Zentis und Ehrmann Von Früchtchen und Freunden

Was dahintersteckt, wenn sich die Chefs von Zentis und Ehrmann zum Gipfelgespräch in Moskau treffen – ein exklusiver Blick hinter die Kulissen.

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Ehrmann und Johnen Quelle: Fyodor Savintsev für WirtschaftsWoche

Karl-Heinz Johnen schnarcht. Das Abendessen im Moskauer In-Restaurant GQ und die Fortsetzung an der Bar des benachbarten Hotels Baltschug mit seinem imposanten Blick auf den Kreml und den weihnachtlich illuminierten Roten Platz waren lang – der Schlaf entsprechend kurz. Für den 51-jährigen Zentis-Chef und eine Handvoll seiner Mitarbeiter war es der feucht-fröhliche Abschluss des letzten wichtigen Geschäftstermins im vergangenen Jahr. Auf dem Weg zum Flughafen ist Johnen – Herr über Marmelade, Marzipankartoffeln und Fruchtzubereitungen – auf dem beigen Lederrücksitz des schwarzen Mercedes, den sein Russland-Geschäftsführer Peter Schönhuber chauffiert, eingeschlafen.

24 Stunden vorher, 14. Dezember. Der Verkehr auf den Stadtautobahnen Moskaus staut sich im Nieselregen bei fünf Grad Celsius auf mehr als 500 Kilometer Länge. Mittendrin die Limousine mit Zentis-Chef Johnen, seinem Geschäftsführerkollegen Dietmar Otte und Russland-Statthalter Schönhuber. „Es wird immer schlimmer“, mosert Schönhuber und klickt sich zum Beweis durch den Bordcomputer seines Dienstwagens. „39 538 Kilometer habe ich auf dem Tacho. Durchschnittsgeschwindigkeit: 31 Stundenkilometer.“

Mehr als Konfitüre und Marzipan

Ziel ist Raos, eine Siedlung mit Industriegebiet rund 40 Kilometer außerhalb der russischen Hauptstadt. Knapp zwei Stunden dürfte heute die Fahrt dorthin dauern. In Raos steht eine Fabrik des deutschen Joghurtherstellers Ehrmann. Einmal im Jahr treffen sich dort die Chefs der bekannten Familienunternehmen Ehrmann und Zentis zum Jahresgespräch für den osteuropäischen Markt. Ein Gipfeltreffen, das Tradition hat, das in Moskau steigt, weil Russland für beide Unternehmen ein wichtiger Auslandsmarkt ist – und das normalerweise unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet. Diesmal begleitete WirtschaftsWoche-Redakteur Mario Brück Johnen auf seiner Reise, schaute ihm bei der Verkostung von Produkten und der Präsentation neuer Ideen über die Schulter und sprach mit ihm über Ferraris, Freundschaften, und eben: Fruchtzubereitungen.

Denn Konfitüre und Marzipan, die beiden populären Produkte aus dem Hause Zentis, spielen beim Aachener Familienunternehmen längst nicht mehr die Hauptrolle. Mehr als 65 Prozent des Jahresumsatzes von rund 700 Millionen Euro erlösen die 2000 Zentis-Mitarbeiter mit Fruchtzubereitungen für Backwaren-, Eis- oder Joghurthersteller wie eben Ehrmann. Hinter dem Terminus Fruchtzubereitung verbirgt sich alles, was in Milchprodukten landet: Erdbeeren und Kirschen im Milchreis, Schokosplits und Müsli im Joghurt oder Kuchen- und Keksstückchen im Dessert.

Daddeln und Sammeln

Johnen im russischen Supermarkt Quelle: Fyodor Savintsev für WirtschaftsWoche

Zentis produziert in Aachen, Ungarn, Polen und den USA. Die Kundenliste liest sich wie das Branchenbuch der europäischen Milchindustrie: Danone, Campina, Ehrmann, Müller-Milch, Bauer und viele mehr. In Deutschland und Europa bezeichnet Johnen sich als Marktführer. Auf dem Weltmarkt sei es Rang zwei, gleich hinter der österreichischen Agrana, einem Hersteller von Zucker, Stärke und Fruchtzubereitungen mit 52 Fabriken in 25 Ländern weltweit. An Agrana ist der deutsche Südzucker-Konzern beteiligt.

Johnen fährt die Seitenscheibe herunter, zündet sich eine HB an und vertreibt sich die Zeit mit dem iPhone: Er daddelt „Angry Birds“, ballert begeistert wie ein Schulbub mit Vögeln auf Schweine. Zwischendurch erkundigt er sich, ob die anderen noch hinter ihnen seien. Die anderen, das sind Verkaufsleiter und Produktentwickler, verteilt auf zwei weitere Limousinen.

Zwei Zigaretten später geht immer noch fast nichts voran. Dabei hat Johnen ein Faible für stehende Autos: Er sammelt Modellautos, weit mehr als 600 Stück hat er schon. Ferraris, Lamborghinis, Porsches. Viel lieber mag der 1,86-Meter-Mann aber Modelle, bei denen er selber Gas geben kann, echte Luxusschlitten. Wie viele er in der Garage habe? „Muss ich das sagen?“, ziert sich Johnen. Seine Reaktion lässt nur einen Schluss zu: Es sind nicht wenige. Sein Lieblingsauto sei jedenfalls ein Mercedes-Benz S 65 AMG, ein 600-PS-Geschoss, 300 Sachen schnell, schlappe 200 000 Euro teuer.

Enge Bindung zu Zentis

Warum auch nicht. Autonarr Johnen, geboren in Remscheid, hat sich sein Luxushobby erarbeitet. Seit 16 Jahren führt er das Traditionsunternehmen Zentis, ist verantwortlich für Marketing und Vertrieb. Nach dem Abitur absolviert er eine Ausbildung als Bankkaufmann. Dann geht er nach New York, heuert bei einer Tochter der Deutschen Bank an. Erfahrungen mit Lebensmitteln sammelt er Anfang der Achtzigerjahre bei der amerikanischen Tengelmann-Supermarktkette A&P. Wieder in Deutschland, arbeitet er fünf Jahre lang bei Zentis unter der Regie seines Vaters – was im ersten Anlauf aber nicht passt.

Nach einem Intermezzo bei Südmilch kehrt er 1994 zurück zu Zentis, ist zwei Jahre lang Stellvertreter seines Vaters, um dann in dessen Fußstapfen zu treten. Damit geht die enge Bindung der Johnens zu Zentis in die zweite Generation. Eine dritte wird es nicht geben, Johnen ist kinderlos.

Johnen ist Angestellter. Anteile am Aachener Marmeladenkocher, der den drei Gründerfamilien Zentis, Döring und Goerdt gehört, hat er nicht. Seit 1996 ist kein Mitglied der Familien mehr im Unternehmen tätig. Sie vertrauen Johnen, dem Instinktmenschen, der sagt, was er denkt, der Diplomatie und politisch korrektes Auftreten gerne anderen überlässt, der fast alle Entscheider in der Ernährungsindustrie persönlich kennt und duzt, vom Danone-Top-Manager bis zum Rewe-Vorstand. Die guten Drähte Johnens reichen bis in die Spitzenpolitik. So gab er 2010 den Gastgeber für den damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Wulff und seine Gattin Bettina beim Deutschen Filmball in München und zahlte Reise- und Übernachtungskosten für das prominente Paar.

Kavallerist und Nachhut

Ehrmann probiert neue Kreationen von Zentis Quelle: Fyodor Savintsev für WirtschaftsWoche

Im Schneckentempo nähert sich die Zentis-Karawane einem Supermarkt der deutschen Metro-Tochter Real am Moskauer Stadtrand. „Lass uns hier mal anhalten, geht ja eh nicht voran,“ sagt Johnen. In den Kühlregalen des Ladens zeigen sich die Kräfteverhältnisse im russischen Milchmarkt: Danone dominiert, erst recht seit die Franzosen 2010 den russischen Lokalmatadoren Unimilk geschluckt haben.

„Das sind fast alles unsere Früchte“, sagt Dietmar Otte und zeigt auf die Regalmeter mit Fruchtjoghurts. Der 59-jährige Lebensmitteltechnologe, der seit 2006 Produktion und Technik bei Zentis verantwortet, ist Johnens kongenialer Partner an der Unternehmensspitze: Johnen, der wortmächtige Kavallerist, und Otte, die sichernde Nachhut. Der kleine Ostwestfale mit der Professorenbrille ist ein Mann der leisen Töne, der zwar ein modernes Smartphone besitze, aber nicht wisse, wie es angehe, neckt ihn Johnen. Sein Umfeld hat sich längst an seine unverblümte Art gewöhnt.

Kurz nach halb elf erreicht die Zentis-Delegation die Ehrmann-Molkerei in Raos. „Wo bleibt’s denn. Habt’s euch verfahren?“, frotzelt ein hochgewachsener Schlacks zur Begrüßung. Es ist Christian Ehrmann, der 39-jährige Chef der gleichnamigen Familienmolkerei aus Oberschönegg im Allgäu, die er seit 2006 in dritter Generation führt. Der 1920 gegründete Betrieb ist heute ein 700-Millionen-Euro-Konzern mit 1300 Mitarbeitern und einem Mann an der Spitze, der eher an einen modernen Volksmusikstar erinnert als an einen Allgäuer Unternehmerspross: groß, schlank, Brilli im Ohr, zurückgegelte blonde Haare, Nadelstreifenanzug und zwei Bändchen um das Handgelenk, eines mit kleinen, eines mit etwas größeren Holzkugeln – ein Andenken an seine verstorbene Mutter.


Drängen auf Internationalisierung

Ehrmann ist etwa alle sechs Wochen für ein paar Tage in Moskau, schon aus alter Verbundenheit. Nach der mittleren Reife beginnt er eine Ausbildung zum Molkereifachmann, macht anschließend den Molkereimeister und studiert im zweiten Bildungsweg Betriebswirtschaft. 1998 kehrt er nach dem Studium ins Unternehmen zurück, just als Vater und Onkel entscheiden, eine Fabrik in Russland zu bauen und den Junior mit deren Aufbau zu betrauen. Bis dahin hatten die Allgäuer nur haltbare Joghurts nach Russland exportiert. „Ein paar Monate nachdem alles eingetütet war, Grundstücke gekauft und Bauaufträge vergeben waren, die Bagger schon anrollten, brach die russische Wirtschaft zusammen“, erinnert sich Ehrmann. Auch der Export nach Russland – bis zu 500 Laster pro Monat – stürzt „auf fast null.“ Was nun? Aus heutiger Sicht hätten Vater und Onkel genau richtig reagiert, sagt Ehrmann. Sie glauben an das Land. Das geht vorbei, wir machen weiter, entscheiden sie.

Anderthalb Jahre später steht die Fabrik, und die russische Wirtschaft hat sich berappelt. Heute erlöst Ehrmann 120 Millionen Euro in Russland. Seit Ehrmann das Kommando im Allgäu übernommen hat, drängt er auf Internationalisierung. Er baut Russland auf, kauft in Tschechien zu und eröffnet im März 2011 eine Joghurtfabrik in den USA. Und zu Jahresbeginn kauft er dem Wettbewerber Danone die Rechte für die Marke Obstgarten in Deutschland ab.

Kritik an Ehrmann

Produktion in einer russischen Molkerei Quelle: Fyodor Savintsev für WirtschaftsWoche

Kürzlich geriet Ehrmann in die Kritik, weil ein Antibiotikum, das zur Beschleunigung mikrobiologischer Untersuchungen eingesetzt wird, unsachgemäß in das sogenannte Weißwasser geraten war. Diese Flüssigkeit ist ein beliebtes Futtermittel für Schweine, weil es Eiweiß enthält und von Ehrmann kostenlos abgegeben wird. So landete das seit 1994 bei Schlachttieren verbotene Antibiotikum in den Trögen von 25 bayrischen Mastbetrieben.

„Leute, in der Kantine ist angerichtet, wir können anfangen“, ruft Ehrmann. Auf mehreren Tischen hat der Firmenchef Hunderte Produkte aufbauen lassen: Joghurts, Desserts, Milchreis, Fruchtquarks. Nicht nur Produkte von Ehrmann Russland, auch die Konkurrenz stellt sich dem Votum der Experten. Und dann wird losgelöffelt und gefachsimpelt: Wie schmeckt der frisch produzierte Joghurt im Vergleich zu dem, der kurz vor dem Ablauf des Haltbarkeitsdatums steht? Wie schlägt sich der Ehrmann-Milchreis gegenüber dem beliebten russischen Konkurrenzprodukt? Welche Fruchtfarben wirken künstlich? „Dietmar, die Kirsche hier könnte etwas mehr Farbe gebrauchen, ein bisschen dunkler sein“, sagt Johnen. „Okay, wir machen ein Muster“, erwidert Otte.

Nach einer halben Stunde wird abgeräumt. Nun schlägt die Stunde der Zentis-Leute: Produktentwickler Marc Müller verteilt eine Präsentation mit dem Titel „Neue Geschmacksrichtungen für den russischen Markt“. Obwohl auch hier wie in Deutschland die Erdbeere die Lieblingsfrucht im Joghurt ist, versorgt Zentis seine Kunden mit immer neuen Varianten.


Knackig und kross

Müller stellt jedem Verkoster Plastikbecher mit Proben hin: Apfelstrudel, Schwarzwälder Kirsch, Käsekuchen, Tiramisu und vieles mehr – Kreationen, die einmal in den Joghurts von Ehrmann landen sollen. Johnen mümmelt ein Löffelchen Schwarzwälder Kirsch. „Ist da Alkohol drin?“, fragt Johnen. Ja, antwortet jemand aus der Runde. „Da muss mehr rein.“ Ehrmann vermisst etwas Zimt und Rosinen im Apfelstrudel. „Der schmeckt eher wie Apfel-Joghurt.“

Fruchtzubereitungen sind High-Tech-Erzeugnisse. Anders als bei der Marmeladenproduktion bedarf es bei der Fruchtzubereitung eines hohen technischen Know-hows. Verarbeitet werden die Früchte – bei Zentis rund 300 000 Tonnen pro Jahr – unter aseptischen Bedingungen. Ein Milchprodukt würde sofort schimmeln oder verderben, wären die Fruchtzubereitungen nicht besonders präpariert und keimfrei. Schon 1998 gelang es Zentis, feine Schokoladenstückchen – etwa für Stracciatella-Joghurts – herzustellen, ohne dass sie im Joghurt aufweichen. Mittlerweile ist die Truppe um Otte in der Lage, selbst Cornflakes oder Kuchenstückchen so zu präparieren, dass sie im Joghurt nicht aufquellen und matschig werden, sondern knackig und kross bleiben – mithilfe komplizierter biochemischer Prozesse.

Verhandler und Freunde

Ehrmann-Fruchtquarks in einer Kühltruhe Quelle: Fyodor Savintsev für WirtschaftsWoche

Nach der Hälfte der Verkostung überlassen die beiden Firmenchefs das Feintuning ihren Experten und ziehen sich in den Besprechungsraum zurück. Inmitten von Milch und Früchten geht es nun um die Wurst: Wie sehen die Preise für 2012 aus? Welche Mengen werden zu welchen Konditionen abgenommen? Welche Preiserhöhungen bei Rohstoffen muss Johnen an Ehrmann weiterreichen? Wie viel davon wird Ehrmann akzeptieren? Die Verteuerung von Zucker und Früchten habe Zentis in diesem Jahr fast 50 Millionen Euro zusätzlich gekostet, klagt Johnen.

Typischer Kompromiss

Schon Ehrmanns und Johnens Väter haben Geschäfte gemacht, die Söhne setzen die Tradition fort. Die beiden sind Geschäftspartner, gewiefte Verhandler, aber eben auch Freunde seit mehr als 30 Jahren. „Wir haben uns nie enttäuscht“, sagt Johnen. „Wenn man weiß, wie der andere tickt, ist man sich schon mal in einer Viertelstunde handelseinig.“ Genaueres will Johnen nicht preisgeben. „Das sind die letzten Geheimnisse, die wir noch haben“, sagt er und lacht. Doch wer nach dem Gespräch in die Gesichter der beiden blickt, der ahnt, es hat den typischen Kompromiss gegeben, mit dem beide Seiten leben können.

Gemeinsam machen sich Ehrmann und Johnen auf den Rückweg zum Hotel. Smartphone-Junkie Ehrmann, der ein Bild von seiner Audienz in Rom bei Papst Benedikt als Startseitenbild auf seinem Blackberry hat, kramt in seiner Daunensteppjacke nach einem silbernen Schnupftabakdöschen und genehmigt sich eine Prise – während Johnen wieder mal das Seitenfenster heruntersurrt und qualmt. In der Hotel-Lobby verabschieden sie sich. Der eine gönnt sich eine Massage auf seinem Zimmer, der andere hat einen geschäftlichen Termin. In drei Stunden sind sie gemeinsam mit ihren Mitarbeitern verabredet: zu Bœuf Stroganoff, dem einen oder anderen Wodka und einer langen Nacht.

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