Linde vs. Air Liquide Geräuschlos gegen extrovertiert

Wer wird die Lichtgestalt einer der sprödesten Industriebranchen: Wolfgang Reitzle, der Chef des deutschen Gaseherstellers, oder Benoît Potier vom französischen Erzrivalen Air Liquide?

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Die größten Chemiekonzerne der Welt
Das Mitsubishi Chemical-Werk in Yokohama Quelle: Pressebild
Platz 8: Dupont Quelle: dpa
Platz 7:LyndellBasell Quelle: AP
Screenshot Formosa Plastics Quelle: Screenshot
Platz 4: Exxon Mobil Quelle: Reuters
Platz 6: Sabic Quelle: dpa
Platz 6: Shell Quelle: Reuters

Als Mann der leisen Töne ist Wolfgang Reitzle nicht bekannt. „Wir sind ein unkaputtbares Unternehmen“, verkündete der Vorstandsvorsitzende des Industriegaseherstellers Linde kürzlich selbstbewusst. Tatsächlich hat der frühere Automobilmanager Linde in seiner neunjährigen Amtszeit zu einem erfolgreichen Konzern geformt. Gabelstaplergeschäft und Kältetechnik sind abgestoßen. Galt Linde Anfang 2003 mit einem Börsenwert von drei Milliarden Euro noch als Übernahmekandidat, gehört Reitzle nach einer Versiebenfachung jetzt zu den Angreifern. Doch eines blieb dem ehrgeizigen Manager bislang verwehrt – seinen Kontrahenten Benoît Potier von Air Liquide vom Thron des Weltmarktführers zu stoßen.

Potier hat die Nase vorn

Auch wenn Linde dem Franzosen in den vergangenen Jahren sehr nahe gekommen ist: Mit einem Marktanteil von 22 Prozent, einem Umsatz von 14,5 Milliarden Euro und einem Börsenwert von etwa 25,5 Milliarden Euro hat Potier bis heute die Nase vorn. Reitzle setzt nur 13,8 Milliarden Euro um, beherrscht 20 Prozent des globalen Gasegeschäfts und bringt 3,5 Milliarden Euro weniger aufs Börsenparkett.

Aktien-Info Linde Quelle: Bloomberg, Thomson Reuters

Mit der angekündigten Übernahme von Lincare, einem amerikanischen Hersteller medizinischer Gase für den Heimgebrauch, könnte Reitzle aber triumphieren. Und endlich beweisen, dass Typen wie er stärker und erfolgreicher sind als die Sorte Franzosen, die Potier repräsentiert. Dann wäre aller Welt bewiesen: glamourös, eitel und charismatisch schlägt am Ende unprätentiös, zurückhaltend und grau.

Offiziell mieden die beiden unterschiedlichen Charaktere stets den direkten Vergleich. Reitzle freute sich allenfalls mal darüber, wie Linde sich „hochgearbeitet“ habe – ein Fingerzeig auf die 11,7 Milliarden Euro teure Übernahme des britischen Konkurrenten BOC vor sechs Jahren. Potier wiederum weigerte sich, überhaupt einen Zweikampf zwischen den beiden Konzernen zu erkennen. Die Frage nach einem Wettkampf werde „vor allem von deutscher Seite häufig gestellt“, sagte Potier der WirtschaftsWoche in einem seiner raren Interviews. „Für uns zählen in erster Linie Rentabilität und Dividende.“

Reitzle hat kräftig aufgeholt

Dennoch ist mit dem Lincare-Coup auch die Bühne für die Wahl des Top-Models in einer eher spröden Branche eröffnet, die Industrie, Handwerk oder Hospitäler mit Sauerstoff, Stickstoff oder Aceton in Flaschen beliefert.

Keine Frage: Reitzle hat kräftig aufgeholt. Als der Mann mit dem Menjou-Bärtchen 2002 in den Linde-Vorstand aufrückte, nahmen ihn viele zunächst nicht richtig ernst. Mit Ehefrau und TV-Moderatorin Nina Ruge, Maßanzügen und schnellen Sportwagen schaffte er es häufiger in die Klatschspalten als in den Wirtschaftsteil der Presse. Industriegase, so wurde geargwöhnt, sei viel zu langweilig für den promovierten Ingenieur, der sich Hoffnung auf den Chefposten bei BMW gemacht hatte. Reitzle war dort Technikvorstand, bevor er 1999 aus Frust zu Ford wechselte, wo er für die Edelmarken Aston Martin, Jaguar und Lincoln verantwortlich war.

Der unauffällige Rivale

Benoit Potier Quelle: AP

Reitzle-Rivale Potier dagegen setzt auf innere Werte und Tradition. Der gebürtige Elsässer braucht weder Öffentlichkeit noch Machtsymbole. Vor 15 Jahren wurde er Generaldirektor des Weltmarktführers Air Liquide. 2006 stieg er zum Président Directeur Général (PDG) auf und damit zum unumschränkten Machthaber über eines der wichtigsten Unternehmen im französischen Börsenleitindex CAC 40.

Auch wenn er keine der bekannten französischen Hochschulen wie ENA oder École Polytechnique absolviert hat, ist der 55 Jahre alte Potier doch ein typisches Produkt französischer Elite-Bildung. Der gertenschlanke Ingenieur mit dem stets tadellosen Krawattenknoten besuchte nach der École Centrale des Arts et Manufactures in Paris die renommierte Managementschule Insead in Fontainebleau. Ein Gesellschaftslöwe war Potier nie: Er ist unauffällig und unspektakulär, solide und effizient.

Wandel bei Reitzle

Möglicherweise hat Reitzle von Potier gelernt, dass ein Glamour-Image beim Gase-Verkauf wenig nützt. Seit er zu Linde wechselte, beobachten Weggefährten einen Wandel bei dem 63-Jährigen. Er gibt sich solide, unauffällig und hat seinen Konzern fast geräuschlos auf Wachstum und Nachhaltigkeit getrimmt.

Im Bemühen zu wachsen, sind sich der Franzose und der Deutsche dagegen ähnlich. Nach seinem bisher größten Coup, der Übernahme von BOC, konzentrierte sich Reitzle zunächst auf den Abbau der Schulden, suchte dann aber nach neuen Geschäftsfeldern. Die Alterung der Gesellschaft öffnet so ein Zukunftsfeld, weil damit der Bedarf an Dienstleistungen im Gesundheitswesen rasant wachsen dürfte. Mit Macht trieb der Linde-Chef darum das Geschäft mit medizinischen Gasen voran, beispielsweise zur Sauerstoff-Versorgung von Patienten, die an Atemnot leiden.

Folgerichtig übernahm Reitzle im Januar vom US-Industriegasespezialisten Air Products & Chemicals dessen Sparte für häusliche Pflege. Mit der Integration von Lincare würde Linde das US-Geschäft mit medizinischen Gasen für den Heimgebrauch auf einen Schlag verdreifachen. Lincare versorgt in den USA rund 800 000 Patienten. Die Übernahme wäre für Reitzle der krönende Abschluss seines Schaffens bei Linde, bevor sein Vertrag 2014 ausläuft.

Kranke als neue Kunden

Ob Linde Air Liquide bis dahin wirklich abgehängt hat, ist aber noch nicht sicher. Denn auch Potier ist für überraschende Deals gut. In Deutschland kaufte Air Liquide vor einigen Jahren den Industriegasehersteller Lurgi sowie einen großen Teil von Messer Griesheim. Dass Air Liquide dadurch einer der Big Player im deutschen Gasegeschäft wurde und hier Umsätze erzielt, die etwa zwei Drittel des französischen Volumens erreichen, wissen östlich des Rheins nur Insider. Zukünftige Übernahmemöglichkeiten sieht Potier, wenn Unternehmen ihre eigenen Gaseaktivitäten outsourcen und im Gesundheitssektor. Auch der Franzose hat Kranke und Gebrechliche als neue Kunden erkannt. Derzeit kauft er für 316 Millionen Euro die LVL Medical Groupe in Lyon. Das Unternehmen hat seinen Schwerpunkt in Sauerstoffgeräten für die häusliche Pflege.

Nicht ausgeschlossen, dass der Wettkampf Reitzle versus Potier sowieso ohne Sieger endet. Denn anders als der Franzose gilt sein deutsches Pendant immer noch als potenzieller Wechselkandidat. Vorausgesetzt, ihm bieten sich größere Aufgaben.

2007 war es fast so weit, als Siemens, erschüttert von einem Korruptionsskandal, einen neuen Vorstandsvorsitzenden brauchte. Der damalige Deutsche-Bank-Chef und Siemens-Kontrolleur Josef Ackermann empfahl Reitzle, Siemens-Aufsichtsratschef Gerhard Cromme entschied dagegen, weil er ihn für zu extrovertiert und schwer kontrollierbar hielt, wie Siemens-Insider berichten. Beim nächsten Mal könnten die Chancen besser stehen.

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