Das Ungemach kommt langsam, aber sicher. Am Montag, dem 11. August, ziemlich genau in fünf Monaten, geht es los, vor dem Bezirksgericht East St. Louis im US-Bundesstaat Illinois. Insgesamt über 2000 Kläger aus den gesamten Vereinigten Staaten werden bald ihre Anwälte alles auffahren lassen, um die Richter von einem ungeheuerlichen Verdacht zu überzeugen: Pradaxa, das weltweit bekannte Mittel gegen Schlaganfall, habe Patienten angeblich geschädigt, im Extremfall soll es sogar zu tödlichen Blutungen geführt haben. Angeblich soll der Hersteller, der Pharmakonzern Boehringer Ingelheim aus Deutschland, unzureichend über die möglichen Risiken durch das Medikament informiert haben.
Auch wenn Boehringer weiterhin vom positiven Nutzen-Risiko-Profil seines Mittels überzeugt ist und die Vorwürfe zurückweist: Der Fall Pradaxa ist nur eines von mehreren Anzeichen, dass es nicht mehr rundläuft bei Deutschlands langjähriger Vorzeige-Pharmafirma. Für 2013 – genaue Zahlen gibt es am 15. April – erwartet Finanzvorstand Hubertus von Baumbach nur noch ein Wachstum „im unteren einstelligen Bereich“. Im Frühjahr 2013 hatte er noch ein Plus im mittleren einstelligen Bereich vorgestellt.
Auf Erfolg ausgeruht
Auffällig ist, dass sich – unter der Führung des promovierten Mediziners und Mathematikers Andreas Barner – die Probleme in jüngster Zeit häufen: Gerichtsklagen, peinliche Produktionspannen, entsprechender Ärger mit der mächtigen US-Zulassungsbehörde FDA und das Nachsehen gegenüber der Konkurrenz bestimmen mittlerweile das Bild des Unternehmens. Der Erfolg der vergangenen Jahre, so glauben Branchenkenner, hat das Familienunternehmen träge, unvorsichtig und überheblich werden lassen.
„Wir fragen uns schon, was da bei Boehringer gerade los ist“, sagt ein hochrangiger Manager eines Konkurrenten, der sich darüber wundert, dass auf einmal so viele Boehringer-Manager ihre Dienste bei Wettbewerbern anbieten. „Das hat es früher nicht gegeben.“ Insbesondere gegenüber dem ewigen Konkurrenten Bayer fiel Boehringer zurück – im Wettbewerb um das beste neue Anti-Schlaganfall-Mittel haben die Leverkusener die früher gestarteten Ingelheimer inzwischen überholt.
Ehemals Vorbild der Branche
Dabei galt Boehringer, das mit seinen knapp 15 Milliarden Euro Umsatz (2012) unter den Pharmakonzernen der Welt deutlich hinter Pfizer und Novartis Rang 14 belegt, jahrelang als Vorbild der Branche. Innovative Medikamente wie Spiriva gegen Raucherlunge oder der Blutdrucksenker Micardis, Top-Qualität und hoch motivierte Mitarbeiter verhalfen dem Konzern zu einem makellosen Ruf. Mit Thomapyrin, Ende der Vierzigerjahre auf den Markt gebracht, verfügten die Rheinhessen lange Zeit über ein Schmerzmittel, das bei der Bekanntheit Aspirin von Bayer nur wenig nachstand.
Vergessen war die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als Funde des Chemiegiftes Dioxin im Hamburger Pflanzenschutzwerk den Konzern jahrelang in den Schlagzeilen hielten. Die Firmenleitung, der zwischen 1962 und 1966 auch der spätere Bundespräsident Richard von Weizsäcker (CDU) angehörte, soll ihre Erkenntnisse über die krebserregende Chemikalie vertuscht haben. 1984 stoppte Boehringer die Pflanzenschutzproduktion und konzentrierte sich auf das Pharmageschäft. Und auch die bleiernen Achtziger- und Neunzigerjahre erfolgloser neuer Medikamente, verkrusteter Managementstrukturen und dürftiger Gewinne schienen für immer Geschichte. Die familienfremden Manager Heribert Johann und Rolf Krebs drehten von 1992 an den verstaubten Pillenladen um, verkauften Randbereiche, brachten die Forschung auf Vordermann und investierten in neue Medikamente.
Beck unter Mauschelverdacht
Diese Verve scheint nun wieder verflogen, die Fortune dahin, die Sorgfalt vermindert, das Image nicht nur durch den Fall Pradaxa beschädigt.
Für deutliche Irritationen im Management sorgte erst kürzlich die Entscheidung des Eigentümerclans um Familienoberhaupt Christian Boehringer im Sommer 2013, den früheren SPD-Chef und langjährigen Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz, Kurt Beck, in ihren Beraterkreis zu berufen. Beck, der nach fast 20 Jahren als Regierungschef in Mainz Anfang 2013 seinen Rücktritt erklärt hatte, geriet sofort unter Mauschelverdacht.
Zwar wehrte sich der inzwischen ausgeschiedene Ex-Deutschland-Chef Engelbert Günster gegen die Vorwürfe: Beck leiste keinerlei Lobbyarbeit, sondern stehe „den Gesellschafterfamilien als Sounding Board zur Verfügung“, also als eine Art Resonanzboden. Doch intern stießen die Gesellschafter damit so manche Manager vor den Kopf. Die bezweifeln, dass es klug sei, sich so sehr an die SPD zu binden. Vor allem gilt ihnen Becks wirtschaftliche Kompetenz nach dem Desaster am Nürburgring und am Flughafen Hahn als eher zweifelhaft.
Am schwersten wiegt der Eindruck, dass Boehringer an Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren droht. Besonders anschaulich zeigt sich das beim Anti-Schlaganfall-Mittel Pradaxa, das im August in den USA vor Gericht kommt und das Boehringer 2008 zwei Jahre vor dem Konkurrenzpräparat Xarelto von Bayer auf den Markt brachte. Statt den zeitlichen Vorsprung zu nutzen, überließen die Rheinland-Pfälzer das Feld dem Erzrivalen Bayer. Nach Daten des Marktforschers IMS erreicht der Leverkusener Konzern in der entsprechenden Medikamenten-Klasse inzwischen einen deutlich höheren Marktanteil als Boehringer Ingelheim.
Bayer arbeitet aggressiver
Den Grund dafür sehen Experten im erfolgreicheren Vertrieb von Bayer, der schlichtweg fixer und aggressiver arbeitet. Während sich der Boehringer-Außendienst eher zurückhielt, setzt Bayer unter Konzernchef Marijn Dekkers auf eine Vermarktungsoffensive bei den Ärzten. Dabei ging der Leverkusener Konzern zuweilen auch bis an die Grenze des Erlaubten: So schickte Bayer etwa Ärzten unaufgefordert Probepäckchen mit Xarelto-Pillen in die Praxis. Boehringer-Leute blieben brav und hinter den Bayer-Kollegen zurück.
Auch bei der Anzahl der Zulassungen war der große Konkurrent erfolgreicher. Boehringer ließ sich den Einsatz von Pradaxa von den Behörden bislang nur für zwei Anwendungsgebiete genehmigen: für die Behandlung bestimmter Herzrhythmusstörungen und zur Vorbeugung gegen Thrombosen bei Operationen. Bayer dagegen sammelte für Xarelto fünf Zulassungen ein, darunter für die Behandlung tiefer Venenthrombosen. Ähnlich wie Pradaxa könnte allerdings auch das Bayer-Mittel potenziell tödliche Blutungen auslösen.
Fremdpartikel in den Pillen
Eher der eigenen Schlampigkeit haben die Boehringer-Manager die harten Auseinandersetzungen mit der amerikanischen Arzneizulassungsbehörde FDA um die Produktionsstätten des Konzerns zu verdanken. US-Kontrolleure hatten bei einer Inspektion in Ingelheim ab November 2012 im Wirkstoff des Boehringer-Bestsellers Spiriva gegen Raucherlunge Fremdpartikel entdeckt. Das Unternehmen habe darauf nicht angemessen und zu spät reagiert, stellten die Prüfer fest – und sandten im Mai 2013 einen blauen Brief („warning letter“) ins Rheintal. Weil Boehringer Medikamente in den USA verkauft, darf die FDA Produktionsstätten auch hierzulande unter die Lupe zu nehmen. Das Warnschreiben schlug bei Boehringer ein wie eine Bombe. Im Extremfall droht ein Exportverbot in die USA, wo das Unternehmen gut ein Drittel seiner Umsätze macht. Produktionschef Wolfram Carius, seit 26 Jahren bei Boehringer, musste daraufhin ohne Angabe von Gründen Knall auf Fall gehen.
"Wir sind auf dem richtigen Weg"
Inzwischen räumt das Unternehmen Versäumnisse offen ein. „Unsere Qualitätssicherungssysteme waren nicht aktualisiert worden“, sagt Produktionschef Wolfgang Baiker gegenüber der WirtschaftsWoche. „Wir haben dabei etwa Verfahren angewandt, die mit den Behörden nicht abgestimmt waren. Früher ist so etwas noch durchgegangen. Die gerade beendete Inspektion hat aber gezeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind.“ Zudem betont Boehringer, dass die Gesundheit der Patienten zu keinem Zeitpunkt gefährdet war.
Die größten Probleme bei Boehringer
untersucht die US-Behörde FDA bereits die Produktion im Stammwerk Ingelheim, weil ein Wirkstoff Fremdpartikel aufwies.
gegen Boehringer sind in den USA wegen des Anti-Schlaganfall-Mittels Pradaxa eingegangen
hat Boehringer in seine heruntergekommene US-Fabrik in Bedford/Ohio investiert. Nun wird das Werk mit 1100 Jobs geschlossen
Doch der Vorfall hat Spuren im Unternehmen hinterlassen. Denn zur Unvorsicht hatte sich offenbar auch eine gewisse Überheblichkeit gesellt. Die erste Antwort von Boehringer gegenüber der FDA sei reichlich pampig und arg selbstbewusst ausgefallen, berichtet eine frühere Führungskraft. Wenige Monaten später musste dann Produktionschef Carius gehen. Inzwischen hat sein Nachfolger Baiker die Zahl der Mitarbeiter in der Qualitätssicherung deutlich aufgestockt, die Stellung des globalen Qualitätsleiters gestärkt und die Dokumentation verbessert.
Angespannte Atmosphäre
Anfang März dieses Jahres waren die FDA-Prüfer wieder da. Boehringer-Mitarbeiter mussten den Kontrolleuren Rede und Antwort stehen. Viele durften über die Fastnachtstage keinen Urlaub nehmen. Während der tollen Tage war die Kostümierung in der Kantine, die in den Vorjahren dazugehörte, strikt untersagt, um die US-Prüfer nicht zu irritieren. Lockerer ist es seitdem bei Boehringer nicht geworden. „Die Stimmung ist sehr angespannt, kaum einer trifft noch Entscheidungen“, berichtet ein Mitarbeiter. Voraussichtlich bis zum Herbst will die Behörde nun entscheiden, ob ihr die getroffenen Maßnahmen ausreichen.
Für die scharfen Kontrollen am Firmensitz trägt Boehringer zumindest eine Mitverantwortung, denn die FDA war wohl ohnehin schon misstrauisch geworden. Qualitätsprobleme in der Produktion traten nicht erst 2012 in Ingelheim auf, sondern schon 2011 in einem Boehringer-Werk in Bedford im US-Bundesstaat Ohio. Dort hatten die Prüfer haarsträubende Hygienemängel entdeckt: Durch ein undichtes Dach aus der Vorkriegszeit regnete es in die Fertigungshalle; ein Behälter mit Urin aus einer defekten Mitarbeitertoilette stand in der Produktionshalle. Im Auftrag anderer Pharmaunternehmen stellte Boehringer in Bedford Krebsmedikamente zum Spritzen her; die Gesundheitsbehörden notierten noch etliche andere Mängel und sahen die notwendige Sterilität nicht mehr gewährleistet.
In den USA gescheitert
In der Angelegenheit bewies Konzernchef Barner keine glückliche Hand. 2012 und 2013 steckte Boehringer jeweils etwa 300 Millionen Euro in den Standort in Bedford. Im Herbst vergangenen Jahres entschloss sich das Unternehmen dann doch, das Werk mit insgesamt 1100 Beschäftigten zu schließen – inzwischen liefen die Kosten aus dem Ruder, und aufgrund der Probleme blieben auch Aufträge aus.
„Nach der Erfahrung in Ohio hat sich die FDA auch nahezu alle anderen Boehringer-Werke angeschaut – und nichts festgestellt“, sagt Barner zu dem Fehlschlag.
Der Konzernchef steht nicht nur durch die Probleme in der Produktion und die Verfahren in den USA unter Druck. Wie bei anderen Pharmakonzernen geht auch bei Boehringer das Wachstum zurück. Hinzu kommen der Kostendruck im Gesundheitswesen sowie der starke Euro, der die Exporte in den Dollar-Raum verteuert.
Nur nicht an der Forschung sparen
Vor diesem Hintergrund drängt Barner die Mitarbeiter massiv zu mehr Kostenbewusstsein und Effizienz und beschneidet den Komfort, etwa indem er die Reiserichtlinien verschärft. Um die lebenswichtige Forschung am Laufen zu halten, müsse in wirtschaftlich schwierigeren Zeiten eben anderswo gespart werden.
Zugleich versucht es der Boehringer-Chef mit Optimismus. In den kommenden Jahren, kündigte Barner an, werde er eine ganze Reihe neuer Medikamente auf den Markt bringen, allein zwölf zwischen 2014 und 2016. Dazu zähle das Lungenkrebsmittel Giotrif, das die durchschnittliche Überlebenszeit von Patienten um vier Monate steigert und seit Anfang des Jahres auch in Deutschland erhältlich ist. Das Leukämiemittel Volasertib sei von der FDA sogar als „Therapiedurchbruch“ eingestuft worden. Zudem seien Arzneien gegen Hepatitis C und Asthma in Vorbereitung.
Doch zum Jubeln ist es in Ingelheim noch zu früh. Vor wenigen Tagen scheiterte Boehringer vorerst in den USA mit der Zulassung einer neuen Diabetes-Arznei namens Empagliflozin. Grund: Erst müssten die Produktionsprobleme in Ingelheim behoben werden, wo das Mittel produziert werden soll, befanden – einmal mehr – die Prüfer von der FDA.