Contergan-Debatte "Wir können es nie allen recht machen"

Der Chef des Pharmaunternehmens Grünenthal, Harald Stock, lehnt eine weiter reichende Entschuldigung bei Contergan-Geschädigten ab, aber kündigt zugleich neue Hilfen an.

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Harald Stock Quelle: Frank Reinhold für WirtschaftsWoche

WirtschaftsWoche: Herr Stock, Sie haben sich vor einigen Tagen dafür entschuldigt, dass Grünenthal 50 Jahre lang gegenüber den Contergan-Geschädigten geschwiegen hat. Wann entschuldigen Sie sich endlich auch dafür, dass Grünenthal das Medikament überhaupt auf den Markt gebracht und dann nicht früh genug gestoppt hat?

Harald Stock: Ich habe am Wochenende an die 300 E-Mails, Briefe, SMS und Anrufe bekommen, vorwiegend von Contergan-Geschädigten. Die allermeisten fanden unseren Schritt überfällig und haben sich dafür bedankt, dass wir um Entschuldigung gebeten haben. Ich persönlich bin schon seit drei Jahren, als ich hier anfing, der Meinung, dass Grünenthal diesen Weg gehen sollte, den wir jetzt auch vollzogen haben.

Ist die Entschuldigung dafür, dass Grünenthal 50 Jahre geschwiegen hat, der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich Management, Gesellschafter und Rechtsabteilung einigen konnten?

Wir haben über die Jahre gelernt, dass es dieses intensiven Dialogs bedarf, um Betroffene bedarfsgerecht zu unterstützen.

Daten und Fakten zu Grünenthal

Viele Geschädigten-Verbände klagen, dass Ihre Entschuldigung zu kurz ausgefallen ist. Werden Sie noch nachlegen?

Nein. Grünenthal hat bei der Einführung von Contergan vor mehr als 50 Jahren nach dem damaligen Stand von Wissenschaft, Zulassungspraxis und Recht verantwortungsvoll gehandelt. Dass unsere Entschuldigung nicht überall positiv aufgenommen wurde, liegt in der hohen Emotionalität begründet. Wir werden es nie allen recht machen können. Und wir können uns nur für etwas entschuldigen, wenn wir glauben, auch schuldig zu sein beziehungsweise bei der Entwicklung und Vermarktung von Contergan nach damaligem Ermessen fehlerhaft gehandelt zu haben.

Es gab damals doch Tests, um die fruchtschädigende Wirkung nachzuweisen.

Das stimmt nicht. Es gibt bis heute keine Tests, die die fruchtschädigende Wirkung von Arzneimitteln verlässlich nachweisen. Es gab auch keine geeigneten Labortierversuche, die wir hätten anwenden können. Es hat sich erst nach der Tragödie herausgestellt, dass nur durch Tests an dem weißen Neuseeländer Kaninchen eine fruchtschädigende Wirkung des Wirkstoffs Thalidomid nachgewiesen werden konnte.

Das sehen Kläger in Schadensersatzprozessen etwa in den USA und Australien gegen Grünenthal anders. Sie haben doch nur Angst, Millionen zahlen zu müssen, wenn Sie sich entschuldigen.

Zu den laufenden Verfahren möchte ich nichts sagen.

Fehlendes Taktgefühl

Denkmal für Conterganopfer Quelle: dpa

Nein. Man muss auch bedenken, dass an solchen Vergleichen angelsächsische Anwaltskanzleien, die etwa ein Drittel der Vergleichssumme kassieren, kräftig verdienen. Ich möchte lieber nach vorne schauen. Es geht darum, die Situation der Contergan-Geschädigten zu verbessern. Vielen Opfern, die heute um die 50 Jahre alt sind, läuft die Zeit davon. Sie leiden unter starken Schmerzen, da sie wegen der Fehlbildungen an Armen und Beinen andere Gelenke übermäßig belastet haben. Daher hat Grünenthal vor etwa einem Jahr einen Härtefallfonds aufgelegt, um schwer Geschädigten zu helfen, wenn Kranken- oder Rentenkassen nicht mehr zahlen.

In Deutschland leben noch etwa 2400 Contergan-Geschädigte. Wie viele davon profitieren denn von Ihrem Fonds?

Wir haben bisher rund 100 Anträge erhalten, etwa 70 Betroffenen konnten wir bereits helfen. Mit unserem Geld werden Autos behindertengerecht ausgestattet, Hilfsmittel gekauft oder Bäder umgebaut.

Wie viel Geld zahlt Grünenthal dafür? Gibt es eine Höchstgrenze für Zahlungen?

Wir haben mit den Antragstellern vereinbart, dazu nichts zu sagen.

Die Summe scheint ja nicht hoch zu sein.

Bitte respektieren Sie unsere Entscheidung. Eine Höchstgrenze pro Fall gibt es nicht. Wir wollen aber die Zahl der Hilfsmaßnahmen und deren finanziellen Umfang erhöhen. Dazu planen wir, zusammen mit unseren Gesellschaftern, der Grünenthal-Eigentümerfamilie Wirtz, eine neue Stiftung für Contergan-Geschädigte aufzubauen. Sowohl Grünenthal als auch die Eigentümerfamilie werden dort Gelder zustiften können. Über finanzielle Details möchte ich jedoch auch hier nichts sagen.

Die größten Arzneimittel-Skandale
Contergan
Logo des Pharmaherstellers Wyeth
Packung des Cholesterinsenker Lipobay
Schmerztabletten Vioxx
Packung des Diabetesmittels Avandia

Fehlt Grünenthal im Umgang mit Betroffenen zuweilen das Taktgefühl? Bei dem Contergan-geschädigten Bassbariton Thomas Quasthoff hat das Unternehmen mal angefragt, ob er auf der Weihnachtsfeier singen wolle. Quasthoff war empört.

Das muss vor meiner Zeit gewesen sein. Ich hätte diese Anfrage nicht gestellt.

2012 erlöst Grünenthal 160 Millionen Euro Sondergewinn aus dem Verkauf des Mittel- und Osteuropageschäfts an das Pharmaunternehmen Stada. Wie viel davon fließt in Stiftung und Fonds?

Davon zahlen wir einiges in den Härtefallfonds ein. Als CEO darf ich aber nicht nur die Contergan-Geschädigten im Blick haben, sondern muss auch die Interessen unserer Patienten, Gesellschafter und Mitarbeiter berücksichtigen.

Es ist kein weiterer Personalabbau geplant. Wir haben bereits in den vergangenen zwei Jahren Stellen abgebaut und sind ohne Kündigungen ausgekommen.

Langes Polieren

Forscher Grünenthal

Sie haben Grünenthal auf Schmerzmittel konzentriert und Randgeschäfte verkauft. Jetzt wollen Sie zukaufen; dafür sind 800 Millionen Euro reserviert. Wann kommen denn die angekündigten Akquisitionen?

Wir wollen vor allem im Wachstumsmarkt Lateinamerika zukaufen, insbesondere in Brasilien. Dort haben wir kürzlich mit dem US-Unternehmen Horizon eine Lizenzvereinbarung für ein Schmerzprodukt in Lateinamerika abgeschlossen. Unseren Umsatzanteil in Lateinamerika möchten wir von derzeit 15 Prozent auf 40 Prozent im Jahr 2015 steigern. Wir verfolgen dort drei bis vier Zukäufe, einer wird sich noch dieses Jahr realisieren lassen. Bei den anderen Projekten laufen die Verhandlungen etwas zäh.

Bei vielen Pharmakonzernen brechen die Gewinne ein, viele Medikamente schaffen es nicht auf den Markt. Auch bei Ihnen?

Das kann ich für Grünenthal nicht bestätigen. Wir wachsen stärker als der weltweite Pharmamarkt mit seinen zwei bis drei Prozent. Im ersten Halbjahr 2012 haben wir im Kerngeschäft Schmerz im Vergleich zum Vorjahr beim Umsatz um neun Prozent auf 468 Millionen Euro zugelegt. Für das Gesamtjahr 2012 nähern wir uns der Milliardengrenze. Den operativen Gewinn vor Zinsen, Steuern und Ab-schreibungen hat Grünenthal im ersten Halbjahr von 17 auf 41 Millionen Euro gesteigert.

Das macht eine Gewinnmarge von unter zehn Prozent. Den Eigentümern haben Sie 10 bis 20 Prozent versprochen.

Ich bin optimistisch, dass wir im Gesamtjahr eine operative Marge von etwa zehn Prozent erreichen. Wir geben allerdings für Forschung und Entwicklung 25 bis 26 Prozent unseres Umsatzes aus. Bei vielen großen Pharmakonzernen liegt die Quote lediglich bei 15 bis 16 Prozent.

Rechnet sich der höhere Aufwand denn?

Keiner unserer Entwicklungskandidaten ist bisher gescheitert. Viele Wettbewerber wollen mögliche Flops früh stoppen. Wir glauben eher, dass sich Hartnäckigkeit auszahlt und dass oft durch langes Polieren Diamanten entstehen können.

Bei Ihrem Schmerzmittel Palexia leiden einige Patienten unter Nebenwirkungen wie Apathie und psychischen Störungen. Ist es trotzdem wirtschaftlich erfolgreich?

Palexia wirkt immer noch besser als alle anderen Medikamente seiner Klasse. Zusammen mit unserem Partner Johnson & Johnson, der den Wirkstoff Tapentadol unter dem Markennamen Nucynta in den USA vertreibt, werden wir 2012 einen weltweiten Umsatz von etwa 500 Millionen Dollar schaffen. Unser Ziel in einigen Jahren liegt bei einer Milliarde Euro.

An welchen besseren Arzneien für die Zukunft polieren Ihre Forscher denn gerade?

Der Anspruch ist, alle fünf Jahre ein neues Schmerzmedikament auf den Markt zu bringen. Unsere Forscher arbeiten vor allem an Schmerzmitteln, die peripher wirken – also nur dort ansetzen, wo der Schmerz stattfindet, nämlich in den Nervenbahnen. Heutige Schmerzmittel setzen hauptsächlich zentral im Gehirn an. Daher wirken viele oft nur bei 50 Prozent der Patienten und zeigen die typischen Nebenwirkungen. Unsere ersten peripher wirkenden Schmerzmedikamente könnten 2017 oder 2018 auf den Markt kommen.

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