Industrie 4.0 hat in vielen Fabrikhallen und Büros schon längst begonnen: Mit hochpräzisen Laser-Schweißautomaten etwa, die von Auftraggebern viele hundert Kilometer entfernt digital angesteuert werden und ihre Produkte selbständig zur nächsten Verarbeitungsstufe in anderen Unternehmen schicken. Oder mit flexiblen Abfüllstraßen, die Produkte unterschiedlichster Herkunft IT-gesteuert verpacken, konfektionieren und versenden – und die Rechnung dazu vollautomatisch in die Finanzsysteme einspielen.
Immer geht es darum, dass Maschinen und Abläufe, Technik und Menschen in einem heute unvorstellbaren Maße mit Datennetzen verbunden sind – unabhängig von juristischen oder geografischen Unternehmensgrenzen.
Die Folge: Viele Entscheidungen über Prozesse und Prioritäten fallen nicht mehr bei Managern und Mitarbeitern vor Ort. Sondern sie werden - zeitlich vorgelagert - in komplexe Algorithmen eingebunden. Diese können nur eine kleine Elite von hochgradig spezialisierten Experten entwickeln und durchschauen. Wie immer, wenn repetitive Tätigkeiten ersetzt werden, können hohe Effizienzgewinne dabei herauskommen. Speziell für die deutsche Wirtschaft mit ihren hochtechnisierten Anlagen, ihren komplexen Qualitätsprodukten und ihrer internationalen Ausrichtung entstehen so mit Industrie 4.0 gigantische Chancen.
Zur Person
Dr. Joachim Klewes ist Senior Partner der Kommunikationsagentur Ketchum Pleon in Berlin, Gründer der change centre foundation und Honorarprofessor an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
Wenn, ja wenn es nicht diesen einen Schwachpunkt gäbe: den Menschen. Denn weder Management und Mitarbeiter in den Unternehmen, noch ihre Zulieferer, Kooperationspartner und Kunden sind auf die Herausforderungen dieser schönen neuen Welt wirklich vorbereitet – geschweige denn Politik und Gesellschaft.
Unternehmensgrenzen spielen keine Rolle mehr
Nun ist es nichts Besonderes, betriebliche Innovationen mit umfassenden Lern- und Veränderungsprogrammen auf den Weg zu bringen. Die Verantwortlichen für große Software-Einführungen können ein trauriges Lied davon singen. Industrie 4.0 erfordert allerdings eine neue Dimension von Change Management. Denn: erstens sind Umfang und Komplexität der neu zu vermittelnden Informationen extrem. Hinzu kommt zweitens, dass es keineswegs nur um Wissen geht, sondern um die Veränderung fundamentaler Einstellungen und Verhaltensweisen. Drittens gilt dies alles über Unternehmensgrenzen hinweg. Das stellt völlig neue Herausforderungen an das Design der Change Prozesse. Aber schauen wir uns diese drei Felder im Einzelnen an...
Stufen der industriellen Entwicklung
Die erste industrielle Revolution datiert man auf das Ende des 18. Jahrhunderts. Gekennzeichnet war sie durch die Einführung mechanischer Produktionsanlagen, die durch Wasser- und Dampfkraft angetrieben wurden. In dieser Zeit wurde auch der erste mechanische Webstuhl entwickelt.
Quelle: Deutsche Bank Research Industrie 4.0 - Upgrade des Industriestandorts Deutschland steht bevor, Stand: Februar 2014
Die Erfindung erster Fließbänder in Schlachthöfen in den USA ist Symptom der zweiten industriellen Revolution. Die Verfügbarkeit elektrischer Energie für Produktionszwecke bedingte ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Einführung arbeitsteiliger Massenproduktion.
In den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts automatisierte sich die Produktion weiter. Von diesem Zeitraum an wurde nicht mehr nur Arbeitsteilung betrieben, sondern ganze Arbeitsschritte wurden von Maschinen übernommen. Die Grundlage für diese Entwicklung war der Einsatz von Elektronik und IT.
Die Industrie 4.0 soll die vierte industrielle Revolution werden. In der "intelligenten Fabrik" sollen Menschen, Maschinen und Ressourcen miteinander kommunizieren. Das jeweilige Produkt soll, gefüttert mit Informationen über sich selbst, seinen eigenen Fertigungsprozess optimieren können.
Industrie 4.0 macht Lernen und Ent-Lernen, den systematischen Abschied von veralteten Informationen zur Routine. Statt Anwendungswissen - zum Beispiel zur Bedienung einer Maschine - ist das Verständnis von Prozessen gefragt, die in ihrer Komplexität weit über den Horizont hinausgehen, den der einzelne Mitarbeiter oder Abteilungsleiter bislang in seiner Arbeit überblicken konnte. Der zunehmende Variantenreichtum und die Individualisierung der Produktion erhöhen das Wissensvolumen ebenso wie die Notwendigkeit, auch die vor- und nachgelagerten Arbeitsstufen zu verstehen. Noch gar nicht angesprochen ist damit die Kompetenz, die für das Prozess-Design, das Herstellen der Vernetzung, die Organisation der Datenflüsse oder die Definition der Algorithmen gebraucht wird. Nur ein Bruchteil der heutigen Mitarbeiter ist in der Lage, mit diesen komplexen Prozessen umzugehen.
Entscheidungshoheit über Abläufe und Prioritäten
Mittlere Führungsebene im Entscheidungs-Nirwana
Die zweite Herausforderung liegt darin, dass sich die Kerntruppe der industriellen Kompetenz (die mittlere (technische) Führungsebene bis hin zur Meister-Ebene) mit Industrie 4.0 plötzlich im Entscheidungs-Nirwana wiederfindet. Diese Gruppe konnte bislang einen großen Teil ihrer Identität, ja ihres Stolzes auf die eigene Arbeit, selbst erzeugen: mit ihrer Entscheidungshoheit über viele Abläufe oder Prioritäten. Diese Gestaltungsmöglichkeiten geht für viele verloren, weil die Entscheidungen in den Algorithmen vorweg genommen werden. Die persönliche Bedeutung eines technischen Abteilungsleiters in der Industrie definiert sich heute durch Entscheidungsspielräume, etwa in der Führung von Bedienungspersonal, der Organisation der Arbeitsschritte vor Ort oder der Gestaltung des unmittelbaren Arbeitsumfeldes. Vieles davon fällt künftig weg: der vernetzte Prozess hat es bereits vorweg genommen. Das Change Management muss bei der Einführung von Industrie 4.0 erhebliche Frustration aufgrund von „Sinn-Verlust“ erwarten und damit umgehen. Und schließlich müssen für die betroffenen Mitarbeiter und Manager neue Aufgaben definiert werden.
Droht ein Weberaufstand 4.0?
Allerdings: Obwohl Industrie 4.0 Mitarbeitern und der mittleren Management-Ebene viel zumutet, wird ein Weberaufstand 4.0 wohl ausbleiben. Der Widerstand gegen das Neue wird sich eher mit falschen Mouse-Clicks, Krankheits-Ausfällen und Demotivation artikulieren – was ihn für Unternehmen und Gesellschaft nicht weniger teuer macht. Grund genug, die Change-Komponente bei jeder Einführung vernetzter Produktion rechtzeitig zu bedenken.
Was bedeutet Smart Factory?
In der intelligenten Fabrik tauschen Menschen, Maschinen und Ressourcen miteinander Informationen aus. Sie kommunizieren mittels Funksender, Datenwolken im Internet oder im Intranet der Fabrik. Die Produktionsanlagen haben Diagnose- und Reparaturfähigkeiten. Die intelligente Fabrik organisiert sich damit selbst.
Die Produktion soll flexibler werden. Der ständige Datenaustausch soll dazu führen, dass die Maschinen stets optimal ausgelastet sind. Kurzfristige Änderungen in der Nachfrage oder Ausfälle in der Wertschöpfungskette werden rasch kompensiert. In der Industrie 4.0 organisieren sich einzelne Fertigungslinien selbständig bedarfsgerecht. Fällt eine Maschine in dieser Linie aus, organisiert sich die Fertigung über einen alternativen Weg selbständig neu. Ändern sich etwa die Bestellungen oder die Mengen verfügbarer Rohstoffe, passen die Anlagen die Fertigung automatisch an die neuen Gegebenheiten an.
Weil Auftraggeber und Auftragnehmer ständig online Daten austauschen, können Kunden auch kurzfristig Änderungswünsche eingeben. Außerdem können individuelle Kriterien und Kleinserien bis hin zu Einzelstück schnell und kostengünstig realisiert werden.
Damit sind wir beim dritten Punkt: Change Programme stehen im Industrie-4.0-Kontext vor einer gewaltigen Herausforderung. Sie können sich nicht länger auf die eigene Organisation beschränken, wenn fast alle Produktionsschritte in hohem Umfang vom Mitwirken der „Kollegen“ in vor- oder nachgelagerten Leistungsstufen abhängen. Dass diese in anderen legal entities organisiert sind, könnte bald so unpassend sein wie ein Verbrennungsmotor im Auto von morgen. In diesem Zeitalter wird „interne Kommunikation“, wie wir sie kennen, endgültig verschwinden – jetzt gilt es, nicht nur die eigenen Mitarbeiter anzusprechen, sondern auch Zulieferer, Kooperationspartner und Kunden. Interne Kommunikation muss deshalb umfassend neu definiert werden. Was das für unternehmensspezifische Informationsstile, für Unternehmenskultur, für die Haftung bei Fehlinformationen bedeutet, liegt noch weitgehend im Dunkeln.
Es geht um Vertrauen
Die kommunikative Herausforderung von Industrie 4.0 geht aber über die unmittelbar betroffenen Stakeholder (Management und Mitarbeiter) deutlich hinaus. Auch Politik und Gesetzgebung müssen ihren Beitrag leisten, damit Industrie 4.0 gelingen kann – und damit unser Land nicht wieder einen Innovations-Quantensprung verschläft. Stichwort Datenschutz: Wenn sich zur Steuerung der Produktionsprozesse Auftraggeber und Kunden, Lieferanten und Kooperationspartner gegenseitig Daten in Echtzeit überlassen, geht es nicht um „big data“, sondern um „trusted data“. Zu den entscheidenden Herausforderungen für die Unternehmen gehören Fragen wie diese: Wie bringe ich meinen Lieferanten den sensiblen Umgang mit Daten bei, die mir meine eigenen Kunden überlassen haben? Und in welchem rechtlichen Regelwerk kann das am besten gelingen? Wie werden die Ansprüche an Transparenz, Datenschutz sowie Tempo unter einen Hut gebracht – und den Betroffenen erklärt? Oder glaubt jemand, ein so gravierender technologischer Wandel könnte ohne breiten gesellschaftlichen Diskurs gelingen?
Ganz offensichtlich werden weder die Herausforderungen von Industrie 4.0, noch mögliche Lösungen umfassend diskutiert. Fest steht aber: Wenn Unternehmen die Change Dimension von Industrie 4.0 vernachlässigen, verspielen sie großartige Chancen. Wenn wir aber als Gesellschaft diesen Zug verpassen, ist das Risiko allerdings ungleich größer.