Wieder einmal muss Martin Katzenbach, Inhaber der Rathaus-Apotheke in Eschweiler bei Aachen, aufgeregte Kunden beruhigen. „Ich sterbe doch, wenn ich mein Diabetes-Mittel nicht bekomme“, bekommt der Pharmazeut zu hören. 20 Minuten müht sich Katzenbach, den Rentner zu beruhigen: „Da muss man dann mühsam aufklären und hoffen, dass was anderes wirkt.“
Die Erfahrung, dass ihre oft lebenswichtigen Medikamente nicht lieferbar sind, machen immer mehr Patienten. In Kliniken und Apotheken fehlt es unter anderem an Krebsmitteln, Impfstoffen, Antibiotika oder Schilddrüsen-Hormonpräparaten.
Zwar gelingt es Klinikärzten und Apothekern oftmals, Ersatzpräparate zu beschaffen. Doch die wirken häufig schlechter. Wegen des Medikamentenmangels müssten Therapien vertagt werden, klagt bereits die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG). „Für Krebspatienten, deren Chemotherapie um Wochen verschoben werden muss, ist das eine enorme psychische Belastung“, kritisiert Krebsmediziner Wolf-Dieter Ludwig vom Helios-Klinikum in Berlin-Buch.
Die Lieferausfälle großer Hersteller wie Pfizer, GlaxoSmithKline, Novartis oder Hexal häufen sich. Dafür gibt es mehrere Ursachen: Da der wirtschaftliche Druck auf die Branche zunimmt, streichen die Unternehmen Medikamente aus ihrem Sortiment oder lagern die Produktion bis nach Asien aus. Gleichzeitig verschärfen die Zulassungsbehörden Sicherheitsvorschriften. Qualitätsmängel in der Produktion fallen so schneller auf und müssen dann zeitaufwendig behoben werden.
„453 Lieferausfälle in den vergangenen 17 Monaten“ zählte der Chefapotheker eines süddeutschen Krankenhauses, das gemeinsam mit anderen Kliniken Präparate einkauft. Allein an einem Freitagvormittag im Februar trafen bei ihm drei Meldungen über Lieferausfälle ein: Salbutamol Inhalat gegen Asthma: auf unbestimmte Zeit von keinem Hersteller lieferbar. Das Epilepsie-Präparat Keppra – 50 Tabletten zu 500 mg: gibt es bis Ende März nicht. Imukin Injektionslösung gegen Infektionen: erst in zwei Monaten wieder erhältlich. Allerdings betonte das Unternehmen UCB Pharma in Monheim bei Düsseldorf, dass es beim Epilepsie-Präparat Keppra „in allen verfügbaren Dosierungen uneingeschränkt lieferfähig“ sei.
18 Lieferengpässe im Monat müssen die Hospitäler im Schnitt laut einer DKG-Umfrage bei 114 Kliniken verkraften – das ist viel bei einem Bestand von 400 bis 600 verschiedenen Präparaten pro Krankenhaus.
Versorgungssicherheit hat sich verschlechtert
Den Produzenten ist die Malaise bewusst. Bei einer Umfrage der Mannheimer Beratung Camelot unter Pharmaführungskräften gab mehr als ein Drittel der Generikahersteller an, dass sich die Versorgungssicherheit deutlich verschlechtert habe. Dafür sorgen vier Entwicklungen:
- Monopolisierung: Viele Hersteller haben ihr Portfolio zusammengestrichen. So werden etwa Impfstoffe oft nur noch von einem oder wenigen Konzernen produziert. Die scheinen sich zunehmend auch aus der Herstellung von Krebsmitteln für Chemotherapien zurückzuziehen, weil die Preise am Markt deutlich gefallen sind. Kommt es dann zu Qualitätsmängeln in der Produktion, fehlt es oft an Alternativen.
- Verlagerung: Aus Kostengründen wird immer mehr in Indien oder China produziert. Laut Deutscher Pharmazeutischer Gesellschaft stammen 80 Prozent der Arznei-Wirkstoffe aus diesen beiden Ländern. Antibiotika werden nahezu ausschließlich in China hergestellt. Die Fertigungsstandards entsprechen noch nicht westlichen Maßstäben, was immer wieder zu Produktionsverzögerungen führt. Und in jüngster Zeit hat die EU die Pharma-Produktions- und -Sicherheitsvorgaben noch verschärft.
- Steigende Nachfrage: Zunehmend ordern auch Schwellenländer vor allem in Asien Antibiotika oder Krebspräparate. Der internationale Verteilungskampf um Medikamente wird härter. Während der Bedarf steigt, halten sich die Konzerne mit großen Investitionen in Fabriken zurück.
- Falsche Anreize: Nahezu alle gesetzlichen Krankenkassen schließen Rabattverträge für ihre rund 70 Millionen Versicherten ab. Dabei bekommen jeweils nur einzelne Hersteller den Zuschlag, um eine bestimmte Arznei an die Versicherten einer Kasse zu liefern. So kann diese den Preis gängiger Pillen und Salben um bis zu 90 Prozent drücken. Fällt dann bei einem Rabattvertrags-Gewinner die Produktion aus, ist schnell das Lieferlimit erreicht. Denn die Konkurrenz, die leer ausging, hat die Fertigungskapazitäten heruntergefahren und kann nicht einspringen.
Improvisations- und Organisationstalent gefragt
Bislang ist es wohl nur dem Improvisations- und Organisationstalent von Klinikärzten und Apothekern zu verdanken, dass noch kein Patient die Lieferengpässe mit seinem Leben bezahlen musste. Walter Schwerdtfeger, Präsident der deutschen Arznei-Zulassungsbehörde BfArM in Bonn: „Murphy’s Law wird dafür sorgen, dass irgendwann ein Schaden eintritt.“
Der Leipziger Klinikapotheker Roberto Frontini hat in seiner Not schon Medikamente aus dem Ausland herbeigeschafft, selbst aus Japan. Das dauert dann schon mal eine Woche – inklusive Übersetzung der japanischen Fachinformation.
Ein nicht nur zeitaufwendiges, sondern auch teures Vorgehen: „Als Carmustin gegen schwere Krebserkrankungen nicht lieferbar war, musste ich für den zehnfachen Preis im Ausland bestellen“, sagt Frontini. So richtig wohl fühlt sich der gebürtige Italiener dabei ohnehin nicht: „Wir nehmen Spaniern und Griechen Medikamente weg, die sie dringend selber benötigen.“
Mehrere Tage dauere es, bis ein aufwendig per Einzelimport bestelltes Medikament aus Südeuropa in Deutschland ankommt, sagt Apotheker Friedemann Schmidt, zugleich Präsident der Apotheker-Vereinigung ABDA. Er führt die Seume-Apotheke am Rand von Leipzig. Seinen Kunden muss er häufiger erklären, dass sie in einigen Tagen wiederkommen müssen. „Die Patienten wollen Sicherheit und Kontinuität“, sagt Schmidt. „Viele gehen resigniert weg, und ich fürchte, dass sie die Therapie abbrechen, wenn sie ihr gewohntes Medikament länger nicht erhalten.“
Oft informieren die Hersteller anscheinend zu spät über drohende Engpässe: „In nur 20 Prozent der Fälle erhielten die Kliniken eine (schriftliche) Vorabinformation durch den Hersteller“, monierte die DKG nach ihrer Umfrage im vergangenen Herbst.
So meldete Pfizer zwar, dass wegen „Produktionsproblemen bei einem externen Hersteller in Norwegen“ das Antibiotikum Zyvoxid „auf unbestimmte Zeit“ als Spritze nicht verfügbar sei. Aber es gebe ja noch Zyvoxid-Tabletten. Doch vielen Patienten nützt das nichts: „Zyvoxid ist ein Antibiotikum für schwere Fälle, da können die Patienten oft kaum schlucken“, sagt Krankenhausapotheker Frontini. „Da macht es sich Pfizer sehr einfach.“ Statt dem intravenösen Zyvoxid setzt Frontini dann alternativ Cubicin ein, dessen Wirksamkeit jedoch nicht identisch sei.
In den Apotheken fehlt es oft auch an Alltagsarzneien wie Schilddrüsen-Präparaten, Antibiotika, Hormonpflastern oder Blutdruckmitteln. Das Schilddrüsen-Medikament L-Thyroxin von Hexal und Merck zählt zu den meistvermissten. „In Deutschland waren Patienten genötigt, auf Präparate eines anderen Herstellers umzusteigen“, sagt Harald Rimmele, Gründer des Bundesverbandes Schilddrüsenkrebs – Ohne Schilddrüse leben. „Das kann wie eine ungewollte Dosisänderung wirken und zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen führen.“
Je nach Ausprägung fühlten sich Patienten schlapp und träge oder fahrig und unkonzentriert. Rimmele muss seit einer Krebserkrankung vor mehr als zehn Jahren ohne Schilddrüse leben und ist auf die Hormonpräparate angewiesen.
Schwer erhältlich ist auch immer mal der Blutdrucksenker Metoprolol, was besonders AOK-Versicherte zu spüren bekamen. Bei der AOK hatte der Augsburger Generikahersteller Betapharm, Teil der indischen Dr. Reddy’s-Gruppe, zum 1. Juni 2011 den Zuschlag für einen Metoprolol-Rabattvertrag erhalten. Doch bis dato zählte das Mittel gar nicht zum Sortiment von Betapharm. Und der Zulieferer der Inder konnte erst mit vier Monaten Verspätung nach Deutschland liefern.
Impfstoff-Engpass ruft Berlin auf den Plan
Am 1. Januar 2013 übernahm Hexal den Rabattvertrag, geriet dann aber selbst in Lieferschwierigkeiten: Die Bayern waren während der Lieferausfälle bei Betapharm eingesprungen und konnten daher nicht genug Vorräte aufbauen. Inzwischen hat Hexal 19 Millionen Euro am Fertigungsstandort Barleben/Sachsen-Anhalt investiert. Von April an soll der Generikahersteller wieder voll lieferfähig sein.
Ebenfalls im Frühjahr will GlaxoSmithKline (GSK) einen Engpass behoben haben bei einem Vierfach-Impfstoff gegen Masern, Mumps, Röteln und Windpocken sowie einem Einzel-Impfstoff gegen Windpocken. Wegen Qualitätsproblemen in einer belgischen Fabrik liegt die Produktion still.
Und Ende 2012 musste der Schweizer Pharmariese Novartis einen Grippeimpfstoff in Deutschland vom Markt nehmen: In einigen Chargen waren sogenannte Ausflockungen entdeckt worden.
Tatsächlich ist die Herstellung von Impfstoffen aufwendig und störanfällig. Die Forscher arbeiten mit biologischen Substanzen; an die 100 Herstellungsschritte sind nötig; insgesamt dauert die Produktion 12 bis 18 Monate.
Ersatz von anderen Herstellern ist meist Fehlanzeige. Denn wichtige Impfstoffe würden oft nur noch von einem oder zwei Herstellern produziert, kritisiert der Dresdner Kinderarzt Manfred Gahr, gleichzeitig Generalsekretär der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin (DAKJ): „Wenn dann in der Produktion etwas schiefläuft, gibt es keine Alternativen.“ Die Rabattverträge der Kassen würden die Konzentration noch beschleunigen.
Knapp sind auch Impfstoffe gegen Tollwut und Gelbfieber. Solche Engpässe rufen auch Berlin auf den Plan. „Wir arbeiten an Lösungen“, verspricht CDU-Gesundheitsexperte Jens Spahn. Die Praxis der Rabattverträge solle bei Impfstoffen verändert werden: „Das bisherige Verfahren befördert die Monopolisierung auf dem Impfstoffmarkt und macht das eh anfällige System noch deutlich störanfälliger.“ Künftig könnten bei den Rabattverträgen mehrere Hersteller zum Zug kommen.
Spahns Parteifreund Michael Hennrich, Mitglied im Gesundheitsausschuss des Bundestags, glaubt jedoch nicht, dass Rabattverträge die Hauptursache für Arznei-Engpässe sind: „Auch andere Länder haben Probleme mit dem Nachschub. Außerdem hat die Industrie die Produktion schon vorher in andere Länder verlagert.“
Vehement verteidigt auch Christopher Hermann, AOK-Chef von Baden-Württemberg, die Rabattverträge. „Bevor es zu einem Rabattvertrag kommt, müssen die Hersteller eines Wirkstoffs schriftlich bestätigen, dass sie die vereinbarte Menge liefern können.“ Bei Arzneien gegen HIV oder Krebs gebe es keine Rabattverträge.
Hermann sieht die Hersteller in der Pflicht, ihre Just-in-time-Produktion besser zu steuern. Auch dramatisierten die Pharmazeuten die Lage: „Apotheker klagen immer.“ Es gebe immer Hersteller mit ähnlichen Medikamenten, so Hermann.
CDU-Mann: "Nationale Arzneimittelreserve"
Mehrfach haben sich 2013 Vertreter von Pharmaindustrie, Ärzten, Apotheken und Großhändlern getroffen, um Maßnahmen gegen die Lieferausfälle zu beraten. „Das Thema Rabattverträge war dabei tabu“, verrät ein Beteiligter. Schließlich sorgen die umstrittenen Kontrakte für Einsparungen von bis zu zwei Milliarden Euro im Jahr.
An anderen Vorschlägen mangelt es nicht. So schlägt CDU-Mann Hennrich eine „nationale Arzneimittelreserve“ vor: „Bisher muss der Großhandel für zwei Wochen lieferfähig sein. Der Zeitraum sollte auf sechs Wochen ausgedehnt werden.“
Die Klinik-Organisation DKG sieht vor allem die Pharmaunternehmen in der Pflicht, für eine „ausreichende Vorhaltung“ lebenswichtiger Präparate zu sorgen. Doch dagegen wehren sich die Lobbyverbände der Hersteller: In Zeiten von ständig sinkenden Preisen, Rabattverträgen und staatlichen Eingriffen könnten ihnen nicht immer neue kostenträchtige Pflichten auferlegt werden.
Das Einzige, worauf sich alle Beteiligten bisher einigen konnten, ist eine Liste nicht lieferbarer Präparate. Seit April 2013 ist auf der Web-Site der Arznei-Prüfbehörde BfArM öffentlich einsehbar, wo der Nachschub stockt oder zum Erliegen gekommen ist. Die Meldungen der Hersteller sind freiwillig, obwohl die DKG für eine Meldepflicht plädiert hatte. Mitte Februar fanden sich denn auch nur ganze 15 Präparate auf der Liste, die den Ärzten als Frühwarnsystem dienen soll.
Eine freiwillige Liste über knappe Wirkstoffe löse die Probleme jedoch nicht, findet CDU-Mann Hennrich: „Im Gegenteil, wenn ein Hersteller ein Produkt dort listet, kommt es zum Hamstereffekt, weil sich alle noch eindecken wollen.“ Eine weitere Liste mit besonders versorgungskritischen Medikamenten soll bald folgen.
Mehr dürfte erst mal nicht passieren. Das Bundesgesundheitsministerium wartet ab; Neuminister Hermann Gröhe (CDU) möchte sich nicht äußern. Lieferengpässe seien noch keine Versorgungsengpässe, argumentieren seine Beamten.
Die Wirklichkeit in Kliniken und Apotheken ändert das nicht. So klagt der Leipziger Krankenhausapotheker Frontini: „Wir haben hier mindestens einmal pro Woche mit einem Lieferausfall zu kämpfen.“