Verschärft sich dieses Szenario, wackelt eine der Grundfesten des deutschen Gesundheitssystems: die Garantie auf Behandlung und Heilung, ganz unabhängig vom eigenen Geldbeutel. Denn entweder führen die teuren Mittel zu deutlich höheren Versicherungsbeiträgen als heute, oder die entsprechenden Therapien wären privat zu zahlen. Beide Alternativen aber rücken die brisante Frage nach vorne: Geld oder Gesundheit?
Der Chef des größten deutschen Uni-Klinikums, der Charité in Berlin, sagte vergangene Woche dem „Handelsblatt“ mit Verweis auf immer teurere Präparate: „Wir werden künftig nicht mehr das ganze Gesundheitssystem solidarisch finanzieren können.“ Damit wird der Preis für Medikamente zur moralischen Kategorie – und zwar für Millionen von Patienten: Denn neben Spezialmitteln wie gegen Hepatitis liegen auch viele neue Mittel gegen häufigere Krankheiten wie Brust- oder Prostatakrebs in der hohen Preisklasse.
Die Pharmaindustrie testet die Schmerzgrenze von Patienten und Krankenkassen: Wie viel echte oder vermeintliche Heilung lassen sich die Kranken vorenthalten, und wie lange ertragen Kassenmanager und Politiker den daraus resultierenden Druck der Versicherten?
Dabei sollten all die Winkelzüge der Konzerne, Horrorpreise durchzusetzen, längst ins Leere laufen. Denn 2011 setzte der damalige Gesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) durch, dass die Hersteller den Nutzen neuer Präparate stärker als bisher belegen müssen. Dazu überprüft der sogenannte unabhängige Gemeinsame Bundesausschuss, eine Art Gesundheitsparlament aus Ärzten und Kassenvertretern, ob ein neues Medikament einen zusätzlichen Nutzen gegenüber vorhandenen Präparaten bringt. Die Wertung, ob dieser „gering“, „beträchtlich“ oder „erheblich“ ist, bildet die Basis für den Preis, den der Hersteller schließlich mit dem Spitzenverband der Krankenkassen aushandelt.
Doch die Politik ließ Big Pharma ein Schlupfloch: Im Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetz von 2011 blieb festgehalten, dass die Hersteller im ersten Jahr nach der Marktführung den Preis für ein Medikament völlig frei festlegen können. Damit, so argumentierte die damalige gelb-schwarze Koalition, sollten die Unternehmen einen Anreiz für Innovationen erhalten.
Die Folgen sind andere, als von den Politikern erhofft. Denn die Konzerne nutzen die Freiheit als Schlupfloch, um quasi durch die Hintertür kräftig in die Gesundheitskassen zu langen. „Bei den neuen Hepatitis-Medikamenten haben wir erlebt, dass Hersteller diese Preissetzung auch völlig losgelöst von tatsächlichen Entwicklungs- und Herstellungskosten vornehmen“, sagt AOK-Vorstand Mohrmann.
Fragwürdige Kostenrechnung
Gleiches beobachtet der Onkologe Bernhard Wörmann von der Berliner Charité bei Krebsmitteln. „Die Einstandspreise sind stark gestiegen, die Präparate kosten inzwischen 8.000 Euro im Monat und mehr, vor Jahren lag der Schnitt noch bei 5.000 Euro.“
Viele teure Präparate, etwa Antidiabetika oder Rheumamittel, sind jedoch auch nicht zwingend besser: Häufig brächten sie für die Patienten keinen wesentlichen Zusatznutzen, sagt der Bremer Pharmazeut Gerd Glaeske.
Die Gründe, die die Hersteller für ihre Exzesse anführen, erweisen sich bei näherer Betrachtung in den seltensten Fällen als stichhaltig. Beliebtestes Argument für Spitzenpreise sind die angeblich hohen Kosten, die insbesondere für die Erforschung und Entwicklung von Medikamenten anfallen würden.
Zwischen 15 und 25 Prozent ihres Umsatzes stecken die Unternehmen in die Erprobung neuer Arzneimittel. „Die Hersteller geben inzwischen deutlich mehr für Forschung und Entwicklung aus als noch vor wenigen Jahren, auch weil die Komplexität und die Anforderungen der Zulassungsbehörden gestiegen sind“, meint Michael Kunst von der Unternehmensberatung Bain & Company, der Pharmaunternehmen berät. „Die Unternehmen gehen dabei hohe Risiken ein, die preisen sie natürlich entsprechend mit ein.“