Medikamente Wie die Pharmaindustrie mit Schmerzen gewinnt

Die Gesundheitsindustrie hat ein Wundermittel entdeckt, zumindest für ihre Bilanzen: Schmerzmittel. Die bringen ordentliche Margen – und schüren bei Patienten die Hoffnung, immer verfügbar zu sein.

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So viel zahlen Pharmakonzerne an Ärzte und Kliniken
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Sobald die Haut verletzt wird, Bakterien das Gewebe entzünden oder eine Operation vorbei ist, beginnt im menschlichen Körper ein Kampf der kleinen Stoffe.
Die geschädigte Stelle schickt Nervenimpulse los, die sagen: Hier stimmt etwas nicht, tu was! Das Rückenmark sendet Endorphine aus, die beruhigen sollen. Derweil bewertet das Gehirn die Situation: Wie reagieren? War das gewollt? Wann ist es vorbei? Das Ergebnis kann man im Gegensatz zu Temperatur, Blutdruck oder Puls nicht messen. Schmerz, den kann man nur fühlen.

Manchmal jedoch mischt sich ein weiterer Stoff in die Blutbahn. Er blockiert die Schaltzentralen. Im Hirn kommt dann nichts an, was irritiert. Der Stoff betäubt, manchmal berauscht er sogar. Im Kampf gegen Schmerz ist nichts so effektiv wie ein Opioid, ein starkes Schmerzmittel. Für Menschen mit Krankheiten wie Krebs sind solche Mittel ein Segen. Die Qual wird so zumindest etwas reduziert. Doch 90 Prozent der Opioide werden mittlerweile bei Nichttumorpatienten angewendet. Bei Menschen wie Markus Brack.

Der 39-jährige Unternehmer organisiert große Konzerte in Nordrhein-Westfalen und hat in Wirklichkeit einen anderen Namen, unter dem er bei Geschäftspartnern als Erfolgstyp bekannt ist: Brack wirkt fit, seine blaugrünen Augen leuchten vereinnahmend, er ist ständig unterwegs und voller Energie. Als er vor drei Jahren nach einer Kieferoperation nach Hause kommt, fühlt er sich, als sei sein Kopf in einen Schraubstock gespannt. Ein befreundeter Apotheker bringt ihm eine kleine Schachtel mit einem Fläschchen. Er liest die Packungsbeilage, hier steht nichts Alarmierendes. Also lässt Brack 20 Tropfen auf einen Teelöffel gleiten und schluckt sie hinunter.

Plötzlich tiefenentspannt

Als der Wirkstoff in seine Blutbahn gelangt, verschwinden die Kieferschmerzen nach wenigen Minuten. Nach drei Tagen bemerkt Brack jedoch noch eine zweite Wirkung. Als er und seine Frau wegen einer Lappalie diskutieren, bleibt er seltsam gelassen. Was ihn früher direkt aufregte, ist plötzlich belanglos. Der permanent gestresste Unternehmer ist auf einmal tiefenentspannt. Sobald die Wirkung der Tropfen nachlässt, fühlt er sich unwohl. Zu diesem Zeitpunkt bezeichnet Brack das noch als Schmerz.

Als das erste Fläschchen leer ist, druckt sein Arzt ihm deshalb ein neues Rezept aus, so wie das immer mehr Mediziner machen. Sie verordnen heute dreimal so viel der starken Schmerzmittel wie noch vor 20 Jahren.

„Wenn ich gewusst hätte, was das am Ende mit mir macht, hätte ich das natürlich nie genommen“, sagt Brack heute, drei Jahre später. Er sitzt in einer weitläufigen Villa, in deren Innerem vor zehn Jahren eine Klinik eingerichtet wurde: In der My Way Betty Ford Klinik in Unterfranken versuchen Menschen wie Brack, von einer starken Sucht loszukommen. Seine Droge heißt Tilidin. Sie wurde kreiert, um kaum aushaltbare Schmerzen zu lindern. Doch für Brack wurde das Akutmittel zu einer Sucht auf Rezept.

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Eine Frau an einem See Quelle: dpa
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In Deutschland sind schätzungsweise 300.000 Menschen von Opioiden abhängig, in den Vereinigten Staaten von Amerika bereits mehr als zwei Millionen. Jeden Tag sterben dort rund 80 Menschen an einer Überdosis; die allermeisten in der Anonymität, manche im Scheinwerferlicht der Medienwelt, wie zuletzt der Sänger Prince. Was bei ihnen extrem endete, ist gleichzeitig Teil eines viel größeren Phänomens.

50 Tabletten pro Jahr

Dieses andere, größere Phänomen zeigt sich in Handtaschen, Schreibtischschubladen, Nachttischen, Sporttaschen. Es zeigt sich bei Büroangestellten, Handwerkern, Männern, Frauen, Jugendlichen, Senioren, Chefs und Mitarbeitern. Es ist selbstverständlicher Bestandteil im deutschen Alltag; wenn man so möchte, das Treibmittel der westlichen Leistungsgesellschaft, für viele der Schmierstoff auf dem langen Karriereweg nach oben, weil er stete Leistungsbereitschaft garantiert: Mehr als 112 Millionen Packungen Schmerzmittel haben die Deutschen im vergangenen Jahr gekauft – ohne Rezept, auf eigene Faust, frei von ärztlicher Anweisung. Die Schmerztablette ist das universelle Flickzeug für den Körper. Rund 50 Tabletten schluckt jeder Deutsche pro Jahr.

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