Handelsblatt Industriegipfel 2016 „Wir können auch Wandel“

Beim zweiten Handelsblatt Industriegipfel zeigten sich Topmanager überzeugt: Deutschland wird die Chancen der Digitalisierung nutzen. Voraussetzung sei, alle Mitarbeiter von der digitalen Transformation zu überzeugen.

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Über die Industrie 4.0 als Chance diskutierte Handelsblatt-Chefredakteur Sven Afhüppe mit Tanja Rückert, stellv. Innovationschefin bei SAP, und Heinrich Hiesinger, Vorstandschef von Thyssen-Krupp (v. l.). Quelle: Marc-Steffen Unger für Handelsblatt

Stuttgart Als sie mit Tesla über die Zulieferung von Autokomponenten verhandelten, erzählt Thyssen-Krupp-Chef Heinrich Hiesinger, „da stand unser Unternehmen vor gehörigen Herausforderungen“. Nicht, weil die technischen Anforderungen so groß gewesen seien. Tesla habe eine hohe Geschwindigkeit der Entscheidung gefordert. „Wir mussten schneller antworten, als unsere Prozesse es eigentlich zulassen“, erzählte der Thyssen-Krupp-Chef.

Neue, schnelle Welt trifft alte, behäbige Welt: Das traditionsreiche Thyssen-Krupp hat den Auftrag des voll digitalisierten, automobilen Jünglings aus dem Silicon Valley bekommen, weil es sich auf die Eile einließ. Die kleine Anekdote, die Hiesinger am Montag beim zweiten Industriegipfel des Handelsblatts in Stuttgart zum Besten gab, ist ein gutes Beispiel, wie die deutsche Industrie zum Wandel ermahnt und ermuntert wird. Digitalisierung, Industrie 4.0 sind keine Schlagwörter mehr, sie sind Wirklichkeit – doch es ist noch ein weiter Weg zu gehen. „Viele amerikanische Unternehmen wie Google, Facebook oder Amazon haben eine digitale DNA. Unsere Unternehmen sind analog geboren und müssen durch die digitale Transformation“, erklärte Thorsten Dirks, Vorstandschef von Telefónica Deutschland, dem größten Mobilfunkanbieter des Landes.

Doch die deutsche Industrie habe Erfahrung mit Veränderungen. „Traditionsunternehmen wie Bosch oder auch Thyssen-Krupp sehen heute ganz anders aus als noch vor 20 oder 30 Jahren“, sagte Hiesinger. „Wir können auch Wandel“, betonte er, die entscheidende Frage sei nur: „Können wir den Wandel auch in der dafür nötigen Geschwindigkeit?“

Die Antwort der Topmanager auf dem Podium des Handelsblatts: Wir können! Und die Chancen sind enorm. Die Unternehmensberatung Roland Berger und der BDI haben ausgerechnet, dass die Digitalisierung den Deutschen in der kommenden Dekade eine zusätzliche Wertschöpfung von 425 Milliarden Euro bescheren wird. „Wenn wir es schaffen, die neuen Techniken mit unserer Stärke in der Industrie zu vereinen, dann sind wir in Deutschland fast unschlagbar“, sagte Tanja Rückert, stellvertretende Produkt- und Innovationschefin des Softwarekonzerns SAP. „Ich bin fest davon überzeugt, dass auch diese industrielle Revolution mehr Wohlstand und mehr Arbeitsplätze schaffen wird“, sagte Thorsten Dirks, Chef von Telefónica Deutschland.

Klaus Helmrich, Industrie-Vorstand bei Siemens, zitierte in seiner Präsentation den Computerhersteller-Gründer Michael Dell: „Mit Daten wird die nächste Billion Dollar verdient – für unsere Kunden und unsere Industrien.“ Auch für deutsche Unternehmen heißt das: „Es gibt ganz viele Daten, die es einfach zu entdecken gilt“, sagte Helmrich. Dafür hat zum Beispiel Siemens seine offene Industrie-Plattform „Mindsphere“ entwickelt, die vor allem mittelständischen Unternehmen helfen soll, von der Digitalisierung und den vielen Daten zu profitieren.

Und nicht nur Daten gibt es zu entdecken. Gerade erst einmal fünf bis zehn Prozent der Digitalisierung seien geschafft, sagte Hiesinger. „Das ist unsere Chance“, erklärte der Thyssen-Krupp-Chef. Je weiter der Weg sei, desto besser könne man den Rückstand aufholen.


Raus aus der Komfortzone

Doch trotz aller Euphorie, trotz aller technischen Möglichkeiten, auf die alle vier Manager hinwiesen − und trotz des schon Erreichten: Wer die Transformation zu einem digitalen Unternehmen hinbekommen will, der braucht vor allem eines: starke Führung. „Es ist Chefsache“, bringt Siemens-Vorstand Helmrich die Meinung aller auf den Punkt. Denn eine der größten Herausforderungen ist es, die Beschäftigten mitzunehmen, sie aus ihrer Komfortzone zu bewegen. Sie zu begeistern für die Digitalisierung und sie damit zu Treibern derselben zu befähigen.

Genau daran aber hapert es in Deutschland noch, haben die Manager erkannt. „Wir vernachlässigen die Belange der Mitarbeiter und Führungskräfte auf dem Weg durch diese Transformation“, sagte Telefónica-Chef Dirks. „Und das ist ein großer Fehler.“
Bisher, ergänzte Thyssen-Krupp-Chef Hiesinger, schwinge für die Mitarbeiter vor allem eines bei der Digitalisierung mit: die Bedrohung. „Wir werden immer wieder mit dem Satz ‚Wer nicht zerstört, wird selbst zerstört‘ konfrontiert“, sagte Hiesinger.
Aber den Menschen in Deutschland gehe es gut, sie seien zufrieden und erfolgreich wie lange nicht mehr, betonte Hiesinger. Drohungen seien deshalb das falsche Mittel. Wem es gutgehe, der gehe keinen Wandel ein, der womöglich die Existenz des eigenen Arbeitsplatzes infrage stelle. Deshalb müssten die Chancen betont werden. So profitiere Thyssen-Krupp auch davon, dass junge Unternehmen wie Tesla etablierte Zulieferer dringend bräuchten.

Den Mitarbeiter mitnehmen und die Chancen in den Vordergrund rücken, das heißt aber auch: Die Führungskräfte müssen raus aus ihrer Komfortzone, aus ihren über Jahrzehnte eingeschliffenen Führungsmethoden. Und die Veränderung beginnt dabei ganz oben. „Man muss den Menschen ganz klar sagen, was man verändern möchte“, sagte Helmrich. Und man müsse auch aufnehmen, was sie zu sagen haben.
Telefónica geht dabei radikale Wege: „Wir schaffen das Herrschaftswissen ab“, erzählte Dirks. Der Konzern stellt allen Mitarbeitern alle Informationen bereit. „Das war für uns ein großer Schritt, denn viele Führungskräfte führen mit diesem Herrschaftswissen“, sagte Dirks. Es schafft ein Maximum an Transparenz, erhöht aber auch den Stress im Unternehmen, weil jeder Mitarbeiter für jeden jederzeit in seiner Leistung überprüfbar ist.

Man müsse deshalb den Menschen klarmachen: „Es geht nicht darum, Arbeitsplätze abzubauen, sondern sie zu verändern“, sagte Siemens-Vorstand Helmrich. Mitarbeiter müssten mehr Eigenverantwortung übernehmen. Manager wiede‧rum Verantwortung abgeben. „Führungskräfte sind nicht nur Koch oder Kellner, sie sind Koch und Kellner“, sagte Dirks.

Doch damit die Chefköche auch die richtigen Rezepte nutzen können, müssen die Rahmenbedingungen stimmen. Und daran, da waren sich alle auf der Bühne einig, hapert es in Deutschland gewaltig. „Die Digitalisierung fordert nicht nur die Industrie, sondern auch die Politik. Sie wirkt häufig wie ein Hemmschuh“, sagte Handelsblatt-Chefredakteur Sven Afhüppe. Und Dirks beklagte, dass Deutschland von 28 EU-Mitgliedern auf dem vorletzten Platz sei bei der Digitalisierung der Behörden. „Das ist ein Unding für unsere Industrienation“, sagte er. Und es zeige, dass die Politik die Digitalisierung noch nicht verstanden habe und lebe.

Das dürfe der Industrie, gerade dem Mittelstand, nicht passieren, waren sich alle einig. SAP-Managerin Rückert brachte es auf den Punkt: „Machen Sie den digitalen Wandel zur Chefsache. Und fangen Sie jetzt damit an. Jetzt.“

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