Heute hängen wieder schwere graue Wolken über der Großbaustelle von BASF in Chongqing. "Nebelstadt" nennen die Chinesen die mit 30 Millionen Einwohnern größte Metropole des Landes. Nebel, Dunst und Regenwetter gehören hier am Ufer des Flusses Jangtsekiang zum Stadtbild wie die unzähligen Wolkenkratzer. "Wenn es regnet, stehen wir bis zu den Knöcheln im Schlamm", klagt Fritz Misenta, der die Bauarbeiten überwacht. Der Ingenieur aus der Pfalz hat zunächst den Boden verhärten lassen und dann Stahlsäulen fürs Fundament bis zu 20 Meter tief in den Matsch rammen lassen, worauf bald ein Chemiewerk stehen soll.
Auf einer halben Million Quadratmeter - der Fläche von 70 Fußballfeldern - will BASF bis Ende 2014 die Herstellung von Methylendiphenyldiisocyanat starten. Der Klebstoff, kurz MDI, kommt bei Auto- und Textilherstellern zum Einsatz. Die Fabrik soll pro Jahr 400.000 Tonnen produzieren. 860 Millionen Euro steckt der Chemieriese in den Neubau. Und das in einer außerhalb Chinas unbekannten Stadt, die "Dschong-dching" ausgesprochen wird, was für deutsche Ohren nach Kung-Fu-Film klingt.
Das BASF-Werk ist die mit Abstand größte Investition eines deutschen Unternehmens westlich der gut erschlossenen Küstenregionen. Firmen aus anderen Länden wie den USA hatten bereits 2011 mehr als zehn Milliarden Euro in der Stadt Chongqing investiert. Von deutscher Seite hat in der Provinz neben BASF nur Volkswagen in großem Stil investiert. Die Konzerne gehen mutig einen Weg voran, den einzuschlagen sich andere Deutsche bisher kaum trauen: die Expansion in Chinas Wilden Westen. Dort dürfte sich in den kommenden Jahren ein rasantes Wachstum abspielen, wie es in den vergangenen zehn Jahren an der Küste der Fall war.
Taiwaner, Südkoreaner, Japaner und vor allem US-Konzerne haben diesen Trend früher erkannt. Die Provinz Sichuan registrierte 2011 schon 1.171 US-Unternehmen, Chongqing immerhin 517 - darunter Größen wie Hewlett-Packard, die dort seit acht Jahren 30 Millionen Drucker fertigen lassen. Deutsche Unternehmen ballten sich dagegen sehr stark in Küstenregionen und zögerten mit der Expansion ins Landesinnere, sagt Dirk Hällmayr, der am China-Desk der Beratung Deloitte in Frankfurt Investoren berät. Gerade einmal 86 deutsche Unternehmen zählt er in der Provinz Sichuan um die Großstadt Chengdu, nur 37 seien in Chongqing aktiv. In Shanghai sind es 1.434, im gesamten Jangtse-Delta rund 2.100 deutsche Unternehmen.
Laut einer Deloitte-Studie, die der WirtschaftsWoche exklusiv vorliegt, ist Chongqing die größte Boomtown diesseits der Küste, gefolgt von Chengdu, Changsha und Wuhan (siehe Grafik). "Es überrascht, dass nicht mehr deutsche Investoren in diesen Regionen Fuß gefasst haben", wundert sich Hällmayr. Sie könnten stärker von einer steigenden Kaufkraft bei zugleich niedrigen Lohnstückkosten profitieren.
Steigende Kaufkraft
Chinas Provinzstädte stellt man sich irgendwie schäbig vor, mit Menschenmassen, die in heruntergekommenen Betonruinen hausen. In Chongqing sind die Wolkenkratzer modern und so zahlreich, dass sich der Besucher beinahe an Shanghai erinnert fühlt. Die 30-Millionen-Stadt, zusammen mit dem Umland so groß wie ganz Österreich, ist immer noch im Bau. Überall in der hügeligen Innenstadt röhren Presslufthämmer, Baufirmen ziehen neue Häusertürme hoch und schlagen Brücken über die Flüsse Jialing und Jangtsekiang. Mit schmucken Hotels, Einkaufszentren, Bars und Restaurants soll die Megacity für Manager aus dem In- und Ausland attraktiver werden.
Niedrige Personalkosten
Peking wünscht die Wanderung westwärts ins Zentrum. Bereits im Jahr 2000 gab die Regierung die "Go-West-Strategie" aus, mit der die zentralen, unterentwickelten Provinzen Chinas gefördert werden sollen. Im Fokus stehen Sichuan mit der Metropolregion Chengdu, die relativ autonome Stadt Chongqing, weiter nördlich Shaanxi mit der Hauptstadt Xi’an und ganz im Süden Guanxi. Neben der Infrastruktur, die alle Provinzstädte mit Pekinger Hilfe verbessern, locken die Regionen Investoren mit Steuerermäßigungen und Fördermitteln sowie niedrigem Lohnniveau und günstigen Grundstückspreisen.
Die Chancen im Westen seien immens, heißt es auch in einer Studie der Beratung EAC mit Sitz in Shanghai. Demnach sind die Personalkosten in der Region um 30 bis 40 Prozent geringer als an der gut erschlossenen Ostküste. Und während die durchschnittliche Fabrikmiete pro Quadratmeter in Shanghai bei 24,7 Yuan (rund drei Euro) liegt, sind es in Xian 15,8 Yuan und in Chongqing 12,8 Yuan.
Dennoch seien erst vier Prozent der in China registrierten deutschen Unternehmen im Landesinneren unterwegs, so EAC. Zusammen erwirtschaften diese nur vier Prozent ihres China-Umsatzes im Zentrum des Riesenlandes. Die Musik spielt weiter an der Küste, wo die logistische Anbindung durch die Nähe zu den Häfen besser ist. Die Autoren der EAC-Studie warnen ähnlich wie Berater Hällmayr: "Deutsche Unternehmen scheinen den Zug in den Westen zu verpassen."
Für Helmut Schneider gilt das nicht. Der China-Veteran ist Landeschef des Industriegaseproduzenten Messer Griesheim aus der gleichnamigen Stadt in Südhessen. In Chengdu hat er bereits investiert, als die meisten Expats die Namen der Städte in Zentralchina noch nicht richtig aussprechen konnten. "Wir bauen unsere Werke dort, wo die großen Kunden sitzen", erzählt Schneider. Damit meint er weniger deutsche Mittelständler, sondern riesige Lohnfertiger wie Foxconn aus Taiwan, die die Herstellung von Elektronik zuallererst ins günstige Landesinnere verlegt haben.
Schneider startete bereits Mitte der Neunzigerjahre mit der ersten Fabrik in Chengdu, kurz darauf folgte eine in Chongqing. Heute ist Messer Griesheim mit zehn Standorten in drei der Westprovinzen präsent und beliefert Apple-Großlieferant Foxconn mit Stickstoff und Sauerstoff - über Pipelines und in Flaschen. Solche Gase kommen als Hilfsstoffe etwa beim Löten zum Einsatz.
Zulieferer folgen
Für China-Kenner Schneider ist klar: "Sichuan, Chongqing und die Gegenden weiter nördlich befinden sich in der Frühphase ihres Booms." Je stärker die Kaufkraft steige, desto rasanter würden sich Regionen in der Mitte Chinas entwickeln. Unter deutschen Mittelständlern wird er wohl bald nicht mehr der bunte Vogel sein, der in die Provinz ausfliegt: "Wenn mehr deutsche Großkonzerne ihre Werke in der Landesmitte eröffnen, werden ihnen auch mittelständische Zulieferer folgen."
Gerade die halten sich zurück. Laut einer Umfrage der deutschen Auslandshandelskammer (AHK) Shanghai trauen zwar 65 Prozent der Kammer-Mitglieder dem Westen bis 2015 die größten Wachstumschancen zu. Trotzdem plant der Großteil seine Investitionen an der Ostküste. Nur 9,1 Prozent wollen Werke in Sichuan und nur 5,4 Prozent in Chongqing bauen.
Volle Auftragsbücher
Ein Grund für die Zurückhaltung: Die relativ niedrigen Lohnkosten seien für die meisten deutschen Unternehmer kein Argument für eine Ansiedlung, sagt Astrid Schröter, die bei der Kammer den Kontakt zu den Mitgliedern pflegt. Vielmehr legten Mittelständler, die das Gros der AHK-Mitglieder stellen, eher Wert auf Kundennähe und Infrastruktur. Die meisten Kunden haben die Zulieferer weiterhin im Speckgürtel von Shanghai.
Hinzu kommt die Exotik: In Chinas Mitte gibt es zwar Starbucks-Filialen, Adidas-Läden und schöne Hotelbars, aber zum Beispiel keine deutschen Schulen. Ins Zentrum gehe ein bestimmter Managertyp, sagt Handelskammer-Frau Schröter: "Einer mit Pioniergeist und ausgeprägter China-Erfahrung."
Diese Beschreibung passt auf Wolfgang Beuck. Er ist Geschäftsführer des oberfränkischen Autozulieferers Brose in Chongqing, der dort seit Kurzem Fensterheber und Türschlösser herstellt. Der Weg ins Werk führt über eine neu gebaute Autobahn durch hügelige Landschaften. Links und rechts der Schnellstraße pflanzen Bauern Kürbisse, Chilis und Pfeffer.
Beuck ist der einzige Ausländer in Taizi, einer Industriezone 30 Kilometer westlich von Chongqing. Begeistert führt der Manager seinen Besucher durch das neue Werk. Die Halle ist großzügig und sauber. In den Büroräumen riecht es nach Plastik, kleine Zimmerpflanzen sollen den Geruch vertreiben - ein Tipp seiner chinesischen Mitarbeiter. Seit März erst laufen die Bänder: Mit 140 Angestellten fertigen die Coburger für Volvo, VW und Ford, die große Fabriken im Umkreis von Chongqing betreiben.
"Es ist hier viel leichter, qualifiziertes Personal zu finden, als an der Ostküste", sagt Beuck. Dort haben deutsche Unternehmen mit jährlichen Fluktuationsraten im zweistelligen Bereich zu kämpfen. Gerade erst angelernte Arbeiter wechseln zur Konkurrenz, weil sie dort zehn Prozent mehr Lohn bekommen.
Sichuan und Chongqing geht es immer besser. Noch vor wenigen Jahren verließen junge Leute die bevölkerungsreiche, aber kaum entwickelte Heimat, um an der Ostküste Arbeit zu finden. Jetzt kehren die gut ausgebildeten Fachkräfte zurück. Einer von ihnen ist Frank Fang. Der 30-jährige IT-Experte richtet die Server in der neuen Brose-Fabrik ein: "Ich habe meine Heimat vor acht Jahren verlassen, weil es kaum gute Jobs gab. Jetzt ist das anders." Vor Ort kann sich Fang jetzt um seine Eltern kümmern.
Knietief durch den Matsch
Zulieferer Brose hat volle Auftragsbücher. 60 Kilometer nördlich des Werks baut US-Autohersteller Ford sein drittes Werk in China. Es wird für Ford der größte Standort außerhalb Nordamerikas. "Der Kunde verlangt, dass die Produkte zeitnah geliefert werden", sagt Fabrikchef Beuck. Das könne wegen der chronisch verstopften Straßen manchmal ein Problem werden. Bald aber soll eine neue Brücke über den Jangtsekiang den Verkehr entspannen.
Beuck kennt die bisherigen Boomregionen Chinas. Der Ingenieur hat in Nanjing und Wuxi an der Küste gearbeitet. "Chongqing steht der Küstenregion in nichts nach", sagt er. Die Infrastruktur sei mittlerweile so gut wie an der Ostküste, viele Arbeiter nicht minder gut ausgebildet. "Nur in Deutschland hat kaum einer den Namen je gehört."
Beuck ist freiwillig in die Provinz gezogen - was für die großen Autobauer nicht unbedingt gilt. Auf sie übt die Pekinger Regierung Druck aus, damit sie in der Provinz investieren. So baut Volkswagen sogar im weit abgelegenen und tatsächlich gering entwickelten Urumqui eine Fabrik. Eine Nachfrage für VW-Autos gibt es im landwirtschaftlich geprägten Nordwesten Chinas kaum. Aber China ist für die Wolfsburger ein zu wichtiger Markt, als dass man Pekings Wünsche ablehnen könnte.
Das Kalkül der Regierung: Fertigt ein Konzern in der Region, ziehen dessen Zulieferer nach. Peking hofft, dass so neue Jobs entstehen, die Kaufkraft steigt und damit der Wohlstand. Über die Entwicklung der Provinz will die Politik die gesellschaftliche Spannung entladen, denn noch immer sind die Unterschiede zwischen der reichen Küste und der armen Provinz sowie zwischen Stadt und Land gewaltig.
Die Strategie kann funktionieren. Großprojekte wie die Fabriken von Ford oder BASF sind keine Seltenheit mehr in Chinas Landesinneren. Zumal sich etwa die Ludwigshafener ihrer Abnehmer sicher sein können: Mit Hewlett-Packard und Foxconn sitzen zwei Elektronikriesen im Umkreis, die Unmengen an Klebstoff brauchen. Aber erst muss die Fabrik endlich produzieren.
Bis dahin ist der Weg noch weit. Seit gut einem Jahr dirigiert Bauleiter Misenta die größte Baustelle der "Nebelstadt", bis Ende 2014 wird er noch zu tun haben. Immerhin hat er bei den meisten Gebäuden Richtfest gefeiert - wenn wenigstens das Dach drauf ist, muss er nicht mehr jeden Tag knietief durch den Matsch waten.