Industrie 4.0 Kleine Zulieferer, die Verlierer der Digitalisierung

Obwohl die digitalisierte Fabrik erst am Anfang steht, zeigt sich, dass kleine Zulieferer verlieren werden - es sei denn, sie lassen sich etwas einfallen. Was die Digitalisierung für die Unternehmen bedeutet.

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Digitalisierung von oben: Industrie 4.0 bei der Bosch-Tochter Rexroth. Quelle: Bert Bostelmann für WirtschaftsWoche

Hermann Raatgering berät für die Wirtschaftsförderung Borken kleinere Unternehmen im Münsterland. Er gibt ihnen Tipps, wie sie an staatliche Zuschüsse für die Digitalisierung der Fertigung, kurz: Industrie 4.0, kommen. Und er organisiert den Wissensaustausch dazu zwischen den Betrieben.

Was er dabei mitbekommt, erschrickt den gelernten Ingenieur. „In die Puschen sind zwar alle gekommen, doch für viele ist das Thema Industrie 4.0 noch immer ein Buch mit sieben Siegeln“, sagt Raatgering. „Das liegt nicht an der mangelnden Qualifikation, sondern an der Denke.“ Der Engpass sei meist der abwartende Chef.

Fabrik der Zukunft

Es ist das große Thema der Hannover Messe: die Automatisierung der Fertigung nicht mehr nur mit Maschinen, sondern mithilfe von IT und Internet. In der Fabrik der Zukunft kommunizieren Maschinen und Produkte miteinander und informieren sich gegenseitig, welche Bearbeitungsschritte als Nächstes folgen. Über alle Stufen, von der Materialbestellung bis zur Verpackung der fertigen Waren, sollen Sensoren Daten für Steuerungen erfassen, die diese direkt in Befehle für die Anlagen übersetzen. Der Mensch steuert nur noch die Prozesse. Um das gewaltige Rationalisierungspotenzial zu heben, müssen neben den Kunden vor allem die Zulieferer in die automatisierten Abläufe eingebunden werden.

Die Folgen von Industrie 4.0 für die Branchen in Deutschland bis 2025

Genau da aber liegt das Problem für die Kleinen in der künftig automatisierten Produktions- und Versorgungskette. Während Große wie der Stuttgarter Autozulieferer Bosch und der schwäbische Anlagenbauer Voith Millionen in die Komponenten von Industrie 4.0 investieren, erscheinen die Herausforderungen für viele der Sub- und Sub-Subunternehmen existenzbedrohend. „Wer nicht mithalten kann, wird ausgelistet werden“, sagt die Einkäuferin eines schwäbischen Autozulieferers.

Wenn am Rande der Hannover Messe Industrievertreter, Politiker und Gewerkschafter versuchen werden, sich auf eine gemeinsame Marschrichtung bei Industrie 4.0 zu verständigen, geht es vor allem um die großen Linien: Laufen die Amerikaner den Europäern und speziell der Maschinenbaunation Deutschland den Rang ab? Und muss der Staat helfen, die Entwicklung hierzulande voranzutreiben?

Nur am Rande geht es um die Einbindung der kapitalschwachen kleinen, aber wichtigen Rädchen im künftigen Digitalgetriebe der deutschen Industrie. Offen mögen sich die Betroffenen dazu nicht äußern. Am Beginn der Lieferkette fürchten viele Unternehmen in den nächsten 10 bis 15 Jahren um ihre Existenz. Offenlegen will seinen Rückstand niemand. Für Experten liegen die Defizite aber auf der Hand.

Zu wenig Investitionskapital

Wie jede industrielle Revolution wird auch diese die vorhandenen Maschinen und Anlagen schneller entwerten als geplant. Die digitalisierte Fabrik verlangt Maschinen- und Softwarekomponenten, über die viele Produzenten noch nicht verfügen oder die sich nicht oder nur teuer nachrüsten lassen. Das kostet nicht nur Kapital, sondern bestraft auch Unternehmer, die erst vor wenigen Jahren Maschinen angeschafft haben, die sie noch 20 Jahre abschreiben wollen. Betroffen sind besonders kleine Betriebe mit dünner Kapitaldecke.

So wird ein Joghurt in der Industrie 4.0 hergestellt
Kühe in einem Melkkarussel Quelle: dpa
Milch Quelle: Christof Mattes für WirtschaftsWoche
Molkerei Quelle: Christof Mattes für WirtschaftsWoche
Zutaten Quelle: Christof Mattes für WirtschaftsWoche
Steuerung Quelle: Christof Mattes für WirtschaftsWoche
Abfüllung Quelle: Christof Mattes für WirtschaftsWoche
Fertig Quelle: Christof Mattes für WirtschaftsWoche

Die sich selbst organisierende Fabrik benötigt künftig Facharbeiter, die sich sowohl mit Maschinen als auch mit Software auskennen. Nur dann können Mitarbeiter die hochkomplexen Maschinen steuern, warten und reparieren. Doch diese Allrounder sind schon jetzt bundesweit begehrt und heuern im Zweifel lieber bei Bosch, BMW, Daimler und Co. als bei kleinen Zulieferern an. Höhere Gehälter und größere Entwicklungsabteilungen erscheinen ihnen vielversprechender.

Kenner der Nöte bei den Zulieferern sind Leute wie Wirtschaftsförderer Raatgering oder sein Kollege Jens Hoerner in Hannover, denen die Mittelständler und Kleinunternehmer in der Provinz schon mal ihr Herz ausschütten.

Angst vor Datenklau

Dabei erweist sich die Angst, bei der digitalen Vernetzung die Hoheit über die Unternehmensdaten sowie streng gehütetes Know-how zu verlieren, als eines der großen Hemmnisse auf dem Weg zu Industrie 4.0. „Die nötige Öffnung der Daten der eigenen Produktion für Zulieferer oder Abnehmer wird jedem Geschäftsführer eines kleinen oder mittleren Betriebes ein mulmiges Bauchgefühl bereiten“, sagt Wirtschaftsförderer Hoerner.

Industrie 4.0: Schwieriger als gedacht. (zum Vergrößern bitte anklicken)

Das liege zum einen daran, dass die Unternehmer um ihre Betriebsgeheimnisse fürchten. Zum anderen sei dies aber auch ein Zeichen unzureichender IT-Sicherheit. „Keiner im Unternehmen kann die Cyberrisiken realistisch abschätzen, da meist ein dezidiertes IT-Sicherheitskonzept fehlt“, sagt Hoerner. Komme noch hinzu, dass Industrieversicherer für die Abwehr von Cyberrisiken zusätzliche Auflagen machen, sei die Zurückhaltung komplett, meint der Niedersachse. „Manch ein Geschäftsführer wird allein aufgrund dieser zu erwartenden Komplexität von Industrie-4.0-Konzepten Abstand nehmen.“

Für alle Zulieferer sind künftig einheitliche Software- und Schnittstellenstandards zwingend nötig, um Unternehmen im In- und Ausland als Kunden zu behalten und um kostengünstig zu arbeiten. Doch noch immer streiten sich diverse deutsche und europäische Arbeitskreise um die Festlegung dieser Standards. Gleichzeitig beginnen die Großen, eigene Regeln festzulegen – auch für die Zulieferer. Die Großen sitzen dabei oft am Tisch, die Kleinen aber schauen von außen zu.

Viele Möglichkeiten, darauf zu reagieren, haben diese Lieferanten nicht. „Kleine Unternehmen können sich nur an einen der Großen dranhängen. Aber setzen sie auf das falsche Pferd, können sie ihre Investitionen in Industrie-4.0-Konzepte später wieder abschreiben“, sagt Günter Dueck, Ex-Technik-Chef von IBM Deutschland, der heute Unternehmen berät.

Doch ausgerechnet die erhoffte Standardisierung birgt eine grundsätzliche Gefahr für Zulieferer. Denn dadurch sinken sowohl die Marktzugangsbarrieren für Wettbewerber als auch die Hemmschwellen für die Abnehmer, sich von langjährigen Geschäftspartnern zu trennen.

„Mit Standards können die Kunden ihre Zulieferer viel einfacher als bisher austauschen, und es kommt zu einem gewaltigen Preiswettbewerb“, so Dueck. Die mühsame Suche nach dem besseren, bestenfalls auch noch billigerem Anbieter wird leichter. Auch die kleinen Zulieferer wissen genau, welche Vorteile die heutige Intransparenz für sie zurzeit noch hat. „Unübersichtliche Strukturen lassen Nischenanbieter bislang noch überleben“, warnt Dueck. Mit Industrie 4.0 drohe das Ende dieser Idylle.

Ende der Zwischenhändler

Bislang dreht sich bei Industrie 4.0 alles um die Produktion. Kaum jemand spricht von den Händlern und Vertriebsgesellschaften zwischen der Fabrik und dem Endkunden. Gerade denen droht schon bald Ungemach, ist Markus Lorenz, Maschinenbauingenieur und Partner bei Boston Consulting Group, überzeugt: „Dort, wo Standardisierung Produkte austauschbar, ihre Preise vergleichbar und die Lieferkette transparenter macht, versuchen die Kunden, Intermediäre und ihre Handelsstufen auszuschalten und Geld zu sparen.“

Trostlos ist die Zukunft kleiner Zulieferer durch Industrie 4.0 allerdings nicht. Unternehmen, die ihren Kunden auch nach der Warenlieferung weiteren Service anbieten können, werden nach Meinung von Experten überleben. Gemeint sind damit nicht mehr Wartungsarbeiten, sondern Dienstleistungen mit den Daten zu den gelieferten Produkten. Smart Services oder Smart Products heißen solche Angebote.

Smart Products, das sind Waren, Maschinen oder Anlagen, die über das Internet vernetzt bleiben, auch nachdem sie die Fabrik verlassen haben. So kann ein Aufzughersteller einem Unternehmen anbieten, die Lifte in einem Hochhaus auf Energieeffizienz zu trimmen. Je nachdem, ob die U-Bahn nebenan gerade einen Schwung Besucher ausspuckt oder nicht, setzen sich unterschiedlich viele Aufzüge in Bewegung. Konkurrenzangebote ohne den Zusatznutzen dürften künftig im Papierkorb landen.

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