Leute, sorry, ihr müsst jetzt reinkommen, draußen ist es zu laut für die Nachbarn", dann bekommt er nicht selten zu hören: "Nö, wir sind ja gar nicht eure Gäste, wir stehen hier nur so rum."

Lange Zeit gab es diese Entwicklung nur in den Städten mit ausgeprägter Kiosk-Infrastruktur wie Köln ("Büdchen") und Berlin ("Späti"): An lauen Sommerabenden decken sich Horden von Jugendlichen preiswert an den Kühlschränken der Mini-Läden ein, stopfen ihre Rucksäcke voll mit Chips, Weingummi und Schokolade und versammeln sich dann an den Straßenecken vor den Gastronomie-Betrieben, statt sich reinzusetzen. Man könnte es auch "cornern" nennen, so wie es Hipster mit Hang zu Anglizismen tun.

Draußen ist es eh schöner - und auf dem Gehweg zu sitzen bedeutet für viele sogar noch mehr Summerfeeling, als am Tisch rumzuhängen und sich die nackten Schienbeine am Stangengewirr unter der Platte blau zu stoßen.

Richtig trinken rund um den Globus
Deutschland: ProstIn Deutschland macht es natürlich einen Unterschied, wo getrunken wird. Während man sich in der Kneipe zuprosten kann, wie, mit wem und welchem Getränk man möchte (außer natürlich über Kreuz – das bringt wie jeder weiß Unglück), gibt es für das Geschäftsessen einige Regeln: Zum Anstoßen erhebt der Gastgeber zuerst das Glas – und signalisiert damit seinen Gästen, es ihm nachzutun. Angestoßen wird nur mit Wein, Champagner oder Sekt. Wichtig: Den Blickkontakt halten. Angemessener als anzustoßen, ist es, das Glas zu erheben und sich zuzunicken. „Prost“ gilt zwar als klassischer Trinkspruch, ist bei einem Geschäftsessen aber unangebracht. Erst recht gilt das für Abwandlungen wie „Stößchen“ oder „Prostata“.  Bei Geschäftsessen und Festlichkeiten schickt sich eher das feinere „Zum Wohl!“ oder – noch höflicher – „Auf Ihr Wohl!“. Quelle: dpa
Frankreich:  À vôtre santéDer gängigste französische Trinkspruch ist „Santé“ (Auf die Gesundheit!) beziehungsweise  „À vôtre santé“ (Auf Ihre Gesundheit). Hebt Ihr Gegenüber also das Weinglas und sagt „À vôtre santé“, sagen Sie  „À la vôtre“ („Auf die Ihre/ eure“) oder „À la tienne“ („Auf deine“) und stoßen an. Bei der nächsten Runde stoßen Sie dann vermutlich auf etwas anderes an: Die Liebe, die Familie, den guten Wein. Quelle: AP
Italien: Cin CinGrundsätzlich trinkt man in Italien aus Gläsern oder Bechern, auch Bier trinkt man nicht aus der Flasche, sondern teilt deren Inhalt auf mehrere Gläser und Personen auf. Mit den Worten „Salute“ oder „Cin Cin“ wird angestoßen. Sind die Becher aus Pappe oder Plastik, dürfen sie sich beim Anstoßen allerdings nicht berühren, stattdessen berühren sich die Handrücken. Trinken Sie aus echten Gläsern, gilt das nicht. Allerdings wird das Glas – unabhängig vom Material – nach dem Anstoßen erst nochmal auf dem Tisch abgesetzt, bevor es den Mund berührt. Alles andere bringt Unglück. Quelle: AP
Spanien: „Arriba, abajo, al centro y pa‘ dentro“Wer in Spanien mit Wasser oder anderen alkoholfreien Getränken anstößt, riskiert dem Volksmund zufolge sieben Jahre schlechten Sex – also nehmen Sie lieber Wein, Bier, Schnaps oder Sangria zum Anstoßen. Dabei sagen Sie „Salud!“. Oder Sie halten Ihr Glas erst nach oben, dann nach unten und dann vor Ihre Brust und sagen dabei: „Arriba, abajo, al centro y pa‘ dentro“  ( „Nach oben, nach unten, zur Mitte und dann rein damit“). Quelle: dpa
Portugal: SaúdeZuprosten und Anstoßen ist in Portugal eher unüblich. Gibt es etwas zu feiern, machen aber auch die Portugiesen eine Ausnahme. In diesem Fall sagt man „À saúde!“ oder „Saúde“ (Auf die Gesundheit/Gesundheit). Die Gläser dürfen sich dabei gerne berühren, Anstoßen über Kreuz bringt allerdings Unglück. Quelle: REUTERS
Griechenland: JamasDas berühmteste griechische Getränk ist vermutlich Ouzo. Der Anis-Schnaps ist ein Digestiv und wird in der Regel nach dem Essen gereicht. Mit Wasser verdünnt gibt es ihn jedoch öfter zu den sogenannten Mezedes, also dem griechischen Äquivalent zu den spanischen Tapas. Neben Ouzo gibt es natürlich noch sehr viel Wein – Bier ist weniger verbreitet – und Tsikoudia, ein Schnaps, der aus den Resten der Weinproduktion hergestellt wird. Egal mit was Sie anstoßen, der gängigste Trinkspruch ist „Jamas!“. Quelle: dpa
Schweden: SkålWenn Sie in Schweden mit jemandem Anstoßen, schauen Sie ihm davor und danach in die Augen. Dabei ist Blickkontakt – anders als in Deutschland – nicht zwingend notwendig. Der bekannteste Trinkspruch ist „Skål“ („Zum Wohl“). Je nach Gesellschaft und Pegel wird vor dem Anstoßen auch ein Trinklied gesungen – auch schon mal vor jedem neuen Schluck. Quelle: Fotolia

Letztendlich entscheiden zwei Meter vor oder zurück über billig oder teuer. Denn die Preise in den Bars und Cafés können mit denen der Kioske natürlich nicht mithalten. Ein halber Liter Bier für 1 Euro 50 oder eben für 3 Euro 80 - bei einem langen Sommergelage mit Freunden spart die Gruppe beim Cornern schnell mal 20 Euro. Und die Musik aus der Bar schallt ja kostenlos bis auf die Straße.

Und so hat sich etwa in Köln längst eine Im-Sommer-einfach-schön-draußen-rumsteh-Kultur entwickelt. Anwohner werden jetzt rufen: "Ja, zum Beispiel bei uns am früher so idyllischen Brüsseler Platz!" Dass die Nachbarn da schnell die Metapher mit dem einfallenden Heuschreckenschwarm im Kopf haben, ist nur allzu menschlich. Dort kann man dieser Tage wohl nur mit geschlossenem Fenster schlafen. Mitunter stehen dort hunderte gut gelaunter Menschen unter den Bäumen und sparen bei jedem Schluck bares Geld. Und in den Büdchen drum herum trägt man die Euros in Eimern weg.

Das Gleiche am Wochenende in der Kölner Schaafenstraße. Dort suchen sich die Cornerer die Kioske mittlerweile schon nach Freundlichkeit der Inhaber aus. Man greift eben nicht bei jedem gern in den Kühlschrank. Und die Kneipen betreten viele Leute im Sommer nur noch zum Austreten.

Seit einiger Zeit wird der Trend zum Bordstein-Bier noch befeuert durch die Supermärkte. Sie tragen das Cornern in die mittelgroßen Großstädte. Dort wo es sich lohnt, bleiben die Läden bis Mitternacht geöffnet. Und sind längst mit meterlangen verglasten Kühlwänden ausgestattet. Extra für Bier, Limo und Smoothies.

Die beliebtesten Biermarken in Deutschland 2015

Dort werden die Kunden jeden Sommer mit neuen Getränke-Varianten bezirzt. Waren es die letzten Jahre noch die Biere mit den durchgeknalltesten Beimischungen bis hin zu Ingwer und Flieder, sind es diese Saison die Ciders mit skandinavischem Anstrich mit Birnen- oder Waldbeerengeschmack. So schnell, wie die Supermärkte und Kioske mal eben das Sortiment aufpeppen, können die Kneipen gar nicht ihre Schiefertafeln über der Theke mit Kreide umschreiben.

Und es kommt noch dicker: Die Supermärkte haben erkannt, dass der durchschnittliche Deutsche immer weniger Mahlzeiten zu Hause einnimmt, nämlich 2015 4,2 Prozent weniger als noch zehn Jahre zuvor. Und so ballert der Handel seine Vitrinen voll mit Couscous nebst Minzdipp, Bulgur-Salat, Thunfisch-Wrap, geschnippeltem Obst im Klarsichtbecher und geschälten Minimöhrchen und lockt so Chefin und Praktikanten schon mittags zum Essen auf die Straße.

Fußgänger erobern den Straßenraum zurück

Wenn man also auch noch seine Mittagspause mampfend auf der Parkbank verbringen kann, statt beim Mittagstisch eines Restaurants, wenn man abends den Bierschmacht an der Laterne lehnend mit einem halben Hähnchen und Kartoffelsalat von Rewe to go stillen kann, dann blicken die Mitglieder der Dehoga wohl tatsächlich irgendwann neidisch durchs Gebüsch auf die ehemaligen Gäste, für die der öffentliche Raum im Sommer zum Ersatzbalkon geworden ist.

Und in Berlin bahnt sich schon das nächste Phänomen an. Nennen wir es anglizistisch "bridgen". Dort versammeln sich ganze Freundeskreise (mit teilweise beträchtlichem Radius) in ruhigen Wohngebieten auf Brücken mit netter Aussicht und setzen sich dort aufs Kopfsteinpflaster, wie zum Beispiel über dem Landwehrkanal auf der Admiralsbrücke. Dann wird Gitarre gespielt, jongliert und gekifft.

Diese Marken haben das beste Preis-Leistung-Verhältnis
Alkoholfreie Getränke: Gerolsteiner Quelle: imago images
Automobil: Skoda Quelle: imago images
Autozubehör und -services: Carglass Quelle: imago images
Banken: ING-Diba Quelle: imago images
Bauen und Einrichten: Ikea Quelle: dpa
Biere: Krombacher Quelle: obs
Consumer Electronics: Samsung Quelle: dpa

Die ersten sitzen noch auf Gehwegen und der Verkehrsinsel und versorgen sich direkt neben einem Italiener mit idyllischem Biergarten günstig aus einem Spätkauf-Kiosk. Doch schon bald ragen die ersten Hintern, Rücksäcke und Fahrradlenker auf die Fahrbahn. Und man erkennt schon am Gesichtsausdruck der Autofahrer, wer wegen dieses Phänomens zum ersten Mal bei 2 km/h durch den Fleisch gewordenen Hindernisparcour zirkeln muss, um nicht versehentlich über einen nackten Fuß zu rollen, und wer das verdammt nochmal seit Mai jeden Sonntag-Nachmittag tun muss. Letztere haben eine deutlich gesenkte Hup-Schwelle. Und rötere Hälse.

Und so wird nicht nur der Dehoga über das Cornern klagen, sondern bald sicher auch der ADAC und die Polizei-Gewerkschaft über das Bridgen - wegen innerörtlicher Ferienstaus und zwischen Kopfstein und Reifen zermalmter Handknochen.

Wie ein Spiel die Welt auf den Kopf stellt
In Japan geht es erst noch los Quelle: dpa
Echte Schießidee Quelle: dpa
Da raschelt was im Gras Quelle: dpa
Verbraucherschutz als Endgegner Quelle: REUTERS
Schicht im Schacht Quelle: dpa
Pokémon Stop & Go Quelle: dpa
Böse Mine zum guten Spiel Quelle: AP

Und so wie die Inline-Skating-Verbotsschilder mit den putzigen Piktogrammen heute ein Relikt aus den Neunzigerjahren sind, so werden sicher bald neue Schilder aufkommen: "Hintern nicht ins Straßenprofil ragen lassen" oder "während der Malzeiten Füße einziehen". Oder dreieckige Warnschilder an Autofahrer mit Piktogrammen von auf der Straße sitzenden Männchen mit Bierflasche in der Hand.

Dass ausgerechnet der Lebensmittelhandel dazu beiträgt, dass die Fußgänger den Straßenraum zurückerobern, hätte man wohl genauso wenig für möglich gehalten wie den Brexit.

Im Stehen auf der Straße trinken ist das neue Ausgehen. Welcher Marketing-Stratege hätte das bitte prognostiziert?

Und jetzt sind ja auch noch die Pokémon auf unseren Straßen unterwegs und locken noch mehr Leute raus. Nun noch ein paar sonnige Tage und wir werden unsere Innenstädte nicht mehr wiedererkennen.

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