Medikamente Wie die Pharmaindustrie mit Schmerzen gewinnt

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Krankenkassen geben 1,8 Milliarden Euro für Schmerzmittel aus

Die gesetzlichen Krankenkassen gaben im vergangenen Jahr rund 1,8 Milliarden Euro für Schmerzmittel aus.
Dazu kommt das Geld, das die Menschen aus eigener Tasche zahlen: mehr als eine halbe Milliarde Euro allein im vergangenen Jahr. Für die Pharmakonzerne sind die Schmerztabletten eine perfekte Geldmaschine, frei von wirtschaftlichem Risiko, was den Anreiz zum Verkauf nicht gerade hemmt. Die Wirkstoffe sind seit Jahrzehnten die gleichen. Es ist über 100 Jahre her, dass Bayer seine erste Aspirin herstellte. Das Patent für den Wirkstoff ist längst abgelaufen. Doch der Konzern macht heute knapp eine Milliarde Euro Umsatz mit seinem Produktpromi. Und welche Vorteile das hat, ließ sich erst Ende vergangener Woche wieder beobachten: Als der US-Pharmakonzern Bristol-Myers Testprobleme bei einem vielversprechenden Lungenkrebsmittel bekannt gab, wurden an der Börse 35 Milliarden Dollar Kapital kurzfristig vernichtet. Solche Risiken drohen den Konzernen bei den Schmerzmitteln nicht: Im Gegensatz zu forschungsintensiver, teurer Medizin verkauft sich das Versprechen auf Schmerzfreiheit fast ohne Aufwand.

Zumindest in einer Gesellschaft, die sich keine Ausfälle leisten will. Hier sorgen Schmerzmittel dafür, dass der Alltag reibungslos läuft. Wenn Zahn, Rücken oder Kopf rebelliert, können wir nicht arbeiten, nicht lernen, nicht einmal entspannen. Fast ein Drittel der Deutschen hat bereits Medikamente zur Leistungssteigerung oder Stimmungsaufhellung ohne medizinische Notwendigkeit eingenommen, ergab eine Umfrage der Hamburger Krankenkasse DAK-Gesundheit. Gerade in Ländern, deren Wohlstand auf Effizienz und Leistung basiert, wirken Schmerzmittel unverzichtbar: Australien, Frankreich, Kanada, Belgien. Hier schlucken die Menschen die meisten rezeptfreien Schmerzmittel. Industrien, in denen Schmerz auch Stillstand bedeutet. Weltweit wurden im vergangenen Jahr rund 56 Milliarden Dollar für Medikamente ausgegeben, die das Schmerzempfinden lahmlegen und Menschen wieder einsatzfähig machen sollen.

Bittere Pillen

Der Pharmakologe Gerd Glaeske, Autor des Nachschlagewerks „Bittere Pillen“, findet das höchst beunruhigend. Er kritisiert: „In Deutschland schlucken die Menschen zu oft, zu viel und zu lange vor allem selbst gekaufte Schmerzmittel.“ Damit riskieren sie nicht nur lebensgefährliche Nebenwirkungen wie Magenbluten, Leber- und Nierenversagen, Herzinfarkt oder Schlaganfall. Sie kaschieren auch eine Botschaft ihres Körpers: „Schmerz ist immer ein Signal“, warnt der an der Universität Bremen forschende Professor. So können Schmerzen auf eine schwerwiegende Erkrankung wie beispielsweise einen Tumor hinweisen. Ganz gleich, ob mit oder ohne ärztliche Begleitung, wird seiner Meinung nach Schmerz viel zu oft einfach wegbehandelt, ohne nach den Ursachen zu suchen.

Weltweit nahezu einmalig sei dabei die in Deutschland immens hohe Rate der selbst verordneten Pillen, rechnet Glaeske vor: „Von 145 Millionen in Deutschland verkauften Schmerzmittelpackungen sind 112 Millionen ohne Rezept vertrieben worden – dieses Ausmaß ist mehr als bedenklich.“ Glaeske forscht an den Ursachen. Und er hat festgestellt, dass zunehmend junge Erwachsene und Jugendliche ganz selbstverständlich Schmerzmittel schlucken – gerne auch mit Koffein als Inhaltsstoff –, um sich fit und dem täglichen Stress gewachsen zu fühlen.

Mit Schmerzmitteln Weltmeister werden

Und je höher die Ansprüche, umso mehr Tabletten werden geschluckt. Fußballweltmeisterschaft in Brasilien. Die deutsche Mannschaft hat bereits sechs Spiele hinter sich, jetzt steht sie im Finale gegen das starke Argentinien. Eine Milliarde Menschen haben den Fernseher eingeschaltet. Als Schweinsteiger, Lahm und Özil auf den Platz einlaufen, hat ein Fünftel aller deutschen Spieler vorsichtshalber ein Schmerzmittel geschluckt.

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