Gefälschte Medikamente Apotheken im Visier der Pillen-Mafia

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Auf Echtheit überprüft

4500 Einwohner zählt der südostenglische Küstenort Sandwich – angeblich wurde dort tatsächlich vor gut 250 Jahren die gleichnamige belegte Stulle aus zwei Brotscheiben erfunden. Zuletzt berühmt geworden ist der Ort aber durch die flachen, braunen Laborgebäude ein wenig außerhalb des Ortskerns. Vor gut 20 Jahren entdeckten dort Pfizer-Forscher die wundersame Wirkung einer Substanz, mit der sie eigentlich ein Herzmittel gefunden zu haben glaubten. Doch als die männlichen Probe-Patienten aus dem Queen Victoria Memorial Hospital im nahe gelegenen Herne Bay die überzähligen Pillen nicht mehr zurückgeben wollten, ahnten sie, dass sie einen Coup gelandet hatten. Ein Potenzmittel war entdeckt, das später als Viagra um die Welt gehen sollte.

Die Viagra-Pillen, die heute in Sandwich durch die Labors 2–09 gehen, sind nicht für Patienten bestimmt, sondern werden auf ihre Echtheit überprüft. Wendy Greenall und ihre drei Mitarbeiterinnen überprüfen hier, im Gebäude 510, jährlich gut 1600 Pakete mit Viagra und anderen gängigen Medikamenten, die Ermittler, Zollbeamte oder hauseigene Sicherheitsexperten als verdächtig einstuften. Die Pillen stammen aus Deutschland, anderen europäischen Ländern, Afrika und dem Nahen Osten, aus Apotheken und von Online-Versendern.

„Etwa 90 Prozent der von uns untersuchten Pillen sind gefälscht“, sagt Greenall. Manchmal reicht der Chemikerin, die seit etwa zehn Jahren für Pfizer arbeitet, nur ein Blick, um eine Fälschung zu erkennen: Auf einer der Packungen des Cholesterinsenkers Lipitor – ebenfalls ein beliebtes Mittel für Fälscher – ist die Schrift verkehrt herum aufgedruckt, die Falz ist beschädigt und eine Codenummer falsch.

Meist ist jedoch eine aufwendigere Untersuchung nötig. Eine Mitarbeiterin Greenalls hat eben eine Lipitor-Pille pulverisiert. Ein Lasergerät untersucht die Substanz. Auf dem Monitor entstehen zwei Kurven, die an Aktiencharts erinnern. Die schwarze Kurve zeigt die Zusammensetzung des Originalpräparats, die rote die Mixtur der untersuchten Pille. Beide Kurven decken sich nicht, die Tablette scheint gefälscht zu sein. Genauere Ergebnisse liefern die beiden Chromatographen im Gang gegenüber. Das kühlschrankgroße Gerät kann die Bestandteile der verflüssigten Substanz erkennen. Das Ergebnis ist klar: Der vermeintliche Wirkstoff besteht aus weißem Puder.

Die Hits in der Hausapotheke
Platz 10: Grippostad von Stada Quelle: dpa
Platz 9: Aspirin plus C Quelle: dpa
Platz 8: Dolormin Quelle: PR
Platz 7: ACC Quelle: dpa
Platz 6: Aspirin Quelle: dpa
Platz 5: Thomapyrin Quelle: dpa
Platz 4: Bepanthen Wund- und Heilsalbe Quelle: dpa

9,4 Millionen gefälschte Medikamente

Chemikerin Greenall sitzt auf einem Podium zum Thema Medikamenten-Fälschungen in einem Londoner Hotel und zieht ein bitteres Fazit: „In den vergangenen Jahren scheint sich bei der Bekämpfung der Arzneimittelkriminalität nichts getan zu haben“, sagt sie an die Adresse der anwesenden Sicherheitsexperten. Besonders die Strafverfolger zeigten keine wirkliche Härte gegenüber den Kriminellen.

Beispiel: die „Operation Pangea“ (altgriechisch etwa für „ganze Erde“), die vom 13. bis zum 20. Mai dieses Jahres lief. Zoll- und Polizeibehörden aus über 100 Staaten fielen, koordiniert von Interpol, bei organisierten Pillenfälschern ein. Der Erfolg der Razzien war beeindruckend: 9,4 Millionen gefälschte Medikamente und 20.000 verdächtige Sendungen wurden sichergestellt. In Deutschland konfiszierten die Strafverfolger an den Zoll-Stützpunkten Frankfurt und Niederaula in Hessen 816 fragwürdige Briefe und Pakete.

Fälschungssichere Technik hilft nur bedingt

Doch den Unternehmen reicht das nicht. In Zeiten zunehmender Bedrohung durch gefälschte Medikamente müssten die Kapazitäten der Strafverfolger eigentlich ausgebaut werden. In der Praxis klagten die Ermittlungsbehörden jedoch über zu wenig Personal. „Pangea müsste eigentlich das ganze Jahr laufen“, so ein Insider.

Auch fälschungssichere Technik hilft nur bedingt im Kampf gegen die Pillen-Mafia. Zwar soll es von 2017 an europaweit möglich sein, auf jede Packung eine eigene Seriennummer und einen eigenen Code aufzudrucken. Das Verfahren heißt „Secur Pharm“. Mit seiner Hilfe kann ein Apotheker, bevor er dem Patienten die Ware aushändigt, den Code auf der Packung einscannen und blitzschnell überprüfen, ob das Medikament tatsächlich vom angegebenen Hersteller stammt.

50 Prozent der online erworbenen Arzneimittel gefälscht

Die Idee stammt von Pharma- und Apothekenverbänden, ist aber kein Allheilmittel. Denn Manipulationen am Medikament selbst lassen sich mit „Secur Pharm“ nicht bekämpfen. Hinzu kommt, dass jeder Hersteller an eigenen technischen Lösungen arbeitet. Und gegen dubiose Pillen aus dem Internet hilft das Verfahren erst recht nicht, da niemand vor den Augen des Patienten den Code einscannt.

Pfizer versucht deshalb mit Schockvideos, die Verbraucher zumindest von dubiosen Internet-Apotheken abzuhalten. Denn nach einer Analyse der Weltgesundheitsorganisation WHO sind 50 Prozent der online erworbenen Arzneimittel gefälscht. So hat der US-Pharmariese ein Filmchen auf YouTube gestellt, dass Patienten mithilfe einer Ratte von dem Online-Erwerb von Medikamenten abschrecken soll: Gerade aufgestanden, schluckt ein attraktiver Mann, vielleicht Mitte 30, ein paar Pillen aus einer Schachtel ohne Aufdruck des Herstellers. Kurz darauf muss er würgen. Aus seinem Mund quillt eine Ratte – zuerst der Schwanz, ganz am Ende der Kopf. Grund für den Ekel-Spot: Gefälschte Medikamente enthielten laut Pfizer auch schon Rattengift.

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