WirtschaftsWoche Online: Professor Schwerdtfeger, immer öfter wird vor gefährlichen Nebenwirkungen bei Medikamenten gewarnt. Auch die Schadensmeldungen bei Brustimplantaten oder Herzschrittmachern nehmen zu. Wie sicher sind die Patienten noch?
Schwerdtfeger: Grundsätzlich funktioniert das System der Überwachung. Es gibt aber Schwächen und Lücken, die zu Risiken führen können, vor allem bei Medizinprodukten, die in den Körper eingesetzt werden, wie etwa Brustimplantaten oder künstlichen Gelenken.
Zur Person
Schwerdtfeger, 65, leitet seit 2010 das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) in Bonn, Deutschlands oberste Zulassungsbehörde. Der promovierte Biologe und Honorarprofessor begann in der Wissenschaft, unter anderem am Max-Planck-Institut für Hirnforschung. 1992 wechselte er als Referatsleiter ins Bundesgesundheitsministerium. Schwerdtfegers Vertrag endet am 31. Juli; entsprechend offen äußert er sich im Interview. Ein Nachfolger ist noch nicht benannt.
Mehrere Tausend Frauen in Deutschland erhielten von der französischen Firma PIP hergestellte, schadhafte Brustimplantate. Wie lässt sich das verhindern?
Das lässt sich nie ganz verhindern. Hier war kriminelle Energie des Herstellers im Spiel. Immerhin müssen die Überwachungsstellen in Zukunft auch nicht angemeldete Kontrollen der Hersteller durchführen. Bisher war eine 14-tägige vorherige Anmeldung üblich.
Anderes Beispiel: Herzschrittmacher des US-Unternehmens Medtronic senden unvermutet Stromstöße aus. Der CDU-Politiker Wolfgang Bosbach ist deswegen im vergangenen Jahr zusammengebrochen.
Medizinprodukte, die im Körper verbleiben, wie auch Herzschrittmacher, müssten in der klinischen Prüfung intensiver auf ihre Eignung zur Anwendung im menschlichen Körper untersucht werden.
Wie sicher sind künstliche Gelenke?
Sie steigern die Lebensqualität enorm. Mit zunehmender Verweildauer im Körper können zum Beispiel Schwermetalle in den Körper gelangen, oder es bilden sich Entzündungen. Auch hier wissen wir noch zu wenig über das Langzeitverhalten.
Was hält Sie davon ab, genauer hinzusehen? Immerhin Sie sind doch der Präsident des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte, kurz BfArM.
Das Wort Medizinprodukte taucht zwar im Namen auf, aber mit der Prüfung haben wir nur am Rande zu tun. Wir registrieren Fehlermeldungen, nachdem etwa künstliche Hüftgelenke schon auf dem Markt sind. Die Verkehrsfähigkeit wird von Einrichtungen wie dem TÜV bescheinigt. Das Problem ist: Die Überwacher sind auf Aufträge aus der Industrie angewiesen. Es ist nicht auszuschließen, dass in Einzelfällen weniger kritisch geprüft wird, um mehr Aufträge zu erhalten.
Was muss sich ändern?
Wirksamere Kontrollen können nur vom europäischen Gesetzgeber beschlossen werden. Es ist aber sehr schwierig, dafür Mehrheiten zu finden, weil die Mitgliedsländer das Thema als unterschiedlich brisant einschätzen. Das BfArM bewertet sicherheitsbezogene Meldungen und schlägt gegebenenfalls Maßnahmen zur Abhilfe vor. Durchsetzen können solche Maßnahmen aber nur die Behörden der Länder. Deren Betrachtungsweisen sind nicht überall dieselben. Es scheint mir nicht der Intention des Grundgesetzes zu entsprechen, wenn auf diese Weise innerhalb von Deutschland ein unterschiedliches Schutzniveau entsteht.
Arzneien werden strenger kontrolliert. Dennoch treten immer wieder unerwartete Nebenwirkungen auf. Warum?
Das System der Arzneimittelkontrolle funktioniert im Prinzip sehr gut. Aber Sie können nicht jede Nebenwirkung über große klinische Studien erkennen – auch nicht, wenn mehrere Tausend Patienten einbezogen sind. Auch lassen sich nicht alle Wechselwirkungen mit anderen Präparaten ausschließen, bevor ein Medikament auf dem Markt ist. Natürlich haben Unternehmen und Patienten ein berechtigtes Interesse daran, dass neue Mittel schnell auf den Markt kommen. Aber die weisen eben noch wenig Praxiserfahrung auf. Ich selbst würde mich – wenn ich die Wahl zwischen einem älteren und einem neuen Medikament hätte – immer für das ältere entscheiden. Das kann in Wirkungen und Nebenwirkungen besser eingeschätzt werden.
Boehringer Ingelheim hat mit Pradaxa ein Mittel auf den Markt gebracht, das Tausende Schlaganfälle verhindert, aber vereinzelt teils tödliche Blutungen auslösen soll, für die es kein Gegenmittel gibt. Darf so ein Mittel auf den Markt kommen?
Ja, wenn die Zulassungsbehörden eine positive Nutzen-Risiko-Bewertung vorgenommen haben. Der Einsatz neuartiger Arzneimittel muss von den anwendenden Ärzten intensiv beobachtet werden.