Keineswegs schadstoffarm wirkt jener dunkelbraune Rauch, der an diesem Freitagmorgen im Mai über dem Stahlwerk von Mariupol steht. Der Dunst stammt aus Hochöfen, die Altmetall zu flüssigem Stahl kochen. Schichtleiter Igor Gafina freut sich allen Ernstes, dass es qualmt und stinkt: „Bei uns laufen die Öfen auf vollen Touren“, rapportiert der Chef von einer der fünf Brigaden, die rund um die Uhr Stahl kochen, bis er bei 1700 Grad funkenschlagend in Feuerbächen abfließt. „Gott sei Dank hat uns die Krise da draußen nicht erwischt“, sagt der Ingenieur. Er ist stolz auf seinen Job im größten Stahlwerk der Ostukraine, das dem Oligarchen Rinat Achmetow gehört.
Die „Krise da draußen“ schüttelt den hoch industrialisierten Osten so heftig durch wie kein Ereignis seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Vor wenigen Wochen lagen in Mariupol am Asowschen Meer Tote auf den Straßen. Sicherheitskräfte aus Kiew hatten mit Separatisten um die Kontrolle der Stadt gekämpft. Vergangene Woche gab es Gefechte um den Flughafen in Donezk. Radikale, die Unabhängigkeit von Kiew fordern und vom Anschluss an Russland träumen, erschwerten am Sonntag die Präsidentschaftswahlen in der Region: Dort konnte nur etwa ein Fünftel der Wahllokale öffnen.
Flurschaden ist enorm
Als Gegner der Separatisten stehen die Werktätigen zusammen: „Wer arbeitet, ist kein Separatist“, behauptet Stahlkocher Gafina. Arbeiter im Industrierevier Donbass verstünden, dass ihre Jobs an der Zukunft der Betriebe hingen. Und die hätten Probleme, wenn der Osten nicht mehr zur Ukraine gehören würde. Mit einer „Volksrepublik Donezk“ würde kaum jemand in Europa Geschäfte machen: In einer nicht anerkannten Separatistenregion wäre das Risiko zu hoch, das versichert niemand. Und als Teil Russlands würden sie gegenüber den moderneren Unternehmen dort an Wettbewerbsfähigkeit verlieren.
Bereits jetzt ist der Flurschaden enorm. Infolge der Instabilität liegen in der Region alle Investitionen brach. Viele Unternehmen haben Probleme mit der Materialbeschaffung, da die Transportdienstleister aus Furcht vor Plünderungen an Kontrollpunkten der Separatisten Fahrten möglichst vermeiden.
Die wirtschaftliche Bedeutung der Ukraine
Das flächenmäßig nach Russland größte europäische Land besitzt jede Menge davon: Eisenerz, Kohle, Mangan, Erdgas und Öl, aber auch Graphit, Titan, Magnesium, Nickel und Quecksilber. Von Bedeutung ist auch die Landwirtschaft, die mehr zum Bruttoinlandsprodukt beiträgt als Finanzindustrie und Bauwirtschaft zusammen. Etwa 30 Prozent der fruchtbaren Schwarzerdeböden der Welt befinden sich in der Ukraine, die zu den größten Weizenexporteuren gehört. In der Tierzucht spielt das Land ebenfalls eine führende Rolle.
Sie ist gering. Das Bruttoinlandsprodukt liegt umgerechnet bei etwa 130 Milliarden Euro, in Deutschland sind es mehr als 2700 Milliarden Euro. Das Pro-Kopf-Einkommen beträgt nicht einmal 3900 Dollar im Jahr. Wuchs die Wirtschaft 2010 um 4,1 und 2011 um 5,2 Prozent, waren es 2012 noch 0,2 Prozent. 2013 dürfte es nur zu einem Plus von 0,4 Prozent gereicht haben.
Exportschlager sind Eisen und Stahl, gefolgt von Nahrungsmitteln, Rohstoffen und chemischen Produkten. Wichtigstes Importgut ist Gas. Auch Erdöl muss eingeführt werden. Die Ukraine könnte aber vom Energie-Importeur zum -Exporteur werden, weil sie große Schiefergasvorkommen besitzt.
Sie ist von der Schwerindustrie geprägt, besonders von der Stahlindustrie, dem Lokomotiv- und Maschinenbau. Ein Grund ist, dass die Sowjetunion einen Großteil der Rüstungsproduktion in ihrer Teilrepublik Ukraine angesiedelt hatte. Eine Westorientierung und die Übernahme von EU-Rechtsnormen könnte das Land zunehmend zum Produktionsstandort für westliche Firmen machen.
Deutschland ist einer der wichtigsten Handelspartner der Ukraine. Gemessen an der Größe des Landes ist das deutsche Handelsvolumen aber unterdurchschnittlich. Zu den wichtigsten deutschen Exportgütern zählen Maschinen, Fahrzeuge, Pharmaprodukte und elektrotechnische Erzeugnisse. Wichtigste ukrainische Ausfuhrgüter sind Textilien, Metalle und Chemieprodukte. Nach Angaben des Ostausschusses der Deutschen Wirtschaft sind knapp 400 deutsche Unternehmen in der Ukraine vertreten. Bei den Direktinvestitionen liegt Deutschland auf Platz zwei hinter Zypern.
Chancen ergeben sich für die deutsche Wirtschaft vor allem im ukrainischen Maschinen- und Anlagenbau. Zudem ist die frühere Sowjetrepublik mit ihren rund 45 Millionen Einwohnern ein potenziell wichtiger Absatzmarkt für Fahrzeuge. Korruption und hohe Verwaltungshürden stehen Investitionen indes im Wege.
Rund ein Drittel der ukrainischen Exporte fließt in die EU. Eine engere wirtschaftliche Verknüpfung durch ein Handels- und Assoziierungsabkommen liegt auf Eis, nachdem Präsident Viktor Janukowitsch auf russischen Druck seine Unterschrift verweigerte. Für die EU ist die Ukraine für die Versorgung mit Erdgas von Bedeutung. Rund ein Viertel ihres Gases bezieht die EU aus Russland, die Hälfte davon fließt durch die Ukraine.
Mit Abstand wichtigster Handelspartner der Ukraine ist Russland. Ein Drittel der Importe stammt aus dem Nachbarland, ein Viertel der Exporte gehen dorthin. Der Regierung in Moskau ist eine Orientierung der Ukraine nach Westen ein Dorn im Auge. Stattdessen drängt sie das Land zum Beitritt zur Zollunion mit Kasachstan und Weißrussland.
Streit flammt zwischen beiden Ländern immer wieder über Gaslieferungen auf. Die Ukraine importiert fast ihr gesamtes Gas aus Russland, muss dafür aber einen für die Region beispiellos hohen Preis zahlen. Der Konflikt über Preise und Transitgebühren hat in der Vergangenheit zu Lieferunterbrechungen geführt, die auch die Gasversorgung Europas infrage stellten.
Von Subventionen aus Kiew abgeschnitten
Seit März, als Radikale die Gebietsverwaltung unter ihre Kontrolle brachten, ist die Industrieregion um Donezk ebenso wie das benachbarte Gebiet Lugansk von Subventionen aus Kiew abgeschnitten, etwa für Kohle. Große Kunden wie die Staatsbahnen Russlands und der Ukraine stornieren ihre Aufträge, andere zahlen nicht pünktlich. Dass die Separatisten mit der Konfiszierung von Unternehmen drohen, um die eigene Kassenlage aufzubessern, verbessert den Auftragseingang nicht.
Am härtesten trifft das kleine Unternehmen. Nikolai Kapturenko, der in Donezk die Überregionale Union mittelständischer Unternehmen vertritt, kennt den Kreislauf: Wegen der Krise zahlen viele Kunden ihre Rechnungen nicht, die Betriebe können ihr Material nicht zukaufen – entweder fehlt das Geld, oder die Logistikkette ist gestört. „Irgendwann zahlen sie keine Löhne mehr, und die Produktion steht still“, klagt Kapturenko. Russland solle gefälligst versuchen, den „Geist des Separatismus wieder in die Flasche zu kriegen“, damit Ruhe und Stabilität in den Donbass zurückkehre.
"Aus den Menschen Zombies gemacht"
So sieht das auch Iwan Awerkin. Der Manager mit der heiseren Stimme ist Direktor des zum australischen Bergbau-Dienstleisters Orica gehörenden Chemieherstellers Minova. „Sie wissen in diesem Land nicht, was in zwei Stunden geschehen wird“, klagt der Sprengstoff-Lieferant für Achmetows Bergwerksbetreiber DTEK. „Noch im Juni werden wir die Produktion einstellen müssen, weil die Vorprodukte zur Neige gehen“, erwartet Awerkin. „Und schon heute haben wir keine Garantie, dass es morgen überhaupt Benzin gibt.“ Er sei die Spielchen der Separatisten „einfach nur leid“.
Viele Unternehmen im Donbass prüfen eine Verlagerung ihrer Betriebe – wie Recyclingunternehmer Wolodimir Bubley: „Ich glaube, der Konflikt des Donbass mit Kiew steht noch ganz am Anfang.“ Es werde nicht gelingen, die Krise in der Region friedlich zu lösen – die russische Propaganda habe „aus den Menschen Zombies gemacht“. Er fürchte, dass die Separatisten mit Kalaschnikows zu den Fabriken kommen könnten, um Steuern einzutreiben.
Was, wenn die Rohstoffe ausgehen?
Bubleys Unternehmen Keramet unterhält in der gesamten Ukraine sowie Ungarn und Polen mehr als 20 Betriebe. Abgesehen von jenem im Osten, läuft die Produktion normal. Außer auf der Krim hat er keinen seiner 800 Mitarbeiter entlassen müssen, die Metall für die Verarbeiter trennen und aufbereiten.
Doch er bezieht 2500 Tonnen Metall weniger als in normalen Monaten, was die Geschäfte im Osten in die roten Zahlen führt: „Die Fahrer transportieren Schrott, dafür können wir sie nicht dem Risiko von Überfällen aussetzen“, sagt Bubley. Die größte Gefahr für die Region sei, dass den Metallurgen die Rohstoffe ausgingen – und die Unzufriedenheit der Arbeiter den Radikalen in die Hände spiele.
"Unser Werkt - unser Stolz"
Zu den Krisengewinnern zählt ein Quartett von jungen Stahlhändlern, die die Zeit der Wirren genutzt haben, um die fast bankrotte Donezker Metallwarenfabrik zu erwerben. Konstantin Kostenko, mit 33 Jahren der Älteste der vier, hat wie seine Kompagnons für Interpipe gearbeitet, einen Stahlhändler und Pipelinehersteller des Oligarchen Wiktor Pintschuk. Womöglich mit dessen Kapital – zugeben will das aber keiner – sind die vier bei der Metallfabrik eingestiegen. „Wir sind ein junges Team, das dieses Werk mit viel Enthusiasmus auf Vordermann bringen will“, frohlockt Kostenko.
Marode ist ein freundlicher Ausdruck, um den Zustand des Werks aus Sowjetzeiten zu beschreiben. Auf unebenem Betonboden mit eingesackten Schienen schweißen fünf Arbeiter in einer riesigen Halle an klobigen Stahlteilen. Von modernen Maschinen keine Spur. „Unser Werk – unser Stolz“, steht auf einem Plakat vor der Halle.
"Wir brauchen keine Unabhängigkeit"
Aber die Fabrik ist in Betrieb – allein das ist schon verblüffend. „Der vorherige Besitzer hat den Arbeitern vier Monate keinen Lohn gezahlt“, sagt Kostenko, damit sei jetzt Schluss. Dass die Übernahme vor sechs Wochen fast zeitgleich mit der Proklamation der „Volksrepublik Donezk“ erfolgt sei, sei Zufall: Den Einstieg und dessen Finanzierung hätten die Stahlhändler seit anderthalb Jahren vorbereitet. Die Krisenzeit wollen die Neueigentümer nutzen, um die Produktpalette zu diversifizieren. Künftig soll die Produktion von Baumaterial für Cash-Flow sorgen, der schrittweise in neue Anlagen investiert wird – bis es das Kombinat mit billigen und einfachen Metallwaren auf den EU-Markt schafft.
Zur Krise hat das Quartett nur eine Meinung: „Wir brauchen keine Unabhängigkeit, sonst steht hier alles still“, sagt Kostenko. Potenzielle Kunden holten sich ihre Informationen aus der Zeitung, und jeder meide das vermeintliche Risiko im Donbass. Die Separatisten würden dies noch schlimmer machen. „In Wahrheit ist bei uns alles ruhig“, sagt der Jungunternehmer, „nicht jeder Arbeiter steht auf den Barrikaden.“ Bei ihm gebe es keine Separatisten, solange er pünktlich gute Löhne zahle.
Stahlarbeiter in Werkskluft patrouillieren
Darauf vertraut auch Oligarch Achmetow. Mitte Mai ruft er seine Leute dazu auf, gegen die Separatisten in Mariupol auf die Straßen zu gehen, um für Ordnung zu sorgen. In Vierertrupps patrouillieren Stahlarbeiter in Werkskluft gemeinsam mit der Polizei. Im Zentrum beaufsichtigen sie junge Separatisten beim Entrümpeln der Stadtverwaltung, die diese zuvor angezündet hatten. Zudem ruft Achmetow in einer Videobotschaft zum Widerstand gegen die Separatisten auf: „In den Städten herrschen Banditen und Marodeure. Die Menschen sind es leid, in Angst zu leben.“
Seine Arbeiter stehen auch deshalb zu Achmetow, weil sein Stahlgeschäft floriert. Paradoxerweise profitiert der laut „Forbes“-Liste 9,4 Milliarden Euro schwere Geschäftsmann kurzfristig von der Krise: Die Landeswährung Griwna ist in einem Jahr um etwa ein Drittel gesunken, was seine Exporte beflügelt.
ThyssenKrupp um ein Vielfaches produktiver
Das gilt in erster Linie für das Iljitsch-Werk in Mariupol, das mit 30.000 Mitarbeitern neben dem schwächelnden Binnenmarkt nach Europa und Südostasien liefert. Dabei ist die 20 Kilometer lange Megafabrik ineffizient: ThyssenKrupp kocht mit der gleichen Manpower im Jahr 15 Millionen Tonnen Rohstahl, die Ukrainer vier.
Achmetow investiert nun eifrig in die Modernisierung: Mit moderneren Produktionsverfahren konnte das Iljitsch-Stahlwerk die Herstellungskosten im ersten Quartal um 54 Millionen Dollar senken. 2015 sollen moderne Gasreiniger in die Hochöfen eingebaut werden, wohl aus deutscher Produktion. Endlich geht Achmetow gegen die Luftverschmutzung vor.
Wobei der braune Qualm über Mariupol ja für die Menschen dort ein gutes Zeichen ist: Solange die Schlote rauchen, muss sich niemand um den Job sorgen. Hoffentlich.