Bayer-Chef Marijn Dekkers sagt: „Die Entwicklung eines neuen Medikaments kostet bis zu zwei Milliarden Euro.“ Und das Tufts Center for the Study of Drug Development im amerikanischen Boston, das unter anderem von der Pharmaindustrie finanziert wird, geht sogar von 2,6 Milliarden Dollar aus, die es koste, ein neues Arzneimittel bis zur Marktreife zu entwickeln.
Doch die Rechnungen sind mehr als fragwürdig, vor allem diejenigen des US-Instituts. Zum einen basieren dessen Daten nur auf rund 100 zufällig ausgewählten Medikamenten. Für eine stichhaltige repräsentative Aussage ist dies viel zu wenig. Zum andern rechnet das pharmanahe Institut die Kosten für die Entwicklung gescheiterter Medikamente sowie die Gewinne hinzu, die den Unternehmen entgangen sind, weil sie das Geld statt am Kapitalmarkt in Forschung investiert haben.
Allein 1,2 der angeblich 2,6 Milliarden Dollar schweren Entwicklungsausgaben entfallen auf diese sogenannten Opportunitätskosten. Die erreichen deshalb eine solche Höhe, weil das Institut unterstellt, die Konzerne hätten ihre Forschungsausgaben ja auch auf dem Kapitalmarkt für 10,5 Prozent Zinsen anlegen können – eine aberwitzige Annahme.
Andrew Witty, Chef des größten britischen Pharmakonzerns GlaxoSmithKline, geht dafür mit seiner Branche hart ins Gericht. Er hält selbst Entwicklungskosten von einer Milliarde Dollar für ein einziges Medikament für einen „Mythos“. Bei weniger Fehlschlägen würden auch die Kosten sinken, sagt Witty – und empfiehlt seinen Kollegen, die Forschung effizienter zu gestalten.
Auf Kritik stoßen die Konzerne mit ihren hohen Preise bei vielen neuen Medikamenten auch, weil deren Wirkung häufig zu wünschen übrig lässt. Rund 100 Präparate haben die Prüfer des Gemeinsamen Bundesausschusses inzwischen untersucht. Nur bei rund einem Fünftel konnte ein „beträchtlicher“ Zusatznutzen festgestellt werden, bei 25 Prozent ein „geringer“ und bei acht Prozent ein „nicht quantifizierbarer“ Zusatznutzen. Der Rest – fast die Hälfte der Medikamente – fiel durch das Raster.
Für die Pharmaindustrie ist das eine wenig schmeichelhafte Bewertung. Entsprechend mühen sich die Hersteller, den Sinn der Nutzenbewertung öffentlich infrage zu stellen, um ihre hohen Preise zu retten. Dabei verzetteln sich jedoch viele in Scharmützeln um Details und versuchen, mit lückenhaften Informationen und Dossiers die Bewertungsverfahren zu unterlaufen.
Unerhebliche Argumente
So fühlten sich die Manager des deutschen Herstellers Boehringer ungerecht bei ihrem neuen Diabetes-Mittel Trajenta behandelt. Die Prüfer des Gemeinsamen Bundesausschusses hatten das Präparat nicht mit den jüngeren Diabetes-Arzneien verglichen, sondern mit den preiswerten Sulfonylharnstoffen, die es bereits seit den Sechzigerjahren gab. Gemessen daran hätte sich Boehringer mit einem niedrigeren Preis zufriedengeben müssen, den die Krankenkassen für Trajenta bereit waren zu erstatten.
Es sei „unerheblich“, seit wann eine Vergleichstherapie verfügbar sei, sagt Josef Hecken, der unparteiische Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses. „Humaninsulin und Penicillin sind seit über 50 Jahren verfügbar und dennoch immer noch der Versorgungsstandard in Deutschland.“ Ergebnis: Deutsche Patienten haben nichts vom angeblich medizinischen Fortschritt durch Boehringer. Der Konzern entschied daraufhin, das Mittel in Deutschland erst gar nicht auf den Markt zu bringen.
Gern betonen die Hersteller bei neuen Pillen und Salben auch, dass sie angeblich die Genesung aller Patienten befördern, die an einer bestimmten Krankheit leiden. Doch auch dies ist vielfach mehr Wunsch als Wirklichkeit und dient in erster Linie dazu, den Nutzen des Medikamentes nach oben zu schrauben. Die Prüfer des Gemeinsamen Bundesausschusses sowie des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit (Iqwig) in Köln, das für die Beurteilung mit zuständig ist, teilen die Patienten in Untergruppen, um abzuschätzen, welchen Nutzen ein neues Medikament hat. Je nach genetischer Disposition oder Vorerkrankungen kann der nämlich höchst unterschiedlich ausfallen.