Linde Wolfgang Reitzles Griff nach der Weltherrschaft

Mit der Fusion mit Praxair will Linde-Chef Wolfgang Reitzle sein Lebenswerk krönen - um jeden Preis, und vielleicht mit Hilfe eines Betriebsrats aus Sachsen.

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Linde: Reitzle will sein Lebenswerk krönen - mit der Fusion mit Praxair. Quelle: Bloomberg

Die Reihen beim Münchner Management Kolloquium haben sich schon merklich gelichtet, als Wolfgang Reitzle auf die Bühne tritt. Es ist später Nachmittag, ein Dienstag Mitte März, und der Linde-Aufsichtsratschef soll vor Wirtschaftsvertretern und Studenten erklären, wie sich Unternehmen im Zeitalter der Digitalisierung neu erfinden.

Reitzles Gesicht ist leicht gerötet, ein wenig mechanisch spult der 68-Jährige herunter, wie sich etwa der Weinversand Hawesko, der Autozulieferer Continental und der Industriegasekonzern Linde in der neuen digitalen Welt positionieren – alles Unternehmen, bei denen er selbst im Aufsichtsrat sitzt.

Für anschließende Fragen hat der Multikontrolleur dann kaum noch Zeit. Rasch strebt er Richtung Ausgang. Extrem angespannt sei der Linde-Oberaufseher gerade, heißt es in seinem Umfeld.

Tatsächlich steht er kurz vor dem Griff zur Weltherrschaft im Industriegase-Geschäft. Die will er um jeden Preis, egal, was es kostet und wie viele Feinde er sich damit macht.

Im Sommer 2016 hatte Linde eine Fusion mit dem US-Konkurrenten Praxair geprüft, sie aber wegen eines Machtkampfs im Vorstand zu den Akten gelegt. Im Dezember machte Reitzle mit dem neuen Vorstandschef Aldo Belloni einen zweiten Anlauf.

Anfangs, so schien es zumindest, lief die Sache ziemlich glatt. Kapital- und Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat von Linde zogen bei dem Projekt an einem Strang. Es wurden Pläne geschmiedet, Beschäftigungsgarantien erarbeitet. Mittlerweile jedoch stemmen sich die Betriebsräte mit Wucht gegen die Fusion. Sie fühlen sich getäuscht – und das auch von Reitzle.

Lange hatte es geheißen, bei dem Zusammenschluss zum größten Industriegasekonzern der Welt handele es sich um eine Fusion unter Gleichen. Doch dann sorgte Praxair-Chef Stephen Angel für Zweifel bei den deutschen Mitarbeitern. In kleiner Runde gab der zum Besten, dass der fusionierte Konzern mit operativem Sitz in Danbury in den USA nach dem „amerikanischen Modell“ geführt werde und „klar“ sei, dass Praxair „auf dem Fahrersitz“ sitze.

Das ist die Linde Group

Seitdem fürchten Arbeitnehmervertreter einen Stellenabbau an den deutschen Standorten. Ihren Widerstand gegen die vor allem von Reitzle und weniger von Vorstandschef Belloni vorangetriebene Fusion haben sie deshalb zuletzt beinahe im Wochenrhythmus verschärft. Reitzle selbst hat den Konflikt ordentlich befeuert, indem er drohte, die Fusion im Zweifel mithilfe seines Doppelstimmrechts im Aufsichtsrat durchzudrücken. Das glich einer Kriegserklärung. Schließlich greifen Aufsichtsratsvorsitzende nur dann zu diesem Mittel, wenn es gar nicht anders geht.

Den vorläufigen Höhepunkt erreichte das Geschacher um den deutsch-amerikanischen Deal mit der Linde-Aufsichtsratssitzung Anfang April. Da prallten die Positionen der Anteilseigner und Arbeitnehmervertreter erneut hart aufeinander. „Das war nicht mehr Florett“, heißt es in Aufsichtsratskreisen mit Blick auf die Stimmung während des vierstündigen Treffens. Die Abgesandten der Arbeitnehmer geben sich unversöhnlich. Bei der entscheidenden Abstimmung Anfang Mai, so erklären sie es in diesen Tagen, wollen sie geschlossen gegen die Fusion votieren. Kundgebungen an zahlreichen europäischen Standorten sollen die Stimmung gegen den Zusammenschluss noch anheizen.

Showdown im Aufsichtsrat

Es ist eine Situation, wie sie verfahrener kaum sein könnte. Noch vor fünf Wochen hatte Linde-Chef Belloni erklärt, einem Kompromiss mit den Arbeitnehmern sehr nah zu sein, und versprochen, dass die Fusion auf keinen Fall gegen ihren Willen zustande käme. Mit der Ankündigung, im Zweifel von seinem Doppelstimmrecht Gebrauch machen zu wollen, hat Reitzle sich über seinen gerade einmal seit gut vier Monaten amtierenden Vorstandschef hinweggesetzt. Neue Angebote an die Arbeitnehmer – etwa eine Ausweitung der Mitbestimmung nach dem Zusammenschluss mit den Amerikanern –, um die Bedenkenträger doch noch umzustimmen, sind Insidern zufolge unwahrscheinlich.

An einer salomonischen Lösung hat Reitzle offenbar kein Interesse. Wegen der verhärteten Fronten erwägt Linde inzwischen, die Abstimmung über die Fusion im Aufsichtsrat zu verschieben. Dadurch könnte der gesamte Zeitplan ins Rutschen kommen und der Zusammenschluss, sollte er denn überhaupt noch kommen, kaum vor Ende 2018 unter Dach und Fach sein.

Poker um Praxair

Warum die Arbeitnehmer einknicken könnten

Dabei hätte sich Reitzle die Drohung wahrscheinlich sogar sparen können. Denn die Arbeitnehmerfront steht vermutlich gar nicht so geschlossen, wie es derzeit scheint. Ein Betriebsrat aus Dresden jedenfalls kann eigentlich gar nicht gegen die Fusion stimmen, wenn es im Aufsichtsrat zum Schwur kommt. Denn dann würden die von ihm vertretenen 550 Kollegen im Dresdner Linde-Werk wahrscheinlich sehr schnell ihre Jobs verlieren.

Der Mann, der sein Gewissen nun intensiv prüfen muss, heißt Frank Sonntag. Er ist seit 16 Jahren bei Linde, steht dem Betriebsrat in Dresden vor und sitzt im Aufsichtsrat des Konzerns. Das ostdeutsche Werk des Gasekonzerns ist einer der wichtigsten Arbeitgeber der Region, arbeitet allerdings seit Jahren defizitär. Rein ökonomisch betrachtet, müsste Linde das Werk dichtmachen. Ausgerechnet die Fusion mit Praxair könnte jedoch die Arbeitsplätze in Dresden retten. Denn als Gegenleistung für ihre Zustimmung bekämen die Mitarbeiter von Linde in Deutschland eine Beschäftigungsgarantie bis Ende 2021. Das wurde bereits mit dem Betriebsrat ausgehandelt. Platzt die Fusion, ist die Beschäftigungsgarantie hinfällig, auch für Dresden.

Sonntag muss eigentlich die Interessen seiner sächsischen Kollegen vertreten, und das hieße: im Aufsichtsrat für die Fusion stimmen. Bislang hält er noch zu seinen Betriebsratskollegen aus den anderen Regionen und stemmt sich dagegen. Bis zum Schluss durchziehen kann er das allerdings kaum. Darum wundert es auch nicht, dass es beim europaweiten Linde-Aktionstag der IG Metall ausgerechnet in Dresden keine Kundgebung geben soll.

„Frank Sonntag hat sich im vergangenen halben Jahr wahnsinnig für den Standort Dresden eingesetzt“, sagt Günter Bruntsch, ehemaliger Chef des ostdeutschen Linde-Werks, und fügt voller Überzeugung hinzu, der Betriebsrat müsse für die Fusion stimmen. „Für Dresden wäre der Zusammenschluss mit den Amerikanern eine positive Sache.“

Eine positive Sache für Reitzle wäre es wiederum, wenn er den Fusionsbeschluss eben nicht mit der Brechstange durchsetzen müsste – sondern mithilfe von Betriebsrat Sonntag und ohne peinlichen Showdown im Aufsichtsrat.

Mit dem Erfolg kam die Arroganz

Dass es um alles geht, ist Reitzle anzumerken. Dünnhäutig sei er geworden, berichten Beobachter, die mit ihm in diesen Tagen zu tun haben. Von einem kühlen Kopf, den man von einem Aufsichtsratschef eigentlich erwartet, sei nichts mehr zu spüren. Auf der Sitzung des Kontrollgremiums in der vergangenen Woche habe Reitzle selbst harmlose, rein sachliche Einwände gegen die Fusion barsch vom Tisch gewischt. Die Rede ist von einem Mann, der „sich eingegraben“ und in eine Idee verrannt habe. Es scheine, als stecke er in einem Tunnel, berichtet einer aus seinem Umfeld. Er sei eben ein sehr emotionaler Mensch, sagt ein anderer.

Nicht nur vom Ego getrieben

Dabei war Reitzle stets für seinen Pragmatismus bekannt. In den Jahren bis 2014, als Vorstandschef bei Linde, hat er aus dem margenschwachen Gasehersteller einen profitablen und schlagkräftigen Konzern geformt, hat das Geschäft mit Gabelstaplern verkauft und durch geschicktes Taktieren 2006 den britischen Konkurrenten BOC übernehmen können.

Umsatz und operativer Gewinn der Linde AG weltweit

Doch mit dem Erfolg kam auch die Arroganz. So entwickelte er etwa zu den in Deutschland geltenden Regeln guter Unternehmensführung (Corporate Governance) eine recht eigenwillige Haltung. 2013 erklärte er ausführlich, warum die Regel, wonach ein Vorstand nicht direkt in den Aufsichtsrat wechseln soll, für ihn nicht gelten muss. Schließlich sei er nicht als „Underperformer der deutschen Wirtschaft“ bekannt.

Menschen, die ihn kennen, sagen ihm extremen Ehrgeiz nach. Bei den Spezialtouren etwa, die Bergsteigerlegende Reinhold Messner für Topmanager anbietet, marschiert Reitzle stets vornweg, berichtet ein Teilnehmer. Treffe man sich um vier in der Früh, stehe Reitzle zehn Minuten vorher in perfekt sitzender Montur und mit sauber gepacktem Rucksack am Treffpunkt.

Reitzle will sich nicht ausbremsen lassen

Fährt er mit Freunden Ski und stürzt, ergeht er sich, statt lässig darüber hinwegzugehen, in ausführlichen Erklärungen darüber, warum der Sturz gerade an der Stelle nahezu unausweichlich war. Als Hobbywinzer auf seinem Weingut in der Toskana legt Reitzle den gleichen Perfektionismus an den Tag wie im Berufsleben. Gerade wegen dieser Neigung dürfte den erfolgsverwöhnten Manager die vertrackte Situation im Fusionspoker doppelt nerven.

Die Fusion mit Praxair sei ja längst nicht nur von seinem Ego getrieben. Bei 28 Milliarden Euro Umsatz pro Jahr ließe sich eine Milliarde Euro Synergien heben, hat die Konzernspitze errechnet. Deshalb sind die Investorenvertreter im Aufsichtsrat auch für den Zusammenschluss. Die Gewerkschaften aber fürchten, die Synergien könnten vor allem bei Linde gehoben werden. Schon jetzt läuft bei dem Gasekonzern ein Effizienzprogramm, das 370 Millionen Euro an Einsparungen bringen soll. Allein in Deutschland wollen die Münchner 950 Stellen abbauen. Kritiker der Fusion aus dem Arbeitnehmerlager weisen zudem darauf hin, dass Linde für seine Aktionäre mehr Wert schaffen könnte, wenn der Konzern Baustellen wie den schwächelnden Anlagenbau selbst in Ordnung bringt.

Doch das ist aus der Perspektive eines Wolfgang Reitzle Kleinkram. Er will den weltgrößten Anbieter von Industriegasen schmieden – als wohl letzte Möglichkeit, sein Lebenswerk zu krönen.

Dieses Werk soll nicht gefährdet werden, auch nicht von ein paar Bedenkenträgern im Betriebsrat.

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