Medikamente Wie die Pharmaindustrie mit Schmerzen gewinnt

Die Gesundheitsindustrie hat ein Wundermittel entdeckt, zumindest für ihre Bilanzen: Schmerzmittel. Die bringen ordentliche Margen – und schüren bei Patienten die Hoffnung, immer verfügbar zu sein.

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So viel zahlen Pharmakonzerne an Ärzte und Kliniken
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Sobald die Haut verletzt wird, Bakterien das Gewebe entzünden oder eine Operation vorbei ist, beginnt im menschlichen Körper ein Kampf der kleinen Stoffe.
Die geschädigte Stelle schickt Nervenimpulse los, die sagen: Hier stimmt etwas nicht, tu was! Das Rückenmark sendet Endorphine aus, die beruhigen sollen. Derweil bewertet das Gehirn die Situation: Wie reagieren? War das gewollt? Wann ist es vorbei? Das Ergebnis kann man im Gegensatz zu Temperatur, Blutdruck oder Puls nicht messen. Schmerz, den kann man nur fühlen.

Manchmal jedoch mischt sich ein weiterer Stoff in die Blutbahn. Er blockiert die Schaltzentralen. Im Hirn kommt dann nichts an, was irritiert. Der Stoff betäubt, manchmal berauscht er sogar. Im Kampf gegen Schmerz ist nichts so effektiv wie ein Opioid, ein starkes Schmerzmittel. Für Menschen mit Krankheiten wie Krebs sind solche Mittel ein Segen. Die Qual wird so zumindest etwas reduziert. Doch 90 Prozent der Opioide werden mittlerweile bei Nichttumorpatienten angewendet. Bei Menschen wie Markus Brack.

Der 39-jährige Unternehmer organisiert große Konzerte in Nordrhein-Westfalen und hat in Wirklichkeit einen anderen Namen, unter dem er bei Geschäftspartnern als Erfolgstyp bekannt ist: Brack wirkt fit, seine blaugrünen Augen leuchten vereinnahmend, er ist ständig unterwegs und voller Energie. Als er vor drei Jahren nach einer Kieferoperation nach Hause kommt, fühlt er sich, als sei sein Kopf in einen Schraubstock gespannt. Ein befreundeter Apotheker bringt ihm eine kleine Schachtel mit einem Fläschchen. Er liest die Packungsbeilage, hier steht nichts Alarmierendes. Also lässt Brack 20 Tropfen auf einen Teelöffel gleiten und schluckt sie hinunter.

Plötzlich tiefenentspannt

Als der Wirkstoff in seine Blutbahn gelangt, verschwinden die Kieferschmerzen nach wenigen Minuten. Nach drei Tagen bemerkt Brack jedoch noch eine zweite Wirkung. Als er und seine Frau wegen einer Lappalie diskutieren, bleibt er seltsam gelassen. Was ihn früher direkt aufregte, ist plötzlich belanglos. Der permanent gestresste Unternehmer ist auf einmal tiefenentspannt. Sobald die Wirkung der Tropfen nachlässt, fühlt er sich unwohl. Zu diesem Zeitpunkt bezeichnet Brack das noch als Schmerz.

Als das erste Fläschchen leer ist, druckt sein Arzt ihm deshalb ein neues Rezept aus, so wie das immer mehr Mediziner machen. Sie verordnen heute dreimal so viel der starken Schmerzmittel wie noch vor 20 Jahren.

„Wenn ich gewusst hätte, was das am Ende mit mir macht, hätte ich das natürlich nie genommen“, sagt Brack heute, drei Jahre später. Er sitzt in einer weitläufigen Villa, in deren Innerem vor zehn Jahren eine Klinik eingerichtet wurde: In der My Way Betty Ford Klinik in Unterfranken versuchen Menschen wie Brack, von einer starken Sucht loszukommen. Seine Droge heißt Tilidin. Sie wurde kreiert, um kaum aushaltbare Schmerzen zu lindern. Doch für Brack wurde das Akutmittel zu einer Sucht auf Rezept.

Die Fakten zum BKK-Gesundheitsreport 2015
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Eine Frau an einem See Quelle: dpa
Eine Frau Quelle: dpa
Schild mit der Aufschrift Arzt Quelle: dpa
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Rentenbescheid Quelle: dpa

In Deutschland sind schätzungsweise 300.000 Menschen von Opioiden abhängig, in den Vereinigten Staaten von Amerika bereits mehr als zwei Millionen. Jeden Tag sterben dort rund 80 Menschen an einer Überdosis; die allermeisten in der Anonymität, manche im Scheinwerferlicht der Medienwelt, wie zuletzt der Sänger Prince. Was bei ihnen extrem endete, ist gleichzeitig Teil eines viel größeren Phänomens.

50 Tabletten pro Jahr

Dieses andere, größere Phänomen zeigt sich in Handtaschen, Schreibtischschubladen, Nachttischen, Sporttaschen. Es zeigt sich bei Büroangestellten, Handwerkern, Männern, Frauen, Jugendlichen, Senioren, Chefs und Mitarbeitern. Es ist selbstverständlicher Bestandteil im deutschen Alltag; wenn man so möchte, das Treibmittel der westlichen Leistungsgesellschaft, für viele der Schmierstoff auf dem langen Karriereweg nach oben, weil er stete Leistungsbereitschaft garantiert: Mehr als 112 Millionen Packungen Schmerzmittel haben die Deutschen im vergangenen Jahr gekauft – ohne Rezept, auf eigene Faust, frei von ärztlicher Anweisung. Die Schmerztablette ist das universelle Flickzeug für den Körper. Rund 50 Tabletten schluckt jeder Deutsche pro Jahr.

Krankenkassen geben 1,8 Milliarden Euro für Schmerzmittel aus

Die gesetzlichen Krankenkassen gaben im vergangenen Jahr rund 1,8 Milliarden Euro für Schmerzmittel aus.
Dazu kommt das Geld, das die Menschen aus eigener Tasche zahlen: mehr als eine halbe Milliarde Euro allein im vergangenen Jahr. Für die Pharmakonzerne sind die Schmerztabletten eine perfekte Geldmaschine, frei von wirtschaftlichem Risiko, was den Anreiz zum Verkauf nicht gerade hemmt. Die Wirkstoffe sind seit Jahrzehnten die gleichen. Es ist über 100 Jahre her, dass Bayer seine erste Aspirin herstellte. Das Patent für den Wirkstoff ist längst abgelaufen. Doch der Konzern macht heute knapp eine Milliarde Euro Umsatz mit seinem Produktpromi. Und welche Vorteile das hat, ließ sich erst Ende vergangener Woche wieder beobachten: Als der US-Pharmakonzern Bristol-Myers Testprobleme bei einem vielversprechenden Lungenkrebsmittel bekannt gab, wurden an der Börse 35 Milliarden Dollar Kapital kurzfristig vernichtet. Solche Risiken drohen den Konzernen bei den Schmerzmitteln nicht: Im Gegensatz zu forschungsintensiver, teurer Medizin verkauft sich das Versprechen auf Schmerzfreiheit fast ohne Aufwand.

Zumindest in einer Gesellschaft, die sich keine Ausfälle leisten will. Hier sorgen Schmerzmittel dafür, dass der Alltag reibungslos läuft. Wenn Zahn, Rücken oder Kopf rebelliert, können wir nicht arbeiten, nicht lernen, nicht einmal entspannen. Fast ein Drittel der Deutschen hat bereits Medikamente zur Leistungssteigerung oder Stimmungsaufhellung ohne medizinische Notwendigkeit eingenommen, ergab eine Umfrage der Hamburger Krankenkasse DAK-Gesundheit. Gerade in Ländern, deren Wohlstand auf Effizienz und Leistung basiert, wirken Schmerzmittel unverzichtbar: Australien, Frankreich, Kanada, Belgien. Hier schlucken die Menschen die meisten rezeptfreien Schmerzmittel. Industrien, in denen Schmerz auch Stillstand bedeutet. Weltweit wurden im vergangenen Jahr rund 56 Milliarden Dollar für Medikamente ausgegeben, die das Schmerzempfinden lahmlegen und Menschen wieder einsatzfähig machen sollen.

Bittere Pillen

Der Pharmakologe Gerd Glaeske, Autor des Nachschlagewerks „Bittere Pillen“, findet das höchst beunruhigend. Er kritisiert: „In Deutschland schlucken die Menschen zu oft, zu viel und zu lange vor allem selbst gekaufte Schmerzmittel.“ Damit riskieren sie nicht nur lebensgefährliche Nebenwirkungen wie Magenbluten, Leber- und Nierenversagen, Herzinfarkt oder Schlaganfall. Sie kaschieren auch eine Botschaft ihres Körpers: „Schmerz ist immer ein Signal“, warnt der an der Universität Bremen forschende Professor. So können Schmerzen auf eine schwerwiegende Erkrankung wie beispielsweise einen Tumor hinweisen. Ganz gleich, ob mit oder ohne ärztliche Begleitung, wird seiner Meinung nach Schmerz viel zu oft einfach wegbehandelt, ohne nach den Ursachen zu suchen.

Weltweit nahezu einmalig sei dabei die in Deutschland immens hohe Rate der selbst verordneten Pillen, rechnet Glaeske vor: „Von 145 Millionen in Deutschland verkauften Schmerzmittelpackungen sind 112 Millionen ohne Rezept vertrieben worden – dieses Ausmaß ist mehr als bedenklich.“ Glaeske forscht an den Ursachen. Und er hat festgestellt, dass zunehmend junge Erwachsene und Jugendliche ganz selbstverständlich Schmerzmittel schlucken – gerne auch mit Koffein als Inhaltsstoff –, um sich fit und dem täglichen Stress gewachsen zu fühlen.

Mit Schmerzmitteln Weltmeister werden

Und je höher die Ansprüche, umso mehr Tabletten werden geschluckt. Fußballweltmeisterschaft in Brasilien. Die deutsche Mannschaft hat bereits sechs Spiele hinter sich, jetzt steht sie im Finale gegen das starke Argentinien. Eine Milliarde Menschen haben den Fernseher eingeschaltet. Als Schweinsteiger, Lahm und Özil auf den Platz einlaufen, hat ein Fünftel aller deutschen Spieler vorsichtshalber ein Schmerzmittel geschluckt.

Schmerzmittel für jede Gelegenheit

Marathon in Bonn. 42 Kilometer auf Asphalt, jeder Schritt könnte am Ende zur Qual werden. Als die Läufer die Startlinie überqueren, haben 60 Prozent von ihnen bereits ein Schmerzmittel intus. Und das nicht etwa, weil sie akute Beschwerden haben, sondern aus Angst davor, Schmerzen zu bekommen.

Und Schmerzen stören auch, wenn es auf geistige Leistung ankommt. Vor drei Jahren trat deshalb eine Initiative an die Öffentlichkeit, die zum „richtigen Umgang mit Schmerzen bei Jugendlichen“ aufklären will. Auf der Website der Initiative schmerzlos steht: „Viele Eltern warten zu lange ab, bis sie ihren jugendlichen Kindern ein Medikament gegen ihre Schmerzen geben.“ Daneben sind Bilder von Teenagern zu sehen, die sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Schläfen massieren. Hinter der Kampagne steht das britische Unternehmen Reckitt Benckiser, das mit der Marke Nurofen Schmerzmittel speziell für Kinder anbietet. Der Wirkstoff in den Tabletten ist niedriger dosiert, sie sind leicht schluckbar und schmecken süß und nach Zitrone. Für Kinder ab sechs Monaten gibt es Nurofen als Saft in den Geschmacksrichtungen Erdbeere und Orange. Zudem führte das Unternehmen eine eigene Schmerztablette des Stoffs für Jugendliche ein.

Schulen können bei der Initiative schmerzlos Experten für Vorträge anfordern, die dann kostenlos über das Thema Schmerzen bei Kindern informieren. Raymund Pothmann, einer der drei Experten und Leiter des Zentrums für Integrative Kinderschmerztherapie und Palliativmedizin in Hamburg, findet, dass es sich keinesfalls um eine Werbeveranstaltung für das Pharmaunternehmen handle: „Wir sind völlig frei, worüber wir sprechen.“

Tatsächlich sind Pothmanns Vortragsfolien frei von direkten Produkthinweisen. Das Ziel des Unternehmens ist es allerdings, seine frei verkäuflichen Produkte „optimal zu positionieren“, wie die Agentur Fleishman Hillard auf ihrer Homepage schreibt. Die PR-Profis sind seit 2015 mit der Betreuung der Initiative schmerzlos beauftragt. Fleishman Hillard formulierte es gegenüber dem ARD-Magazin „Fakt“ so: „Experten sagen, das epidemiologische Maximum ist erreicht; unser Kunde möchte hier Awareness für das Thema schaffen.“

Die Qual der Wahl

Elmar Kroth leitet den Bereich Wissenschaft im größten deutschen Lobbyverband der Branche. Im Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller haben sich über 450 Firmen zusammengeschlossen. „Wenn jemand ein Schmerzproblem hat, sei es durch Leistungsdruck oder andere Auslöser, stellt sich doch immer die Frage: Ignoriere ich das Problem, oder bekämpfe ich es. Wir finden es wichtig, die Wahl zu haben“, sagt er. Er ist überzeugt: Nie zuvor seien die Menschen so informiert über Medikamente gewesen und gleichzeitig so vorsichtig, was ihren Gebrauch angeht. Die Botschaft der Pharmabranche, die zur besten TV-Sendezeit oft 90 Prozent der Werbespots ausmacht, kommt an: Warum schwer, wenn es auch einfach und beschwerdefrei geht?

Und das gilt nicht nur für die „Patienten“, sondern auch für die meisten Anbieter. Warum schwer, wenn es auch einfach geht?

Acetylsalicylsäure, Ibuprofen und Paracetamol

Seit Jahren ist kein neuer Wirkstoff auf den Markt gekommen. Die Pharmafirmen haben fast ausschließlich die drei Optionen Acetylsalicylsäure, Ibuprofen und Paracetamol, die sie in immer neuen, kreativen Möglichkeiten vermarkten: Trotz geringer Auswahl an Inhaltsstoffen gibt es mehr als 250 rezeptfreie Schmerzmittel zu kaufen. So werden die immer gleichen Wirkstoffe mal als Mittel gegen Migräne, mal als Mittel gegen Gelenk- und mal als Hilfe bei Regelschmerzen verkauft.

Einmal entwickeln, vielfach verkaufen. Alle paar Jahre wird das alte Mittel neu verpackt, und weiter sprudeln die Einnahmen.

Die größten Irrtümer über Depressionen
"Depression äußert sich nur psychisch"Psychische Anzeichen wie zum Beispiel Antriebslosigkeit, Konzentrationsschwäche, Trauer und Niedergeschlagenheit gehören klar zum Krankheitsbild der Depression. Sie gehen jedoch gelegentlich mit körperlichen Symptomen einher. „Manchmal verbergen sich hinter Magen- oder Darmbeschwerden, Schwindel sowie Kopf- und Rückenschmerzen starke Depressionen“, weiß Doktor Friedrich Straub, Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie und Chefarzt der Schlossparkklinik Dirmstein. Um sicher zu gehen, dass diese körperlichen Symptome mit der depressiven Verstimmung zusammenhängen, ist eine intensive ärztliche Untersuchung erforderlich. Diese kann Klarheit darüber verschaffen, ob neben der Depression auch andere Krankheiten wie Diabetes oder Schilddrüsenprobleme als Auslöser der Symptomatik in Frage kommen. Quelle: Fotolia
"Ein frohes Gemüt schützt vor Depressionen"„Einen sicheren Schutz gibt es nicht“, betont der Experte. Die Krankheit kann jeden treffen - und zwar ganz unabhängig von der Persönlichkeit. Die gute Nachricht: Gewisse Risikofaktoren für die Begünstigung einer Depression lassen sich mindern. Laut Straub können vor allem Sport und ausreichend Bewegung an der frischen Luft sowie Entspannung eine heilende Wirkung für die Seele haben. Auch ein erfülltes Sozialleben mit vielen engen Freunden und abwechslungsreiche Freizeitaktivitäten senken das Risiko für depressive Verstimmungen. Quelle: Fotolia
"Depressionen verschwinden von selbst wieder" Quelle: dpa
"Nur Frauen sind von Depressionen betroffen" Quelle: Fotolia
"Angehörige sollten den Depressiven aufmuntern"Depressionen sind nicht nur für den Betroffenen schwer erträglich, auch die Angehörigen brauchen viel Kraft. Auch bei lang anhaltenden depressiven Phasen nicht die Geduld zu verlieren ist eine der wichtigsten Verhaltensregeln für Freunde und Familie. Sprüche à la: "Jetzt reiß dich mal zusammen", "Nimm das Leben nicht so schwer" oder Witze und Aufmunterungsversuche sind eine schlechte Idee. „Grundsätzlich sollte man gut gemeinte Ratschläge besser für sich behalten“, so Straub. Tabu sind vor allem Anweisungen, die den Betroffenen noch mehr unter Druck setzen oder dessen Schuldgefühle verstärken könnten. Ersparen sollte man sich auch Kommentare, die das Leiden herunterspielen. Quelle: Fotolia
"Ein Urlaub bringt dich in bessere Stimmung"Ein Tapetenwechsel, um den depressiv Erkrankten auf andere Gedanken zu bringen, erscheint oberflächlich betrachtet wie eine gute Idee. Jedoch kann ein Urlaub fernab der Heimat sogar entgegengesetzt wirken: „Für viele Erkrankte ist eine andere, fremde Umgebung zusätzlich beängstigend und beunruhigend“, warnt Straub. Ein geregelter Tagesablauf ist für depressive Menschen wichtig. Angehörige sollten sie deshalb darin unterstützen, Terminen oder Verpflichtungen nachzukommen, insbesondere Therapiesitzungen. Quelle: dpa
Schatten eines Pärchens Quelle: dpa

In vielen Fällen unterscheiden sich die Präparate nicht voneinander. Johnson & Johnson etwa bietet Ibuprofen als Dolormin, Dolormin Extra, Dolormin Migräne an. Als jüngste Produktinnovation feierte Bayer gerade eine neue Darreichungsform des Uralt-Kassenschlagers Aspirin: Da die Wirkstoffpartikel nun um 90 Prozent kleiner sind als bisher, wirkt das Mittel doppelt so schnell.

Geringes Interesse an der Erforschung neuer Substanzen

Das Interesse an der Erforschung ganz neuer Substanzen ist seit dem Flop mit den angeblich nebenwirkungsarmen, sogenannten selektiven COX-2-Hemmstoffen wie in Vioxx komplett eingeschlafen, räumt auch der Verband Forschender Arzneimittelhersteller in Berlin ein. Damals traten unerwartet tödliche Nebenwirkungen durch Herzinfarkte auf. Deshalb bleiben die Hersteller bei den altbekannten Wirkstoffen – trotz der seit Jahren bekannten großen Gefahren.

Die Bielefelder BUKO Pharma-Kampagne begleitet die Aktivitäten der Pharmaindustrie seit über 30 Jahren. „Die Hersteller lassen sich immer neue Ideen einfallen, in welchen Situationen Schmerzmittel helfen sollen und wer sie schlucken kann. Dieser Wettbewerb trägt auch dazu bei, dass zu viele Schmerzmittel geschluckt werden“, sagt Jörg Schaaber, Geschäftsführer der Initiative.

Wenn Schmerztabletten krank machen

In deutschen Krankenhäusern gibt es jedes Jahr mehrere Tausend Patienten, die allein wegen der Nebenwirkungen von Schmerzmitteln behandelt werden. Acetylsalicylsäure verursacht mitunter Magen-Darm-Blutungen, Hirnblutungen, Atemnot und Nierenversagen. Bei Ibuprofen stehen auf der Liste: Magen-Darm-Durchbrüche, Asthma-Anfälle, Nierenversagen sowie Herzinfarkt. Und neun Prozent aller Fälle von Leberversagen entstehen durch Paracetamol.

Auch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte kennt diese Entwicklung. Die Experten der Medikamenten-Zulassungsbehörde waren sich schon vor vier Jahren einig: Schmerzmittel werden zu leichtfertig geschluckt, zu beiläufig, zu arglos. Sie erarbeiteten einen Vorschlag: Man könnte die Packungen kleiner machen. So werde deutlich, dass Medikamente keine Nahrungsergänzung sind. Alle fanden die Idee gut, sie wurde einstimmig im entsprechenden Sachverständigenrat beschlossen. Das ist nun über vier Jahre her. Das zuständige Bundesgesundheitsministerium unternahm fast nichts. Lediglich bei Paracetamol wurde die Größe so begrenzt, dass man sich mit einem Packungsinhalt nicht umbringen kann. Warum so wenig passiert ist, begründet das Ministerium damit, dass man derzeit nicht wisse, wie hoch der Gebrauch der frei verkäuflichen Schmerzmittel tatsächlich sei. Um den Sachverhalt zu klären, gab das Ministerium verschiedene Studien in Auftrag. Die würden nun „hinsichtlich des weiteren regulatorischen Vorgehens ausgewertet“.

Ibuprofen überholt Aspirin

Parallel dazu floriert der Markt weiter, mal mit dem einen, mal mit dem anderen Wirkstoff. Nach dem Vioxx-Skandal erlebte beispielsweise das Ibuprofen einen enormen Aufstieg.
Denn damals suchten Forscher in groß angelegten Studien erneut bei den rezeptfreien Schmerzmitteln nach Nebenwirkungen aufs Herz-Kreislauf-System. Weil Ibuprofen dabei verhältnismäßig gut abschnitt, da es den Blutdruck nicht so stark anhebt wie die anderen Mittel, galt es anschließend landläufig als nebenwirkungsarm und empfehlenswert. Ärzte verschreiben es zudem gerne vor oder nach Operationen, weil es nicht so stark blutverdünnend ist wie Aspirin – und gleichzeitig entzündungshemmend wirkt. Außerdem fielen die Pillen mit 400 Milligramm des Wirkstoffs 1998 aus der Verschreibungspflicht. Ergebnis: Im Jahr 2013 überholte Ibuprofen mit mehr als 70 Millionen verkauften Packungen in Deutschland Aspirin als stärkstes Schmerzmittel, allerdings generiert Letzteres dank starker Markenstellung mehr Umsatz.

Ein Drittel aller Deutschen nimmt mittlerweile mindestens einmal pro Monat ein Mittel gegen Kopfschmerzen ein. Einen Ausfall wollen viele nicht hinnehmen. Wie damals der Unternehmer Brack, der sich lieber ein starkes Schmerzmittel über Monate hinweg verschreiben ließ. Seine Sucht war unauffällig. Kein Geruch wie von Alkohol, keine schlechten Zähne wie von Crystal Meth, kein aufgedrehtes Verhalten wie von Koks. Erst als er versucht, ohne das Schmerzmittel auszukommen, wird ihm klar, dass er abhängig ist. „Das war die Hölle: Schweißausbrüche, Angstzustände, Schüttelfrost. Da habe ich gemerkt, dass ich ein großes Problem habe“, sagt Brack. Als er sich hier in der My Way Betty Ford Suchtklinik einlieferte, nahm er 180 Tropfen statt der 20. Vier Wochen dauert die Therapie mindestens, jeder Tag kostet mehrere Hundert Euro. Der Chefarzt der Entzugsklinik reduziert täglich die Anzahl der Tropfen, dazu kommen stundenlange Therapiegespräche. Wie viele der 36 Patienten bezahlt auch Brack einen Großteil der Kosten selbst. Es ist ein System aus Medizinern, Pharmafirmen und Apothekern, von denen niemand die Verantwortung für die negativen Folgen und all die Suchtkranken übernehmen will.

Alternativen zu Aspirin & Co

Derweil wird an alternativen Möglichkeiten geforscht, um Schmerz zu bekämpfen. Zum Beispiel Cannabis aus Hanf. Ein Wissenschaftlerteam der Universität Toronto hat vor zwei Jahren sechs Studien ausgewertet, die den pflanzlichen Wirkstoff untersuchten. In allen wurde die schmerzlindernde Wirkung bestätigt, wenn auch teilweise in Kombination mit anderen Medikamenten. Die Bundesregierung will deshalb dafür sorgen, dass schwerkranke Patienten medizinisches Cannabis aus der Apotheke erhalten können.

Mit einer Ausnahmegenehmigung können sich schon jetzt rund 500 Patienten Hanfblüten aus der Apotheke besorgen. Und der Hersteller pflanzlicher Medizin Bionorica produziert bereits seit 2002 den Cannabis-Wirkstoff Dronabinol. Schmerzpatienten mit einem ärztlichen Betäubungsmittelrezept erhalten ihn – auf eigene Kasse - in Apotheken. Allerdings musste der Cannabis-Wirkstoff bisher für jeden der seither etwa 20.000 Patienten persönlich vom Apotheker dosiert werden. Bionorica bemüht sich aktuell um die Zulassung für ein Cannabis-Fertigarzneimittel in Pillenform. Sollte die Bundesregierung die Regulierungen lockern, könnten Mediziner dieses Medikament dann auch auf Kosten der Krankenkassen verschreiben.

Entsprechend bedroht sehen die Pharmafirmen ihr Geschäft mit dem Schmerz.

Und so werden Feindes-Feinde zu wichtigen Verbündeten: Der amerikanische Opioid-Hersteller Abbott Laboratories etwa finanziert gemeinsam mit dem Konkurrenten Purdue eine Initiative, die sich in den USA gegen die Liberalisierung von Cannabis einsetzt, die Anti Drug Coalition of America. Denn wenn das Mittel einmal liberalisiert wurde, dürfte es auch auf Kosten der Versicherungen verschrieben werden. Den meisten Patienten würde das vermutlich helfen. Big Pharma aber wäre um ein schönes Geschäftsmodell ärmer. Und viele Konsumenten um einen einfachen Weg, in der Leistungsgesellschaft mitzuhalten.

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