Industrie 4.0 So greifen deutsche Unternehmen digital an

Die digitale Welt hat neue Geschäftsmodelle hervorgebracht, die deutsche Traditionsfirmen bedrohen. Jetzt schlägt die alte Industrie mit den Methoden der Moderne zurück. 

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MAN-Vorstandsvorsitzender Drees (rechts) und sein Digitalchef Lipinsky Quelle: Wolf Heider-Sawall für WirtschaftsWoche

Hier soll sie also sein, die Zukunft des Lkw-Herstellers MAN: inmitten eines Gewerbegebiets bei München in einer ehemaligen Lagerhalle, von außen erkennbar nur durch einen kleinen Zettel mit der Aufschrift „X-Lab“. Kein pompöses Foyer, sondern eine blaue Stahltür führt in Räume, die Markus Lipinsky, 42, „eine andere Welt“ nennt. Ein langer Schreibtisch mit Dutzenden Computern, an den Seiten große Magnetwände mit kleinen Zetteln in Neonfarben, die nach grellen Ideen aussehen. Über dem Damen-WC steht „Lackierstraße“, „Waschanlage“ weißt den Weg zum Herrenklo.

Die Mitarbeiter sehen aus wie Ende 20, tragen Turnschuhe und das Hemd aus der Hose. In einem großen Vorführraum, der den Namen „TÜV“ trägt, liegen eine Google-Brille und ein iPad auf dem Tisch. Hier scheint es alles zu geben – außer Lastkraftwagen. Doch dann, endlich, geht Lipinsky voran in eine Halle, und da stehen sie: die 500 PS-Maschinen des zweitgrößten Lastwagenherstellers nach Daimler. Lipinsky öffnet mit dem Smartphone das Fenster eines Lkws und sagt: „Bei allem Startup-Feeling: Am Ende müssen wir Ergebnisse präsentieren.“

Forschen an den Fragen der Zukunft

Seit November leitet Lipinsky bei MAN den neuen Bereich „Digital Solutions“, zu dem das „X-Lab“ gehört. 120 Mitarbeiter hat er um sich geschart, die meisten wie er aus der Softwarebranche, um Lösungen für die alles entscheidende Frage zu finden: Wie ist das Geschäftsmodell der Zukunft? Sein Vorgesetzter Joachim Drees, Vorstandschef bei MAN, will Antworten haben. Denn Drees ist getrieben von der Sorge, „dass Lkw irgendwann nur noch reine Hardware sind“. Er fürchtet, dass die Produkte des 100 Jahre alten Konzerns austauschbar werden und künftig jene Unternehmen vorne mitfahren, die Servicelösungen rund um den Transport anbieten – mit Software. MAN muss aufholen, um das Rennen nach Neuland nicht zu verlieren, bevor es richtig begonnen hat.

Die Geschäftsreise nach Digitalien ist für viele Manager von deutschen Industriekonzernen das bestimmende Thema in diesem Jahr. 84 Prozent der hiesigen Unternehmen spüren einen Druck zur Digitalisierung innerhalb ihrer Industrie. Das zeigt eine aktuelle Umfrage des Beratungsunternehmens Accenture unter knapp 250 Führungskräften. Viele von ihnen waren auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos und auch dort stand die sogenannte „Vierte Industrielle Revolution“ im Mittelpunkt. Dieser recht deutsche Begriff meint die Vernetzung von Maschinen und die intelligente Nutzung großer Datenmengen, um sie zu analysieren und in bares Geld zu verwandeln.

Im Austausch mit den Chefs

„Industrie 4.0 ist der größte Treiber unserer Wirtschaft“, sagt Horst Wildemann. Er leitet das Forschungsinstitut für Unternehmensführung, Logistik und Produktion an der TU München und ist Chef der Unternehmensberatung TCW. Um die Herausforderungen und Chancen der Digitalisierung zu diskutieren, lädt er Mitte März zahlreiche Führungskräfte zum 23. Münchner Management Kolloquium ein. „Lean & green & connected“ lautet das diesjährige Motto. „Das sind die drei Säulen der deutschen Industrie“, sagt Wildemann. Denn in einer vernetzten Welt lasse sich schlanker, ressourcenschonender und flexibler arbeiten.

Deutsche Unternehmen wollen Nummer eins bei Industriekunden werden

Das klingt so gar nicht nach dem Klagen mancher Skeptiker, die mit der Digitalisierung das Ende des Erfolgsmodells „Made in Germany“ befürchten – und im gleichen Atemzug von dem uneinholbaren Rückstand auf die Amerikaner berichten. Es stimmt, die wichtigsten Konzerne der modernen Welt kommen aus den USA und heißen Facebook, Google oder Amazon. Und es sind kalifornische Start-Ups wie den Fuhrvermittler Uber und das Bettenportal Airbnb, die mit ihren Geschäftsmodellen den Taxifahrern und Hoteliers dieser Welt Angst und Bange machen. Doch alle diese Unternehmen verdienen ihr Geld vor allem im Geschäft mit Privatkunden. Deutsche Konzerne beeilen sich nun, im Kampf um Industriekunden die Nummer eins zu bleiben.

Die Folgen von Industrie 4.0 für die Branchen in Deutschland bis 2025

MAN investiert in diesem Jahr ein Zehntel des Budgets von Forschung und Entwicklung für Digitalisierung – insgesamt rund 43 Millionen Euro. MAN-Chef Joachim Drees hat jene Mitarbeiter, die an neuen Ideen fernab des klassischen Geschäfts tüfteln sollen, bewusst außerhalb des Konzern-Hauptquartiers angesiedelt. Abgesehen von dem Zukunftslabor „X-Lab“ hat MAN auch einen Standort in der Parkstadt Schwabing aufgebaut, wo die Softwareriesen IBM und Microsoft ihre neuen Deutschlandzentralen gebaut haben. „So gewinnen wir auf unserem Weg zum digitalen Unternehmen Menschen, die mit traditionellem Lkw-Geschäft heute nichts am Hut haben“, sagt Drees.

Es geht nicht um den Lkw-Verkauf, sondern digitalen Service

Dieser Weg besteht für ihn aus vier Schritten: Erstens, das Flottenmanagement. In den nächsten zwei Jahren sollen alle Lkw vernetzt sein, um Daten wie Geschwindigkeit, Spritverbrauch und Zustand des Fahrzeugs zu sammeln. Im zweiten Schritt geht es dann um die Analyse der Daten und die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle. Eine bietet MAN bereits an, sie heißt „ProfiDrive“ und funktioniert wie eine digitale Fahrschule. Mitarbeiter werten die Daten von Lkw-Fahrern aus und geben ihnen einmal pro Woche Tipps, wie sie spritsparender fahren können. Spediteure lassen sich diesen Service knapp 200 Euro pro Monat kosten und versprechen sich weniger Benzinkosten und Verschleiß.

Den dritten Teil seiner Strategie nennt Drees „Mobility Services“ und meint Dienstleistungen rund um den Transport. Als Beispiel nennt er eine Software, die Fuhrparkverwaltern genau anzeigt, wo sich die Lkw befinden, ob die Fahrer die Lenkzeiten einhalten und wann die Fahrzeuge mal wieder gewartet werden müssen. Großkonzernen bietet MAN eine Software an, die Daten zu der Ladung des ankommenden Lkw schon vor dem Eintreffen zusendet. Über die letzte Stufe seines Plans möchte Drees noch nicht so viel verraten, vielleicht weil sie so weit weg ist vom bisherigen Geschäft.

Nur so viel: MAN könne sich vorstellen, eine Online-Plattform anzubieten, auf der Fuhren vermittelt werden – unabhängig von dem Spediteur oder dem Lkw-Hersteller. Meint er eine Art Uber für Lastwagen?  Drees sagt: „Wenn wir am Ende Geld verdienen mit einem Kunden, der nicht unsere Fahrzeuge fährt, aber unsere Lösungen nutzt, dann ist das Teil des Geschäftssystems.“ Nur eines schließt er aus: eine Kooperation mit einem amerikanischen IT-Unternehmen, denn dann würde er ja die Macht über seine Daten verlieren. 

Sharing Economy auf industriell gemacht

Wie solch eine offene Plattform, über die Drees nachdenkt, für ein Industrieunternehmen aussehen kann, zeigt die Firma Zeppelin mit Konzernzentrale in Garching bei München. Das Kerngeschäft liegt im Handel mit neuen und gebrauchten Baumaschinen – und zwar traditionell nur für den amerikanischen Hersteller Caterpillar. Doch in der digitalen Welt ändert sich das Geschäftsmodell. Zeppelin-Finanzchef Christian Dummler stellte sich vor zwei Jahren eine Frage: „Wie würde ein Wettbewerber aus der Welt von Amazon und Co. aussehen, der das Potenzial hätte, stärker und schneller zu wachsen als wir mit unserem traditionellen Modell?“

Seine Antwort ist seit einem Jahr online und heißt klickrent.com. Eine offene Plattform für das Mieten von Maschinen und Geräten, von denen Zeppelin keine einzige selbst besitzt. „Sharing Economy“ auf industriell gemacht.

Stufen der industriellen Entwicklung

„Wir stehen an einer Zeitwende“, sagt Dummler. Um dem Rechnung zu tragen, hat Zeppelin im fernen Berlin ein Start-up im Unternehmen gegründet. 22 Mitarbeiter aus sieben Nationen, die das Portal programmieren. Dummler nennt sie liebevoll „unseren Nukleus für die Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle“. Der Bereich ist noch nicht profitabel, aber nach eigenen Angaben kräftig am wachsen – Start-up eben. Die Zukunft wird zeigen, ob weniger internetaffine Firmen bereit sind, ihr Anlagevermögen in Form von Baumaschinen auf der Plattform an die Konkurrenz zu vermieten. Nur so kann das Geschäft funktionieren.

"Daten sind das Öl des 21. Jahrhunderts"

Der wichtigste Rohstoff für den Antrieb solcher Geschäftsmodelle heißt nicht Diesel, sondern Daten. „Sie sind das Öl des 21. Jahrhunderts“, sagt Managementprofessor Horst Wildemann. „Mit dem Vorteil: Sie verbrauchen sich nicht und können immer wieder verwendet werden.“ Ein Unternehmen, das diese Möglichkeit sehr zu nutzen weiß, ist Sick aus Waldkirch im Breisgau. Die Firma bekommt Daten quasi frei Haus geliefert – denn Sick stellt Sensoren her, deren Existenzberechtigung die Gewinnung von Informationen ist. Diese Sensoren erfassen zum Beispiel Codes von Paketen, auf diesem Gebiet ist Sick Marktführer.

Doch die Badener wollen mehr. Sie haben ein Computersystem entwickelt, das Paketdaten an Förderbändern sammelt und auf die Smartwatch eines Lagerarbeiters schickt. Der erfährt dann sofort, wenn eine Sendung verformt ist oder das Band stillsteht. „Das ist ein Mehrwert, den wir früher nicht anbieten konnten“, sagt Sick-Chef Robert Bauer. Mittlerweile liefere sein Unternehmen vernetzte Systeme aus Förderband, Sensoren und Analysesoftware inklusive Wartung. Das bringe bereits ein Viertel des gesamten Umsatzes, der rund 1,1 Milliarden beträgt.

Vielleicht wird man in einigen Jahren sagen, dass die alte Industrienation Deutschland eine neue Erfolgsformel gefunden hat: Erfahrung plus Software gleich Zukunft. Um noch genauer mitzubekommen, wie dieses Modell funktioniert, reisen MAN-Chef Drees und sein Digitalchef Lipinsky im Mai dahin, wo sich schon viele deutsche Manager digitale Inspiration geholt haben: Sie machen eine Erkundungstour ins Silicon Valley.

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