Linde Die zwei großen Aufgaben des Wolfgang Reitzle

Seit Mai ist Ex-Chef Wolfgang Reitzle Linde-Oberaufseher. Der Top-Manager braucht jetzt all sein Talent – in den Verhandlungen über die Milliarden-Fusion mit Praxair, aber auch im schwelenden Streit im Linde-Vorstand.

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Wolfgang Reitzle kehrte im Mai als Chefkontrolleur zu Linde zurück. Quelle: dpa

Als für Wolfgang Reitzle die letzten Tage als Vorstandschef des Linde-Konzerns anbrechen, sagt Wolfgang Reitzle mal ganz offen, was er über sich selbst denkt: „Ich gelte in der deutschen Wirtschaft ja nicht gerade als Underperformer“, tönt er im Herbst 2013 bei einem seiner letzten öffentlichen Auftritte im Linde-Haus an der Münchner Klosterhofstraße. Die zweijährige Abkühlphase, die er einhalten soll, ehe er in den Aufsichtsrat des Konzerns einzieht, will er damit sagen, könne ja für viele Manager gelten. Aber für ihn?

Wolfgang Reitzle, geboren 1949 in Neu-Ulm, ist einer der gefragtesten Manager des Landes. Während seiner Zeit beim Autobauer BMW wurde er als „Wunderkind“ gepriesen. In seinen elf Jahren beim Gasekonzern Linde verzehnfachte sich der Börsenwert des Konzerns.

Wenn irgendwo in Deutschland in den vergangenen Jahren ein hochkarätiger Posten zu vergeben war, wurde Reitzle als Kandidat gehandelt. Kein Wunder, dass es für so jemanden schwer zu akzeptieren ist, dass auch er sich an den Kodex für gute Unternehmensführung halten soll.

Die weltweit größten Industriegasekonzerne

Er hat es dann natürlich doch getan. Doch nun, zwei Jahre nach seinem Ausscheiden aus dem CEO-Amt, ist Reitzle seit Mai wieder bei Linde aktiv. Und nicht wenige im Konzern finden: gerade noch rechtzeitig.

Milliarden-Übernahme parallel zum Führungskampf

Bei dem zweitgrößten Industriegasehersteller der Welt mit zuletzt fast 18 Milliarden Euro Umsatz tobt ein Machtkampf zwischen Reitzles Nachfolger Wolfgang Büchele und Finanzvorstand Georg Denoke, der den gesamten Konzern lähmt. Dass der promovierte Ökonom und Ingenieur Reitzle für die Entwirrung verfahrener Situationen ein Händchen hat, daran gibt es kaum einen Zweifel. Geschicktes Taktieren, die Abwicklung komplexer Deals und Entschärfung hochexplosiver Situationen, das seien Reitzles Stärken, sagt ein ehemaliger enger Weggefährte. Alle Hoffnung, dass bei Linde wieder Ruhe einkehrt, ruht auf ihm.

Und das ist längst nicht alles. Reitzle muss nicht nur einen Führungskampf schlichten und die Gemüter im Vorstand beruhigen. Vielmehr muss der Linde-Chefkontrolleur auch noch eine Riesenübernahme mitkoordinieren.

Als am Dienstag dieser Woche bekannt wurde, dass Linde und der US-Konkurrent Praxair schon seit Wochen über einen Zusammenschluss sprechen, schoss der Aktienkurs der beiden Konzerne zeitweise um mehr als zehn Prozent nach oben. Geht der Deal durch, entstünde der weltweit größte Hersteller von Industriegasen. Linde kam zuletzt auf einen Umsatz von knapp 18 Milliarden Euro, Praxair auf die Hälfte.

Doch die Fusion ist schwierig, denn der Gasemarkt ist bereits hochgradig konsolidiert. Nur vier Anbieter kontrollieren drei Viertel des Weltmarktes. Wenn überhaupt dürften die Kartellbehörden die Fusion nur unter strengen Auflagen genehmigen.

Ein Manager mit Fingerspitzengefühl

Reitzle, der seine Karriere in den Siebzigerjahren als Entwickler bei BMW begann, hat eine Charaktereigenschaft, die unter Topmanagern nicht oft anzutreffen ist: Er ist zum einen der harte, manchmal rabiate und entscheidungsstarke Manager, hat aber gleichzeitig extrem feine Antennen, um Stimmungen und Befindlichkeiten zu erspüren.
Egal, mit wem man über Reitzle spricht, es fällt jedes Mal das Wort „sensibel“.

Als er etwa als Linde-Chef vor gut zehn Jahren den britischen Gasekonzern BOC übernehmen wollte, sprach Reitzle von Anfang an von einem Zusammenschluss unter Gleichen: BOC-Chef Tony Isaac sollte sein Gesicht wahren können. Dabei wusste jeder, dass es sich bei dem Deal um eine Übernahme handelte.

Schließlich unterbreitete Reitzle Isaac hinter verschlossenen Türen das sehr niedrige Angebot von 15 Pfund je Aktie. Das Problem: Durch eine Indiskretion wurde die freche Offerte öffentlich. Manche der Banker und Berater, die Reitzle um sich geschart hatte, glaubten, mit öffentlichem Druck würde man den BOC-Chef in die Knie zwingen.

Aber Reitzle erkannte die Gefahr, Isaac könnte öffentlich blamiert dastehen. Bei einer Telefonkonferenz mit allen beteiligten Wirtschaftsprüfern, Bankern und Beratern soll Reitzle getobt haben. „Der hat gedroht, sie alle rauszuschmeißen“, berichtet einer, der dabei war. Schließlich fuhr Reitzle nach London, zu einem Vier-Augen-Gespräch mit Isaac – und tütete den deutsch-britischen Deal zu einem Preis von 16 Pfund pro Aktie ein. So viel Fingerspitzengefühl wird er nun wieder brauchen.

Streit zwischen Büchele und Denoke

Lindes Vorstandschef Büchele und Finanzvorstand Denoke sind zerstritten, und das schon seit Bücheles Amtsantritt vor zwei Jahren. Der Finanzmann Denoke soll damals selbst am Chefsessel bei Linde interessiert gewesen sein, sagen Insider. Als dann im Mai 2014 nicht er, sondern der frühere BASF-Manager Büchele den Job bekam, habe Denoke gekocht und fortan an Bücheles Stuhl gesägt, heißt es intern.

Umsatz und operativer Gewinn der Linde AG weltweit

Im vergangenen Spätherbst – die Geschäftsaussichten für Linde trübten sich merklich ein – habe er sich etwa klar und deutlich für eine Gewinnwarnung ausgesprochen, berichtet ein Insider. Es wäre die zweite innerhalb von zwölf Monaten gewesen. Büchele sei ebenso klar gegen die Warnung gewesen. Es kam zum Streit, am Ende ging die Gewinnwarnung raus.

Es soll ein Putschversuch gewesen sein, die Vorlage dafür kam möglicherweise von Siemens: Im Sommer 2013 gab der damalige Chef Peter Löscher eine Gewinnwarnung aus, ebenfalls die zweite innerhalb weniger Monate, forciert vom damaligen Finanzvorstand. Die Meldung beschleunigte Löschers Karriereende bei Siemens erheblich, hieß es damals in der Branche.

Reitzle tritt häufig oberlehrerhaft auf

Vollends eskalierte der Machtkampf bei Linde, als vor wenigen Wochen anonyme Briefe auftauchten, in denen dem Vorstandschef Büchele Untreue vorgeworfen wird.
Es ging um angeblich zu viel gezahlte Abfindungen; Büchele und seine Mannschaft wiesen die Vorwürfe von sich.

Als hätte Linde nicht genügend Sorgen: Zwar konnte der Konzern mit seinen 65 000 Mitarbeitern im ersten Halbjahr seinen Gewinn steigern. Doch im Anlagenbau gibt es vor allem aufgrund des niedrigen Ölpreises und der Krisen in den einstigen Boomstaaten Russland, Brasilien und China Probleme. Im vergangenen Jahr schrumpfte der Umsatz in der Sparte um 16,5 Prozent auf knapp 2,6 Milliarden Euro. Das operative Ergebnis fiel von 300 Millionen Euro auf 216 Millionen Euro. Im ersten Halbjahr des laufenden Jahres setzte sich die Talfahrt fort: Der Umsatz fiel noch einmal um fast 20 Prozent, der Auftragsbestand schnurrte um fast zehn Prozent zusammen.

Deshalb wird es Zeit, dass Reitzle, den Vertraute bisweilen als ruppig beschreiben, den Konzern von dem Führungsstreit befreit. Öffentlich hat sich der Aufsichtsratschef noch nicht zu dem Fall geäußert. Intern hat er Vertrauten zufolge bislang auch noch kein Zeichen gesetzt. Aber das dürfte bald kommen.

Zwar hat Reitzle, berichtet ein Vertrauter, eine klare Meinung zu Denoke: Ein ausgezeichneter Finanzvorstand sei der frühere Vodafone-Manager, aber sicherlich kein Vorstandschef. Doch das heißt noch nichts. Mit Büchele hat er auch nicht unbedingt viel gemein. Per Brief, so heißt es, habe Reitzle sich noch vor seinem Antritt als Linde-Oberaufseher beim Konzernchef über dessen Arbeit beklagt.

Reitzle hat seinen steilen Aufstieg bei BMW zum Forschungsvorstand in den Achtzigerjahren seiner technischen Brillanz, aber genauso seinem Talent zu verdanken, wichtige Leute für sich zu gewinnen. Vor Präsentationen neuer Modelle etwa schrieb Reitzle dem damaligen BMW-Chef Eberhard von Kuenheim jedes Mal detailliert auf, welche Fragen er den Entwicklern stellen soll, berichtet ein Weggefährte.

Vorlesung statt Pressekonferenz

Doch mit dem Erfolg hat sich bei Reitzle ein oberlehrerhaft-professoraler Stil eingeschlichen, bei dem ihm beispielsweise seine Pressekonferenzen als Linde-Chef zuletzt nicht selten zu volkswirtschaftlichen Vorlesungen gerieten.

Hinzu kommt: Reitzle, der seinen Hang zum Luxus offen zelebriert, darüber sogar ein Buch geschrieben hat, und als Hobbywinzer auf seinem Weingut in der Toskana mindestens so viel Ehrgeiz an den Tag legt wie im Job, pflegte als Linde-Vorstandschef zuletzt einen autokratischen Führungsstil. So zumindest berichten es ehemalige Manager des Gasekonzerns und Anlagenbauers. Wie auf dem Exerzierplatz sei es unter Reitzle manchmal zugegangen.

Eine Entscheidung im Machtkampf naht

Nachfolger Büchele, der im Umgang eher als nahbar und jovial gilt, wollte damit brechen. Immer wieder sprach er intern davon, die Mannschaft möge den Krawattenknoten lockern. „Wir müssen die Symbiose hinbekommen zwischen Ordnung und kreativem Chaos, das man braucht, um mit den sich immer schneller verändernden Märkten Schritt zu halten“, sagte Büchele im Mai in einem Interview. Es ist ein Versuch des Kulturwandels, mit dem manche bei Linde nicht umgehen können und wahrscheinlich Reitzle selbst auch nicht.

Bereits im September könnte der Aufsichtsratschef ein Zeichen setzen. Dann nämlich soll Bücheles Vertrag verlängert werden. Im Konzern heißt es, Reitzle tendiere im Moment dazu, den Vertrag mit dem aktuellen Chef zu verlängern. Aber ganz sicher sei das noch nicht. Gehen am Ende beide, Denoke und Büchele?

Es gibt Manager bei Linde, die meinen, es ließen sich extern sicherlich Vorstände finden, die besser zu dem Gasekonzern passen als die beiden.

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