Vorsichtiger Optimismus machte sich zuletzt in der deutschen Stahlbranche breit. Langsam anziehende Preise nach den dramatischen Einbrüchen im vergangenen Jahr sorgten für Hoffnungsschimmer. Doch massiv steigende Rohstoffpreise bedrohen die Erholung schon wieder. Und die grundlegenden Probleme der Branche sind ungelöst. Dort herrscht weiter Alarmstimmung, die an diesem Mittwoch bei einer neuerlichen Großdemonstration in Brüssel auf die Straße gebracht werden soll.
Warum kommt die Branche nicht auf die Beine?
Als Antwort reicht fast ein Wort: Überkapazitäten. Es geht um das Prinzip von Angebot und Nachfrage. Zu viel Stahl trifft auf einen zu geringen Bedarf. Das drückt in Europa wegen der Wirtschaftskrise im Süden schon seit Jahren auf die Preise. Die Branche ist anfällig für jede auch noch so kleine Belastung wie die jüngst wieder steigenden Rohstoffpreise.
Welche Rolle spielt dabei China?
Auch China kämpft angesichts niedrigerer Wachstumsraten mit einer erheblichen Überproduktion. Den überschüssigen Stahl versucht das Riesenreich mit hohen Subventionen auf den Weltmarkt zu werfen. Das Land stehe nicht nur für die Hälfte der Weltstahlproduktion, sondern auch für zwei Drittel der globalen Überkapazitäten von rund 660 Millionen Tonnen, sagt der Präsident der deutschen Wirtschaftsvereinigung Stahl, Hans Jürgen Kerkhoff. Das seien „gravierende Strukturprobleme“.
Stahl in der Krise: Kommt die große Fusion?
Weltweit ist Stahl im Überfluss vorhanden. Das drückt auf die Preise. In Europa kämpft die Branche schon seit der Finanzkrise 2008 und dem Platzen der Immobilienblase in vielen südlichen Ländern mit Überkapazitäten. Denn seitdem werden viele Anlagen gerade in Südeuropa nicht mehr gebraucht.
Dramatisch verschärft hat sich die Lage, seitdem in China das Wirtschaftswachstum schwächelt. Das Land ist in den vergangenen 15 Jahren zum mit Abstand größten Stahlhersteller der Welt aufgestiegen. Doch braucht es einen großen Teil seiner Produktion nicht mehr und versucht, diesen auf dem Weltmarkt loszuwerden. Europäische Hersteller sehen darin Preisdumping - denn China-Stahl könne in Europa auch wegen der hohen Transportkosten nicht kostendeckend angeboten werden. Zuletzt entspannte sich die Lage ein wenig, nachdem die EU erste Schutzzölle eingeführt hat.
Absprachen innerhalb der Branche zur Drosselung der Produktion sind aus kartellrechtlichen Gründen tabu. Deshalb läuft ein gnadenloser Wettbewerb in der Hoffnung, dass den Schwächsten irgendwann die Luft ausgeht und sie aufgeben müssen. Doch das wird regelmäßig von der Politik verhindert. Denn Stahlwerke befinden sich oft in strukturschwachen Gebieten. Deshalb tut sich die Politik schwer, solche Anlagen sterben zu lassen. Angesichts der aktuellen Lage hat der Präsident des Weltstahlverbands, Wolfgang Eder, in dieser Woche bereits eine Unterstützung der öffentlichen Hand bei möglichen Schließungen oder bei einem Kapazitätsabbau in der europäischen Stahlbranche gefordert.
Die meisten Unternehmen fahren zweigleisig. Zum einen versuchen sie, so gut es geht Kosten zu sparen. Bei Thyssenkrupp haben sie sich etwa im April 2016 auf eine 31-Stunden-Woche verständigt, um einen umfangreichen Stellenabbau zu vermeiden. Der zweitgrößte deutsche Hersteller Salzgitter hat in den vergangenen Jahren rund 1500 Stellen abgebaut. Zum anderen versuchen die Unternehmen, sich mit Innovationen von Massenprodukten aus dem Ausland abzuheben.
Ende vergangenen Jahres zählte die Branche noch gut 86.000 Beschäftigte und damit etwa 1000 weniger als 2014. Seit 2013 geht die Beschäftigtenzahl in der Branche kontinuierlich zurück - allerdings ohne größere Einschnitte. Einen massiven Personalabbau hatte es zuletzt Anfang der 1990er Jahre gegeben. Beim Branchenführer Thyssenkrupp gibt es für die Stahl-Beschäftigten zudem eine Vereinbarung über den Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen bis 2021.
In der Branche hoffen das viele. Wenn sich zwei zusammenschließen, könnten Kosten gemeinsam besser gesenkt werden. Allerdings ist ein Durchregieren in der Stahlbranche, die von besonders starken Mitbestimmungsrechten der Arbeiter geprägt ist, nicht möglich. Und dann ist die Frage, ob mögliche Produktionskürzungen nach einer solchen Fusion überhaupt etwas bringen, wenn es anderswo keine Einschnitte gibt. Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) fasst es so zusammen: Er sei kein Freund von Zusammenschlüssen in Deutschland, weil dann hierzulande vermutlich Arbeitsplätze wegfielen, obwohl die ineffizienten Stahlwerke im Ausland stünden.
Zu einer „Deutschen Stahl AG“ aus Thyssenkrupp und Salzgitter, die auch Gabriel ablehnt, dürfte es schon allein wegen Kartellbedenken nicht kommen. Allerdings wird seit Jahren die nächste Konsolidierungswelle in der Stahlbranche erwartet. „Jeder spricht mit jedem“, heißt es in der Branche, doch Handfestes gibt es bislang nicht. Im Hintergrund machen Investoren großen Druck. Thyssenkrupp muss sich seit Jahren für ein Festhalten am schwankungsanfälligen Stahlgeschäft rechtfertigen. Eine Fusion mit den niederländischen Tata-Aktivitäten samt eines Versuchs, das Geschäft ganz abzuspalten, klingt daher keinesfalls abwegig. Ohne Zustimmung der Arbeiter wird das aber kaum gelingen.
Was könnte China sonst tun?
Die europäische Konkurrenz drängt seit Jahren darauf, dass China nicht benötigte Stahlwerke abschaltet. Das scheute Peking angesichts des Heers von Stahlarbeitern im Land lange. Nun gibt es zwar erste Bestrebungen für größere Zusammenschlüsse der defizitären chinesischen Stahlkocher - doch sie erscheinen vielen als zu zaghaft. Bei der Begrenzung der Produktion der Kohleminen habe die Regierung demonstriert, dass sie schnell und konsequent handeln könne, sagt Aditya Mittal, Finanzchef des Weltmarktführers ArcelorMittal. „In der Stahlindustrie haben wir noch nicht die gleichen Aktivitäten gesehen.“
Wie sieht es in Deutschland aus?
Den Stahlkonzernen hierzulande ging es zuletzt noch vergleichsweise gut. Dank der robusten deutschen Konjunktur konnten sie ihre Auslastung hoch halten. Angesichts von steigender Bestelllungen vor allem aus der Bauindustrie sieht die Branche in Deutschland nach zwei Jahren mit einer leicht rückläufigen Rohstahlproduktion „ermutigende Signale“ für 2017. Doch dem branchenweiten Preisdruck können sich aber auch die deutschen Hersteller nicht entziehen.
Reagieren die Konzerne denn gar nicht?
Doch, sie versuchen gegen den Preisverfall anzusparen. So hat ArcelorMittal in Europa in den vergangenen Jahren vier von 25 Hochöfen stillgelegt. Bei ThyssenKrupp haben die Stahlkocher in Duisburg ihre Wochenarbeitszeit reduziert und verzichten seitdem auf Lohn. Zudem lotet der Konzern die Möglichkeit eines Zusammenschlusses seine Stahlaktivitäten mit dem europäischen Arm des indischen Konzerns Tata Steel aus.
Was macht die Politik?
Die EU hat zum Schutz der Branche Schutzzölle auf verschiedene Stahlsorten aus China eingeführt. Das hat etwas geholfen - so sind die Stahlpreise nach dem Einbruch 2015 in diesem Jahr um 50 Prozent gestiegen. Doch das reicht der Branche nicht. Von einem umfassenden Schutz sei die EU weit entfernt, erklärt Aditya Mittal. Und dann sind da die geplanten strengeren Klimaschutzvorgaben. So fürchtet die Branche durch Verschärfungen beim Emissionsrechtehandel weitere Wettbewerbsnachteile. Werde der vorliegende Vorschlag umgesetzt, müsste die Stahlindustrie für den Zeitraum von 2021 bis 2030 fast 40 Prozent der Zertifikate zukaufen, sagt Stahl-Präsident Kerkhoff.
Braucht Europa denn überhaupt noch eine Stahlindustrie?
Zwar arbeiten etwa in Deutschland nicht einmal mehr 90.000 Menschen in den Hütten - doch ein Europa ohne Hochöfen ist für viele eine Horrorvorstellung. Die Anlagen haben dabei nicht nur symbolische Bedeutung. Wirtschaftsvertreter verweisen darauf, dass eine funktionierende Stahlbranche Basis für die wichtigsten Industriezweige sei.