Drogen-Epidemie in den USA Kalter Entzug für die Pharma-Riesen

Zehntausende Tote – zahllose Abhängige: Die Pharma-Konzerne geraten wegen der Drogen-Epidemie in den USA unter Druck. Sie sollen süchtig machende Medikamente verharmlost haben. Präsident Trump reagiert nur halbherzig.

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60 000 Menschen sind im vergangenen Jahr in den USA an Opioid-haltigen Drogen oder Schmerzmitteln gestorben. Quelle: Reuters

New York Lindsey Rigney war 15, als sie bei einem Autounfall verletzt wurde. Gegen die Schmerzen verschrieben die Ärzte ihr Opioid-haltige Medikamente. Die waren so stark, dass die Teenagerin abhängig wurde. Als Lindsey keine Rezepte mehr vom Arzt bekam, stieg sie auf Heroin um, das in den USA billig zu kaufen ist. Um davon wegzukommen, ging sie später in die Entzugsklinik. Doch 24 Stunden nach ihrer Rückkehr nach Hause nahm Lindsey wieder Heroin. Eine Überdosis. Die Eltern konnten sie zwar wiederbeleben und ins Krankenhaus bringen. Aber wenige Stunden nach der Entlassung starb sie. Da war Lindsey 21.

Geschichten wie die von Lindsey sind in den USA alltäglich. Allein im vergangenen Jahr sind rund 60 000 Menschen an Opioid-haltigen Drogen oder Schmerzmitteln gestorben – sechs Mal so viele wie 1990.

US-Präsident Donald Trump hat die Opioid-Epidemie am Donnerstag zum nationalen Gesundheits-Notstand erklärt. Vor allem in ländlichen Gegenden und in der weißen Mittel- und Unterschicht gibt es kaum eine Familie, die keinen Drogen- oder Arzneimittelabhängigen in ihrem Umfeld kennt.

„Die Zahl der Drogentoten durch verschreibungspflichtige Schmerzmittel hat die durch Kokain und Heroin seit 2002 überholt“, schreibt die US-Behörde zur Drogenbekämpfung DEA in ihrer jüngsten Studie diese Woche. „Verschreibungspflichtige Schmerzmittel werden von mehr Menschen genutzt als Kokain, Heroin, MDMA, Methamphetamine und PCP zusammen“, stellt die Studie fest.

Viele Familienangehörige und auch Staatsanwälte sehen die Verantwortung bei den Pharma-Firmen und anderen Spielern im Gesundheitssystem. Zu leicht werden ihrer Ansicht nach in den USA starke Schmerzmittel verschrieben, die süchtig machen: Bei chronischen Schmerzen ebenso wie nach dem Zahnarztbesuch, und das oft ohne jede Warnung.

Fast jeder fünfte Amerikaner hat im vergangenen Jahr Opioid-haltige Mittel verschrieben bekommen. Viele Menschen gewöhnen sich an die Medizin und wenn die Ärzte sie nicht mehr verschreiben, besorgen sie sich diese illegal. Oder sie steigen auf Heroin um, was oft günstiger ist. Vier von fünf Heroin-Nutzern geben an, zuvor verschreibungspflichtige Opioid-haltige Schmerzmittel genommen zu haben. So wie Lindsey.

Zehn Staaten und Dutzende Gemeinden haben bereits Pharma-Unternehmen wie Purdue, Endo, Johnson & Johnson und Allergan verklagt. Sie werfen ihnen vor, die Gefahr der Abhängigkeit heruntergespielt zu haben. „Die Beweise werden zeigen, dass diese Unternehmen Abertausende Menschen in Ohio – unsere Freuende, unsere Verwandten, unsere Mitarbeiter, unsere Kinder – abhängig gemacht haben von Opioide-haltigen Schmerzmitteln, was zu oft zum Gebrauch billigerer Alternativen wie Heroin oder synthetischen Opioiden geführt hat“, ist etwa der Generalstaatsanwalt von Ohio Mike DeWine überzeugt.


Skrupellose Manager, korrupte Ärzte

Die Pharma-Hersteller hätten die Ärzte glauben lassen, „dass Opioide nicht süchtig machen, dass Sucht einfach zu überstehen ist oder das Sucht sogar behandelt werden kann, indem man mehr Opioide nimmt“. De Wine ist überzeugt, dass die Unternehmen wussten, dass sie die Unwahrheit sagten „und sie haben es getan, um den Umsatz zu steigern“, sagt er

Gegen PurduePharma, den Produzenten des potenten Schmerzmittel OxyContin, ermittelt seit Mittwoch auch die Bundesstaatsanwaltschaft. Mehr als 40 Staaten haben sich zudem in einer Untersuchung zusammengetan, um herauszufinden, wer in dem Netz von Pharma, Ärzten und Versicherern schuld ist an der jüngsten Opioide-Epidemie in den USA.

„Seit 1999 haben sich die Rezepte für verschreibungspflichtige Schmerzmittel mit Opioden verdreifacht. Einige Gegenden haben mehr Rezepte als Einwohner. Das kann nicht sein !“, findet der New Yorker General-Staatsanwalt Eric Schneidermann, der die Untersuchung koordiniert.  

Auch bekannte Juristen aus den Zeiten der Tabak-Klagen melden sich zu Wort. Einer davon ist Mike Moore. Der heute pensionierte 65-Jährige Staatsanwalt hat einst die Tabak-Industrie in die Knie gezwungen. Mit seinen Klagen gegen Big Tobacco erreichte Moore 1998 eine 246 Milliarden Dollar schwere Einigung gegen die Zigarettenhersteller.

Bis heute ist das die höchste Summe, die Unternehmen je gezahlt haben. Sein Siegeszug brachte ihm sogar eine Hollywood-Rolle ein: In dem Film „The Insider“ mit Russel Crowe und Al Pacino über einen Whistleblower in der Tabak-Industrie spielte er sich selbst.

Diesmal nimmt es der pensionierte Staatsanwalt mit der Pharma-Industrie auf. Er unterstützt die Klagen gegen die Medikamente-Hersteller. Denn eins hat er gelernt in seiner Zeit als Staatsanwalt: „Klagen sind ein grobes Instrument. Das ist kein OP-Werkzeug“, räumt er in einem Interview mit „Business Week“ ein. „Aber sie erzeugen schneller Interesse als alles, was ich je gesehen habe“. Diesmal ist Moore auch auf einem persönlichen Kreuzzug: Sein Neffe – für den Moore eine Vaterfigur ist – ist ebenfalls abhängig von Schmerzmitteln.

Für Purdue Pharma ist es nicht das erste Mal, dass es sich wegen OxyContin verteidigen muss. 2007 haben sich das Unternehmen und drei Top-Manager aus Connecticut für schuldig erklärt, ihre Vertreter so trainiert zu haben, dass sie die Risiken von OxyContin gegenüber Ärzten herunterspielten. Eine Zahlung von 630 Millionen Dollar war das Ergebnis. Ins Gefängnis mussten die Manager zwar nicht. Aber sie leisteten Sozialarbeit in einer Entzugsklinik. Das Unternehmen teilte diese Woche mit, es werde mit den Staatsanwälten bei den neuen Ermittlungen zusammenarbeiten.


Trump ruft den Notstand aus – ein bisschen

Es war vor allem Purdue, das in den 90er Jahren in der Welt der Medizin eine Debatte über den Umgang mit Schmerzmittel angestoßen hat, um dem eigenen Medikament  OxyContin einen größeren Markt zu eröffnen. Mit durchaus umstrittenen Studien hat das Unternehmen den neuen Schmerztherapien den Weg bereitet. Es ging vor allem darum, Schmerzen nicht mehr in erster Linie als Symptome zu interpretieren, deren Ursache bekämpft werden muss, sondern Schmerzen als solche zu behandeln.

Wirtschaftlich ging die Rechnung auf: 1996 setzte Purdue gerade einmal 42 Millionen mit OxyContin um. 2016 waren es nach einer Schätzung des Broker-Hauses Sanford Bernstein 1,3 Milliarden Dollar. Der neue Ansatz hat auch anderen Herstellern von Opioide-haltigen Mitteln geholfen. Allein im vergangenen Jahr sind jedem fünften Amerikaner solche Schmerzmedikamente verschrieben worden. Also nicht nur nach schweren OPs, sondern auch nach dem Zahnarztbesuch ebenso wie bei Rücken- oder Kopfschmerzen.

Auch Versicherern wird vorgeworfen, die süchtig machenden Medikamente in ihren Policen zu bevorzugen, weil sie günstiger sind als weniger gefährliche Schmerzmittel. Hinzu kommen korrupte Ärzte, wie der jüngste Fall in Rhode Island zeigt: Dort hat diese Woche ein Arzt zugegeben, 188 000 Dollar von dem Hersteller Insys angenommen zu haben. Im Gegenzug soll er Fentanyl-Spray gegen starke Schmerzen bei Krebs auch Patienten verschrieben haben, die gar nicht krebskrank waren. Fentanyl ist ein synthetisches Opioid, das hundertmal so stark wie Morphium wirkt. Der Gründer von Insys, John Kapoor, ist am Donnerstag Abend wegen Bestechung von Ärzten verhaftet worden.

Den Herstellern der Schmerzmittel stehen angesichts der vielen Klagen und Ermittlungen schwere Zeiten bevor. Nun steigt auch noch der politische Druck. Da auch unter Trump-Wählern viele Menschen betroffen sind, hat das Thema auch bei ihm Priorität. Sogar die First Lady Melania Trump nahm sich jüngst dem Thema an und ließ sich vor einigen Wochen In einer Klinik für Neugeborene von abhängigen Müttern fotografieren.

Trump hat am Donnerstag den gesundheitlichen Notstand für die Opiod-Epidemie ausgerufen. Damit hat er das Thema medienwirksam ins Rampenlicht gestellt, ohne neue Gelder freimachen zu müssen. Hätte er den generellen – und nicht nur den gesundheitlichen - Notstand ausgerufen, hätte er auch Mittel bereit stellen müssen. So fließen wohl innerhalb des Gesundheitsministeriums Mittel der Aids-Bekämpfung der Sucht-Bekämpfung zu.

Für Lindsey ist es ohnehin zu spät.

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