Atomkraft in der Ukraine Hauptsache, der Strom fließt

Deutschland schaut mit Sorge auf den Zustand der ukrainischen Atomkraftwerke. Die Bundesregierung will die Sicherheit der Anlagen sogar finanziell unterstützen. Im Land selbst ist die atomare Gefahr jedoch kein Thema.

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Erinnerungen an die Katastrophe von Tschernobyl: Das ukrainische Atomkraftwerk nahe Saporoschje.

Kiew Wie sensibel das Thema ukrainische Atomkraftwerke in Deutschland ist, zeigte sich Anfang Dezember. Da gab es einen Zwischenfall in einer Anlage nahe Saporoschje. Die deutschen Medien berichteten sofort mit Eilmeldungen über den Defekt – Erinnerungen an die Katastrophe von Tschernobyl wurden wach.

Deutschland sorgt sich, dass die altersschwachen Atomkraftwerke eine Gefahr darstellen, und auch die kriegerischen Auseinandersetzungen in den Regionen Donezk und Lugansk Auswirkungen auf die Reaktorsicherheit der ukrainischen AKWs haben könnten. Die Bundesregierung ist so besorgt, dass sie die Ukraine nun sogar bei der Sicherung ihrer teils maroden Atomkraftwerke finanziell unterstützen will. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Grünen-Fraktion im Bundestag hervor, die dem Handelsblatt (Online-Ausgabe) vorliegt.

In der Ukraine ist das Thema Reaktorsicherheit jedoch keines. Der Großteil der ukrainischen Bevölkerung interessiert sich generell wenig für Umwelthemen. Sogar Student Ilya Schewtschenko, der sich in seiner Freizeit bei mehreren Naturschutzgruppen engagiert sagt: „Selbst bei uns sind Themen wie sauberes Wasser oder eine fußgängerfreundliche Stadt stärker im Fokus als der Ausstieg aus der Atomenergie“. Das läge zum Teil an der Zusammensetzung der Gruppen, viele die dort mitmachen sind junge Leute, es gibt kaum Experten, die sich über einen längeren Zeitraum und professionell auf die Arbeit bei einer Anti-AKW-NGO konzentrieren.

Selbst das Wissen, dass es bei der Nutzung von Atomkraftwerken zu radioaktiven Abfällen kommt, die teilweise jahrhundertelang gelagert werden müssen, ist in der Bevölkerung nicht weit verbreitet. „Der gesamte ukrainische Atommüll geht nach Russland, wie er dort hinkommt, gelagert wird und was sonst damit passiert, interessiert kaum jemanden bei uns“, sagt Student Ilja.

Das verwundert, weil doch die Ukraine im Jahr 1986 in Tschernobyl einen der schwersten Reaktor-Unfälle weltweit erlebt hat und damals tausende Menschen umgesiedelt wurden und die Folgekosten bis zum heutigen Tag mehrere Milliarden Euro verschlingen. Alleine der Bau eines Schutz-Sarkophags über den verunglückten Reaktor, verschlingt 2,1 Mrd. Euro. Die Arbeit daran begann 1997, zehn Jahre später wurde mit dem Bau des Sarkophags begonnen, 2017 soll das Projekt fertig sein. Bislang haben sich 43 Geberländer an der Finanzierung beteiligt, Russland ist bis heute nicht bereit, für die entstanden Schäden mit aufzukommen. Den Großteil der Kosten tragen EU-Länder und die USA.


Ungeheurer Bedarf an Energie

Was die Sicherheit der noch in Betrieb befindlichen Kernkraftwerke angeht, hält sich die ukrainische Regierung bedeckt. Das Energieministerium teilte auf Anfrage mit, das meiste, was derzeit in der Ost-Ukraine geschehe, betreffe Fragen der nationalen Sicherheit und werde nicht veröffentlicht. Die Ukraine sei derzeit dabei, ihre Energiepartnerschaft zu erweitern. Die neue Regierung habe für die Jahre 2015 und 2016 entschieden, verstärkt mit Partnern aus den USA und der EU zusammenzuarbeiten.

Die Ukraine hat einen ungeheuren Bedarf an Energie, fast 44.000 Megawatt an Strom werden derzeit pro Tag produziert, gebraucht werden rund 60.000. Allein 30 Prozent werden durch Atomkraftwerke erzeugt, 60 Prozent stammen von Kohle- und Wasserkraftwerken. Der Anteil der erneuerbaren Energien beträgt lediglich 0,5 Prozent. Trotz aller Einwände der EU will die Ukraine auch in Zukunft auf ihre Atomkraftwerke nicht verzichten. Regierung und Energielobby haben ihre Energiestrategie bis 2035 vorgestellt.

Die Ukraine ist nicht nur von russischem Erdgas abhängig, auch die vier Standorte der AKWs werden durch Russland mit Brennmaterial versorgt. Zwei Standorte befinden sich in den west-ukrainischen Regionen Riwne und Chmelnyzki, die anderen beiden – Nikolajew und Saporischschja – in der Süd-Ost-Ukraine. Vor allem das letztgenannte Atomkraftwerk sorgte Anfang Dezember für Aufregung. Durch einen Kurzschluss musste ein Teil der Anlage tagelang heruntergefahren werden, Medien hatten berichtet, es habe dort einen Unfall gegeben. Sofort schrillten in West-Europa die Alarmglocken, weil so mancher die Befürchtung hatte, es sei zu einem zweiten Super-GAU gekommen, ähnlich der Atom-Katastrophe von 1986 im nord-ukrainischen Tschernobyl.

Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk sagte während einer Kabinettssitzung Ende Oktober, er wolle noch in diesem Jahr einen Vertrag zum Bau eines neuen Kernkraftwerkes abschließen, und zwar mit der US-Firma Westinghouse. Die im Bau befindlichen Reaktoren Chmelnitski drei und vier sollen anders als geplant auch nicht von russischen Firmen zu Ende gebaut und versorgt werden, sondern von Firmen aus dem Westen.


„Politik der Energieunabhängigkeit“

Während Regierungschef Jazenjuk die US-Firmen favorisiert, will der Vorsitzende der mächtigen Energoatom, Juri Nedaschkowski, mit tschechischen Unternehmen ins Geschäft kommen. Das ukrainische Staatsunternehmen ist für den Betrieb aller AKWs zuständig und auch für die Entsorgung des Atommülls. Vor ein paar Tagen, am 10. Dezember, einigte sich die neue ukrainische Regierung aber doch darauf, erst einmal mit Russland weiterzuarbeiten. Der Kauf der US-Brennstäbe und der Bau neuer AKWs wurde bis 2020 verschoben.

Trotzdem wolle die Ukraine eine „Politik der Energieunabhängigkeit“ beginnen, heißt es in einer Mitteilung des Kabinetts. In den Jahren 2015 bis 2019 habe nun die Privatisierung mehrerer staatlicher Energiebetriebe „oberste Priorität“, unter anderem stünden 37 Bergwerke und zwei große Stromanbieter zum Verkauf.

Für junge Parlamentarier wie Alex Rybatschin ist ein komplettes Umdenken wie in West-Ukraine Anfang der 1980er Jahre nötig. „Wenn wir ein modernes Land werden wollen, müssen wir unseren Energiesektor komplett umbauen und die Menschen für Energieeinsparungen sensibilisieren“, sagte der 31-Jährige im Gespräch mit Handelsblatt Online. Viel stärker als bislang müsse die Öffentlichkeit über Themen wie Energieeffizienz und erneuerbare Energien informiert werden.

Rybatschin ist erst seit Ende Oktober Mitglied der Fraktion Vaterland im Parlament und hat die letzten sieben Jahre bis zum Frühjahr bei der Promeconomservice in Donezk gearbeitet. Die Firma entwickelte Technologien zum Energiesparen. Zusammen mit anderen jungen Abgeordneten hat Rybatschin, Energieingenieur mit einem Master der Sussex Universität in England, nun einen Platz im Ausschuss für Energie und Brennstoff.

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