Schon im Landeanflug weiß Sven Axel Groos, dass er gleich schrecklich schwitzen wird. Der Monsun tobt, es ist Ende Juni – eine ungünstige Zeit, um nach Bangladesch zu fliegen. In den mehr als 5000 Textilfabriken des Landes läuft die Winterware von den Bändern, die Frühlingskollektion hängt noch am Reißbrett der Designer. Für Einkäufer wie Groos gibt’s also nichts einzukaufen.
Vom Flugzeug aus sieht Groos, wie das Wasser in Bindfadenform auf die grauen Betonburgen der Hauptstadt Dhaka fällt. Um die 35 Grad heiß wird es draußen sein. Diesmal grüßt die 14-Millionen-Metropole ihre Gäste nicht nur mit hässlicher Armut, sondern auch mit Sauwetter.
Groos ist Chefeinkäufer bei Tchibo für alle Waren, die man nicht essen kann, Kleidung zum Beispiel. Er hat viele Einkäufer, die für ihn arbeiten. Aber diesmal geht es nicht um Preise. Es geht um Prinzipien, große Politik, die Revolution – seine Revolution.
Mindestlöhne für alle Lieferanten
Das Flugzeug, in dem er sitzt, gehört der deutschen Luftwaffe. Jenseits der Trennwand schnallt sich Außenminister Guido Westerwelle gerade zur Landung an. Auf halber Strecke hatte Groos den FDP-Politiker gebeten, er möge während des Besuchs Druck auf Bangladeschs Regierung ausüben, die Mindestlöhne von 30 Euro im Monat heraufzusetzen – für alle Lieferanten, damit die höheren Personalkosten keinen im Wettbewerb benachteiligen. Überstunden-, Brandschutz- und Hygieneregeln müssten verbessert werden. Es brauche den Druck von Politik und Wirtschaft, damit sich etwas ändert, sagt Groos.
Tchibo ist klein in Bangladesch, der letzten Billig-Werkbank für den Massenmarkt der Textilindustrie. Riesen wie C & A oder H & M ordern Containerschiffe voll mit Klamotten aus der Großregion um Dhaka mit ihren 40 Millionen Einwohnern. Groos reichen ein paar Dutzend Lkws. Doch alle Modeketten haben die gleichen Sorgen. Wie China vor 20 Jahren leidet Bangladesch unter frühkapitalistischen Geburtswehen. Die soziale Verantwortung des Fabrikanten erschöpft sich darin, Jobs zu schaffen.
Grausame Bilder
Markenklamotten entstehen zuweilen in abbruchreifen Fabriken, genäht von dürren Mädchen mit blutigen Fingern, die die Nächte auf verlausten Matratzen in Slums verbringen. Aber an Bangladesch kommt die Textilbranche nicht mehr vorbei: Das Land ist in zehn Jahren vom zehnt- zum zweitgrößten Schneider für Europa geworden – gleich nach China. Deutsche Modelabel importieren von dort bald mehr als aus der Türkei.
Die Frage drängt sich auf: Wie sozialverträglich kann ein Modelabel dort produzieren lassen? Wie viel Fairness kann ein Markenhändler Lieferanten aufzwingen, ohne ihn zu verprellen – und sich so im harten Preiskampf selbst ins Knie zu schießen?
Einerseits kaufen deutsche Verbraucher Klamotten gern zu Schleuderpreisen: Zwei Drittel aller Textilien gehen über die Wühltische der Discounter. Andererseits verlangt König Kunde, dass sein T-Shirt fair und sauber hergestellt wird. Groß ist der Aufschrei, wenn im Fernsehen grausame Bilder laufen wie die von der Fabrik in Pakistan, in der vor wenigen Tagen fast 300 Arbeiter verbrannten. Auch der deutsche Discounter Kik ließ dort Jeans nähen. Laut Dienstleistungsgesellschaft Verdi, die gerade eine internationale Kampagne für höhere Löhne in den Zulieferländern startete, kamen zwischen 2006 und 2010 allein in Bangladesch mehr als 550 Beschäftigte bei Fabrikbränden ums Leben. Aber für die Hose mehr bezahlen, damit die Standards in den Fabriken besser werden? So groß ist das schlechte Gewissen der Kunden nicht.
Wege zum sauberen Textilimport
Textilriesen kaufen Kleidung meist über Importeure. Die Dienstleister im Dunkeln knabbern zwar an den Margen – ihnen können sie aber bei Skandalen die Verantwortung aufladen. Wer das vermeiden will, muss die Lieferkette in Eigenregie kontrollieren.
Lieferanten in Ländern wie Bangladesch wickeln ihre Bestellungen oft über Partnerfirmen ab, die in bedeutend schlechterem Zustand sind als die Vorzeigefabriken. Wer seine Verantwortung ernst nimmt, muss in diese Subfabriken Kontrolleure schicken und Kunden deren Namen nennen können.
Echten Einblick in die Arbeitsbedingungen bekommen nur eigene Mitarbeiter der Modeunternehmen, die ständig vor Ort sind. Jedes Label sollte daher ein Team aus entsandten und lokalen Einkäufern, Beratern und Kontrolleuren im Lieferland aufbauen.
Der Glücksfall ist die Arbeit mit Lieferanten, die ihren Hauptkunden als Partner verstehen – und sich mit dessen Hilfe weiterentwickeln wollen. Das erfordert Vertrauen auf beiden Seiten und viel Zeit. Hilft ein Modekonzern seinen Lieferanten, die Produktivität zu verbessern, steigt auch dessen Bereitschaft zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen.
Label wie H & M, C & A, Kik oder Tommy Hilfiger importieren solche Mengen aus Bangladesch, dass sie über gewaltigen Einfluss verfügen – theoretisch. Praktisch arbeitet jeder für sich, statt gemeinsam am runden Tisch mit der Regierung nach besseren Gesetzen zu verlangen. Auch politischer Druck ist rar, obwohl gerade Deutschland in Entwicklungsländern viel Respekt genießt.
Aufmerksamkeit für CSR
Der Grat zwischen billig und fair ist schmal: Jeder Skandal, jeder Brand kann Marken zerstören. Die Furcht davor ist jenseits philanthropischer Manöver der Grund dafür, dass die Branche dem Thema Corporate Social Responsibility (CSR) so viel Aufmerksamkeit widmet wie nie. Wie schwierig es für Händler ist, die Lieferwege aus einem Entwicklungsland wie Bangladesch sauber zu halten, zeigen Besuche in acht zufällig ausgewählten Textilfabriken. Getarnt als Berater deutscher Mode-Einkäufer traf der WirtschaftsWoche-Reporter auf die ungeschminkte Realität.
Der Alltag spielt jenseits der Hauptstraßen. Unser Auto schwankt wie eine Barke, als es sich über eine unbefestigte Dorfstraße nordwestlich des Flughafens Dhaka kämpft. Links fließt ein Rinnsal, das Wasser glänzt dunkelblau. In der Nachbarschaft muss eine Färberei in Betrieb sein. Vor dem Tor der Fabrik der Fortis-Gruppe, die auf sechs Fabriketagen unter anderem für Aldi Süd fertigt, hängt ein Schild: Kinder müssen draußen bleiben. Mal schauen.
Klimatisierter Vorführraum und "böse Baumwolle"
Der Fabrikchef leistet sich Feuerlöscher und einen klimatisierten Vorführraum. Im Lager aber stapelt sich "böse Baumwolle", wie sie in der Branche heißt. "Made in Usbekistan", steht auf den Kisten, bezogen vom Importeur Veola, der zum indischen Rohstoffriesen Indo Rama gehört. Böse ist die Baumwolle, weil die Regierung Kinderarbeit fördert: In Usbekistan bekommen die Schüler im Oktober frei, um bei der Baumwollernte mitzuhelfen. Die Ware von der Seidenstraße ist qualitativ gut. Wegen der Kinderarbeit behauptet im Westen aber jeder Hersteller, sie zu boykottieren.
Im Vorführraum des Lieferanten hängen Pullover des italienischen Labels Benetton. Bei unserem Besuch ist die Fabrik mit der Produktion von Rollis der Aldi-Hausmarke Crane Kids ausgelastet. An den Kragen klebt das Gänseblümchen des Prüfinstituts Hohenstein, der Oeko-Tex Standard 100. Von Ökokontrolleuren ist in der Fabrik aber nichts zu sehen. Der Prototyp wird aus Dhaka zu Hohenstein geschickt und dort geprüft. Eine halbe Million Teile in drei Farben hat Aldi Süd über den Importeur Güldenpfennig aus dem niedersächsischen Quakenbrück geordert, das Teil im Einkauf für 2,97 Dollar. Im Laden dürfte es mindestens das Vierfache kosten.
Die zehn wichtigsten Beschaffungsmärkte für Textilien
Wert der Exporte nach Deutschland: 1292 Millionen Euro
Veränderung zum Vorjahr: +17,8 Prozent
Quelle: AVE, Stand 2011
Wert der Exporte nach Deutschland: 237 Millionen Euro
Veränderung zum Vorjahr: -25,4 Prozent
Wert der Exporte nach Deutschland: 210 Millionen Euro
Veränderung zum Vorjahr: +78,6 Prozent
Wert der Exporte nach Deutschland: 205 Millionen Euro
Veränderung zum Vorjahr: +19,1 Prozent
Wert der Exporte nach Deutschland: 139 Millionen Euro
Veränderung zum Vorjahr: +1,5 Prozent
Wert der Exporte nach Deutschland: 91 Millionen Euro
Veränderung zum Vorjahr: +42,4 Prozent
Wert der Exporte nach Deutschland: 91 Millionen Euro
Veränderung zum Vorjahr: -0,1 Prozent
Wert der Exporte nach Deutschland: 90 Millionen Euro
Veränderung zum Vorjahr: +55,2 Prozent
Wert der Exporte nach Deutschland: 32 Millionen Euro
Veränderung zum Vorjahr: +18,9 Prozent
Wert der Exporte nach Deutschland: 27 Millionen Euro
Veränderung zum Vorjahr: +117,4 Prozent
Stickiger Betonklotz
Längst wissen die Bengalen, was Westler hören möchten. "Diese Baumwolle beziehen wir aus China", behauptet ein Fortis-Manager erschrocken. Dabei beweist die Aufschrift der Kisten das Gegenteil. Bangladesch, sagt tags darauf ein lokaler Importeur freimütig, importiere etwa 60 Prozent der verarbeiteten Baumwolle aus Usbekistan – oft via China, womit sich die Importeure herausreden können.
Aldi Süd gibt zu, mit Fortis zu arbeiten, schiebt die Verantwortung aber an den Importeur Güldenpfennig weiter. Der lässt schriftlich ausrichten, man lasse dort nur Funktionskleidung nähen. Baumwollartikel habe man "bis dato bei Fortis Group nicht produzieren lassen". Ansonsten machen die Räume des Aldi-Herstellers einen ordentlichen Eindruck: Junge Näherinnen schauen nicht allzu kindlich aus. Und wenn eine Langnase hereintritt, ziehen sie sogar Staubmasken auf.
Rostige Ventilatoren
Auf in die nächste Fabrik. Rostige Ventilatoren drehen bei Florence Fashions im Zentrum von Dhaka ihre Runden an den Fenstern. Das bringt ein bisschen Durchzug ins stickige Innere des Betonklotzes. Junge Mädchen kauern auf Holzschemeln, nähen Hemden und friemeln sie in die Verpackung. Florence Fashions wirbt damit, auch für die deutschen Händler Metro und New Yorker zu nähen. Beide Unternehmen dementieren "direkte Lieferbeziehungen", schließen aber nicht aus, dass es sich um Zulieferer des Lieferanten handelt. Die Branche schämt sich für ihre bengalischen Werkbänke – in der Nachrecherche mauern die Pressestellen so lange, wie es geht.
Obwohl die Fenster vergittert sind, ist die Fabrik eine der besseren dieser Recherche. Aber auch hier wird jeder Westnase übel. Die Ventilatoren blasen keine frische Luft, sondern den Gestank der Straße in die Fabrik. Der Gehweg vis-à-vis ist eine Müllhalde, die Obdachlose auf der Suche nach Essensresten umgraben. Fabrikmanager Moazzem Hussain empfängt die schwitzenden Männer aus dem Westen denn auch lieber in einem klimatisierten Büro.
Schlimmer geht’s immer: Purple Apparels in Kanchpur südlich von Dhaka etwa hat nie ein Sozial-Audit absolviert. "Wir haben vor, die Prüfung abzulegen", sagt Einkäufer Mizan Rahman, "aber vorher müssen wir noch einiges investieren." Es fehlt an Feuertreppen in der stickigen Hinterhoffabrik, Fenster sind vergittert. Trotzdem nähte die Fabrik erst kürzlich Blusen und T-Shirts der Marke Designers.
"Code of Conduct"
Empfänger war laut Lieferschein Fulltrade International. Dabei handelt es sich um einen Importeur der Metro Group – und um eine Marke, die über Real-Supermärkte vertrieben wird. Gegenüber der WirtschaftsWoche räumt der Handelsriese später – nach einer "spontanen Inspektion der Firmen vor Ort" – indirekte Lieferbeziehungen zu Florence Fashion sowie Purple Apparels ein, spricht aber von Einzelfällen. Inzwischen gebe es keine Geschäftsbeziehungen mehr zu den entsprechenden Produzenten; Hersteller, die nicht Metro-Standards entsprächen, würden "ausgelistet".
BSCI steht für die Business Social Compliance Initiative und ist ein Verband von Importeuren, Textilherstellern und -händlern, der Lieferanten in Billiglohnländern auf Mindeststandards verpflichtet. Dazu zählt auch ein Verbot von Kinderarbeit. In puncto Arbeitszeit und Überstunden orientiert sich der Verband an den Vorgaben der Internationalen Arbeitsorganisation, die den Vereinten Nationen untersteht. Die meisten Lieferanten werden nur einmal geprüft, unterschreiben die Selbstverpflichtung der BSCI und den "Code of Conduct" der Abnehmer, deren PR-Leute mit dem Wisch Journalisten einseifen wollen: Seht her – wir sind sauber. "In Wahrheit werden wir von den Lieferanten nach Strich und Faden belogen und betrogen", klagt der Einkäufer eines Modekonzerns.
Gesetzlicher Mindestlohn
Manche Fabriken haben nicht einmal ein BSCI-Audit, etwa Megastar Apparel. Die Fenster des Werks im Zentrum von Dhaka sind vergittert, die Räume dunkel, der einzige Fluchtweg ist ein enges Treppenhaus, über das die 600 Arbeiter im Brandfall niemals werden fliehen können. Das Unternehmen zahlt nur den gesetzlichen Mindestlohn von 30 Euro im Monat.
Trotzdem lässt die irische Billigkette Primark, die in Deutschland gegen den Platzhirsch H & M antritt, hier gerade Hosen nähen. Auf Anfrage wiegelt die Modekette ab, Megastars Apparel habe eine "sehr kleine nicht genehmigte Order" abgewickelt, "ohne Kenntnis und Einverständnis von Primark". Man werde die Geschäftsbeziehung mit dem Lieferanten überprüfen.
Megastar Apparel ist einer von Tausenden Subvertragsnehmern. Die teuren Werksprüfungen, Audits genannt, leistet sich meist nur die Vorzeigefabrik einer Gruppe, die der Fabrikant bereitwillig jedem Westler zeigt. Aber je nach Auslastung lagert er Arbeit an Schwesterfirmen ohne Audit aus.
Verdreckter Eingangsbereich
Solch ein Sublieferant ist auch die Jeansfabrik Samar Fashion Tex, wo Nähmaschinen neben offenen Plumpsklos stehen. Im verdreckten Eingangsbereich hat ein französischer Handelskonzern ein Plakat mit seinen Sozialstandards aufhängen lassen. Dahinter stapeln sich in einer Kinderkrippe Kartons. "Wir können da wieder Kinder reinsetzen, aber wir sind ja sowieso nicht compliant und brauchen das nicht", sagt Verkäufer Mostafizur Rahman, der den Reporter für Kundschaft hält. Überhaupt sind die Manager erfrischend offen. Generaldirektor Sabbir Ahmed verspricht, dass die Arbeiter nur nach Mindestlohn bezahlt werden und von 8 bis 20 Uhr arbeiten – vier Stunden mehr als erlaubt. "Und wenn wir sie bitten, arbeiten die länger."
Daher kann der Fabrikant bei kleineren Volumen von 10.000 Stück einen Preis von 5,60 bis 5,70 Dollar für eine Herren-Jeans anbieten, die ein Modeladen für 30 Euro verkaufen könnte. Die Fabrik ist in baufälligem Zustand und nicht ausgelastet. An diesem Morgen nähen die Arbeiterinnen Hosen für die italienische Modemarke Gaudi, samt Aufnäher "Made in Turkey".
Mauer mit Stacheldraht
Auf solche halbseidenen Zulieferer sind Mittelständler oft angewiesen, wenn sie in Bangladesch nähen lassen wollen. Hersteller wie H & M oder C & A buchen Fertigungskapazität in den besten Fabriken – und sogar sie müssen zittern, wenn der US-Einzelhandelsriese Wal-Mart kommt und doppelt so große Aufträge platziert. "Wenn wir Pech haben, schmeißt uns der Fabrikant einfach von der Linie", sagt ein Einkäufer, der lange im Geschäft ist.
Olymp dagegen hatte Glück. Der Hemdenfabrikant aus dem württembergischen Bietigheim hat sich mit Interfab einen Lieferanten aus der bengalischen Vorzeige-Gruppe Viyellatex geangelt. Mitgründer Ahasan Kabir Khan hat ein Imperium aufgebaut, das neben Olymp auch für Hugo Boss, Esprit, Puma und s.Oliver näht. "Ich freue mich über jeden Kontrolleur, die Kunden treiben uns in die richtige Richtung", sagt Kabir Khan.
Der Kontrolleur heißt Silke Wippert und arbeitet für Olymp. Sie sitzt den ganzen Tag in der Interfab-Fabrik im Stadtteil Gazipur und lächelt meistens, wenn sie erzählt. In einem klimatisierten Räumchen zupft sie an Knöpfen oder begutachtet Nähte. "Ich sehe mich als Partner der Fabrikanten und möchte helfen, die tollen Menschen zu qualifizieren", flötet die Technikerin. Abends fährt der Fahrer sie ins Radisson Hotel – hinter eine Mauer, die von Stacheldraht gekrönt wird.
Die Armut bleibt draußen
Die Armut des Alltags bleibt draußen. Sie zeigt sich im Slum der Siedlung Kunipara, deren Straßen aus kippligen Holzbohlen bestehen, unter denen die Abwässer abwechselnd fließen oder stehen. In einer der Hütten haust die 15-jährige Sumi. Die Näherin teilt sich den Verhau mit ihrem 18-jährigen Bruder Hassan und drei Fremden. Zwei dürfen abwechselnd in einem Bett ohne Matratze schlafen, die anderen liegen auf dem Holzboden. Sumi ist im vorigen Jahr aus der Provinz nach Dhaka gekommen und verdient als ungelernte Kraft monatlich 3000 Taka, knapp 30 Euro. Alleine könnte sie dem Slumbesitzer die Miete nicht bezahlen: Zwölf Quadratmeter Wellblech kosten 2400 Taka im Monat.
In der Fabrik neben dem Slum näht sie pro Tag am Band 500 Pullover für die Hameem-Gruppe, die in dem neunstöckigen unverputzten Betongebäude schicke Klamotten für H & M fertigt. Auf den Arbeitgeber lässt sie nichts kommen. Überstunden werden bezahlt, es gibt eine medizinische Versorgung. Was ihre Träume sind? Sumi denkt lange nach: "Ich will eine bessere Näherin werden und einen guten Mann heiraten", sagt sie. Bruder Hassan ist mit der Antwort unzufrieden: "Wir kommen aus einer armen Familie und haben keine Träume. Wir wollen einfach nur besser leben." Das gehe nur in Dhaka – trotz Slum.
Nachhaltigkeit
Als Frau Wippert am Pool des Restaurants "German Club" die Geschichte von Sumi hört, lächelt sie nicht mehr. Mit dem rauen Alltag hat sie sich wie viele Expats noch nicht beschäftigt. Sie weiß nicht, wie die Arbeiter leben, die sie in der Fabrik ausbildet. Sie weiß auch nicht, ob sie wirklich ein Viertel mehr verdienen als der Otto-Normal-Bengale, wie Olymps Lieferant Interfab behauptet. Olymp-Chef Mark Bezner verlangt keine Einsicht in die Bücher, das sei nicht üblich: "Bei uns gilt das Vertrauen in den ehrbaren Kaufmann."
Härter agiert Tchibo-Mann Groos, und das schon, bevor er mit Westerwelle an Bord des Regierungsfliegers ging. Groos setzte Importeure vor die Tür und arbeitet nun mit eigenen Mitarbeitern in Dhaka. Sie kontrollieren die Lieferanten darauf, ob sie jene Nachhaltigkeit schaffen, die Tchibos PR-Leute in Broschüren versprechen. Bei Tchibo ist Nachhaltigkeit seit einigen Jahren Teil des Risikomanagements. Die Eigentümerfamilie Herz lässt sich über Fortschritte berichten. 2006 war Tchibo wegen der Arbeitsbedingungen bei bengalischen Lieferanten in die Schlagzeilen geraten.
Mit der Strategie, eine kleine Revolution im Textilgewerbe anzuzetteln, macht sich Tchibo in Dhaka nicht nur Freunde. Als Groos wegen fehlender Bausicherheit Verträge mit großen Lieferanten kündigt, überwacht der bengalische Geheimdienst seine Mitarbeiter. Groos sagt das nicht, aber er darf es denken: Die Politik hat kein Interesse an höheren Mindestlöhnen. Denn in Dhaka ist es ein offenes Geheimnis, dass Textilfabrikanten Parlament und Parteien steuern und notfalls mit Schmiergeld dafür sorgen, dass Standards niedrig und die Margen hoch bleiben.
Früher haben sich Einkäufer wie Groos nur hinter den vier Buchstaben BSCI versteckt. Die meisten tun das heute noch. Aber wer kontrolliert im Alltag, dass die Fertigung sauber ist und auch so bleibt?
Konzert der Autohupen
Dhaka, im August. Westerwelle ist weg, der Monsunregen noch da. Die Wolkenbrüche verwandeln die Gossen in Kanäle. Der Alltag ist brutal und laut, ein Konzert der Autohupen, begleitet vom Fortissimo der schrillen Rikscha-Klingeln. In diesem Gewimmel lebt Bernd Hagen seit anderthalb Jahren, langsam gewöhnt er sich daran. Für den Nürnberger gibt es viel zu tun, er arbeitet für den TÜV Rheinland und misst die Welt nach deutschen Standards. Meist geht es um Qualitätssicherung: Im Labor piepsen Apparate, wenn ein T-Shirt Schadstoffe enthält. In Fabriken schauen die Prüfer, ob Schlips und Kragen sauber vernäht sind. Für Tagessätze von 400 Dollar schickt Hagen sie auch zu Sozial-Audits – mit dem BSCI-Bogen, auf dem Fragen stehen wie: "Bekommt jeder Arbeiter wenigstens den Mindestlohn?" – "Zahlen Sie allen Arbeitern die Überstunden aus?"
Naiv wäre ein Fabrikant, der hierauf wahrheitsgemäß mit Nein antwortet – pfiffig jener, der seine Lügen mit gefälschten Büchern dokumentieren kann. Der Prüfer darf nicht in alle Unterlagen schauen, und die Audits erfolgen nur nach Anmeldung. Am Ende des Tages zählt das Kreuzchen. Und wer den Test bestanden hat, den lässt der TÜV für drei Jahre in Ruhe.
Schwammige Audit-Fragen
Hagen hat sich die schwammigen Audit-Fragen nicht ausgedacht. Er ist der TÜV, er prüft nur, was sein Auftrag vorgibt. Als Privatmann sieht Hagen die Schwächen. Doch die Mindeststandards der BSCI seien besser als nichts. "Inzwischen gibt es in den Fabriken wenigstens Verbandskästen, Feuerlöscher und Schutzmasken", sagt er. "Und da immer noch ein Viertel der Fabriken beim BSCI-Audit durchfällt, kann es ja nicht völlig umsonst sein."
Dass Hersteller wie die spanische Inditex (Zara) aus der Alibi-Organisation flogen, weil ihre Hersteller Mindeststandards verletzten, spricht Bände. Der zweitgrößte Textilhändler Europas will sich dazu nicht äußern. Aldi Süd verspricht auf seiner Web-Seite "Verantwortung in der gesamten Lieferkette", die man über die BSCI übernehme – schließlich stehe der "Mensch im Mittelpunkt". Bei Aldi Nord hat sich niemand die Mühe gemacht, Gedanken zur Sozialverantwortung zu formulieren. Dabei sind die Essener BSCI-Mitglied.
Modeunternehmen beteuern stets, wie sauber ihre Ketten sind. Beim Kieler Label New Yorker versichert eine Sprecherin, "dass sich New Yorker der großen Verantwortung gegenüber den Menschen, die an der Herstellung unserer Produkte beteiligt sind, bewusst ist". Darum verpflichte man "alle Lieferanten" zur Einhaltung sozialer Mindeststandards und kontrolliere diese auch. Von wem New Yorker die Klamotten bezieht und wie es die Standards kontrolliert, will die Sprecherin nicht verraten – und mauert damit ebenso bei Details wie ihre Kollegen von Aldi Süd, Tommy Hilfiger, Primark und Inditex.
Praktiker glauben kein Wort
Praktiker glauben kein Wort, wenn Modehändler Kontrolle versprechen. "Es ist für keinen Auftraggeber möglich, die textile Lieferkette in all ihren Wertschöpfungsstufen lückenlos zu kontrollieren", urteilt Michael Arretz. Der CSR-Experte war Chef der Hamburger Beratung Systain, die zum Versandhaus Otto gehört, bis er 2010 die Seiten wechselte: Als Co-Geschäftsführer ist er bei Kik für Nachhaltigkeit zuständig. Die Westfalen sind seit Jahren immer wieder wegen Kinderarbeit, Fabrikbränden und Hungerlöhnen unter Beschuss.
Kik ist einer der Großen in Bangladesch. Für den Billigheimer nähen mehr als 100 Lieferanten, von denen die meisten zwei oder drei Fabriken besitzen. Den Discounter hat über Jahre nicht interessiert, was die Hersteller treiben. Jetzt sorgt sich sogar das Schmuddelkind der Branche um seinen Ruf, darum steuert Arretz um: Wie Tchibo feuert er Importeure, die in Dhaka oft sieben Prozent des Auftragsvolumens als Provision kassieren. Für das gesparte Geld kann Kik vor Ort eigene Leute einstellen, die in Fabriken mit den Lieferanten arbeiten, um Produktivität, Qualität und Arbeitsbedingungen zu verbessern.
Knast wegen Gründung einer Gewerkschaft
Dabei spielt der Discounter seine Größe aus: "Mit 300.000 Stück kann ein Hersteller die Fabrik bequem einen Monat auslasten", sagt Arretz. "Wir bieten Planungssicherheit und erwarten, dass unsere Lieferanten faire Löhne zahlen und für Arbeitssicherheit sorgen." Arretz gibt sich aber gar nicht die Mühe, den Erfolg zu beschwören – er kann nicht garantieren, dass alle Kik-Lieferanten völlig fair arbeiten. Tatsächlich holt ihn immer wieder die Realität ein wie vor wenigen Tagen in Pakistan bei dem verheerenden Brand beim Kik-Lieferanten ALI Enterprises, bei dem fast 300 Menschen starben – trotz Audit. "Am 30. Dezember 2011 wurde die Fabrik auditiert", sagt Arretz, "hier ergab sich auch in Sachen Brandschutz keine Beanstandung."
Natürlich kann man einen Bogen um die Slums machen, Skandale ignorieren und die Sache auch so sehen: Der Boom in der Textilindustrie lässt die bengalische Wirtschaftsleistung seit zehn Jahren im Schnitt um sechs Prozent per annum wachsen. "Klar geht es uns heute besser als vor dem Boom", erzählt Nasra Akter, die mit elf Jahren als Näherin malochte und mit 17 wegen der Gründung einer Gewerkschaft im Knast landete.
Bangladesch brauche die Jobs in der Textilindustrie, die vom Land zugezogenen Familien Perspektiven biete. Natürlich kümmerten sich einige Modelabel darum, dass die Bedingungen besser werden – und helfen der heute 38-Jährigen, Cafés für Frauen einzurichten, in denen Näherinnen medizinisch versorgt werden und wo sie kostenlos Speisen und Getränke bekommen. Doch das sei Stückwerk. "Wir benötigen nicht immer mehr Aufträge, sondern die Hilfe der Großabnehmer aus dem Westen, damit die Arbeitsbedingungen wirklich besser werden", fordert Akter.
Wenige Lieferanten
"Den Königsweg zur sauberen Lieferkette gibt es nicht", sagt Achim Berg, Textilexperte der Beratung McKinsey in Frankfurt. "Mittelständlern wird es schwerfallen, ihre kleineren Aufträge bei guten Fabriken zu platzieren, denn dort kommen große Wettbewerber eher an Kapazitäten." Generell könne jeder das Risiko minimieren, indem er die Zahl der Lieferanten klein halte: "Die wenigen Lieferanten sollten sie zu Partnern aufwerten, mit denen sie wachsen, in die sie Zeit und Geld investieren."
Einfach wird das nicht – und billig erst recht nicht. Kontrolleurin Wippert müsste raus aus dem Radisson und rein in ein Büro vor Ort, wo sie nicht nur Nähte kontrolliert, sondern auch in Lohntüten schaut. TÜV-Prüfer Hagen bräuchte robustere Mandate, um schärfere Audits zu führen. Und es muss mehr Einkäufer geben wie Tchibo-Mann Groos, der Lieferanten Druck macht und die deutsche Politik ins Boot holt.
Koordinierte Aktionen sind Fehlanzeige
Erste Schritte sind getan. Seit Kurzem hat Kik ein Büro in Dhaka, neben Tchibo baut Tom Tailor eins auf. Lokale Mitarbeiter und Entsandte aus Deutschland versuchen die Beziehungen zu Lieferanten zu verstetigen, indem sie dort die Kinderbetreuung organisieren oder nach Produktivitätsdefiziten suchen. Von politischer Seite bewegt sich weniger. H & M-Chef Karl-Johan Persson sprach Anfang September mit Premierministerin Scheich Hasina über eine Erhöhung der Mindestlöhne, die weit unter den realen Lebenshaltungskosten liegen – aber im Alleingang. Koordinierte Aktionen sind Fehlanzeige. Großeinkäufer wie H & M, C & A oder Kik könnten ihre Marktmacht gemeinsam nutzen.
Stattdessen schlachtet jeder seine Alleingänge PR-trächtig aus. "In Sachen CSR wurschteln die Konzerne einzeln vor sich hin, und wenn einer einen Skandal abkriegt, freut das die anderen", fasst der für Nachhaltigkeit zuständige Manager eines großen Händlers zusammen.
Dabei lassen sich die Mindestlöhne nur über politischen Druck erhöhen: "Die meisten Hersteller sind so raffgierig, dass sie sich lieber den fünften Porsche kaufen, als freiwillig den Lohn zu erhöhen", schimpft ein Einkäufer. Wenn nicht alle Konkurrenten mitziehen, traut sich kein Lieferant, den Anfang zu machen – zu groß ist die Furcht vor dem Verlust der Wettbewerbsvorteile. Und im preisfixierten deutschen Textil-Einzelhandel kämpft jeder Anbieter um jeden Cent.
Sozialverantwortung in Fabriken
Auch die deutsche Politik hat nicht weiterhelfen können. Westerwelle will das Thema Sozialverantwortung bei seinem Gespräch mit Außen- und Premierministerin zwar gestreift haben. Aber in Sachen Mindestlohn hat er nichts erreicht. Stattdessen braut sich in Dhaka der nächste Streik für höhere Mindestlöhne zusammen. Das kann keiner gebrauchen: Arbeiter müssten um Leben und Gesundheit fürchten; Streiks enden oft mit Blut und brennenden Fabriken. Der Standort leidet, weil Streiks und Schlachten schlechte Presse bringen. Und Markenhersteller müssen um Ruf und Image fürchten.
Tchibo-Mann Groos hat das 2011 beinahe erlebt: In Dhaka brannte es in einer Näherei der Continental Group, die für Tommy Hilfiger fertigte. Tchibo hatte einige Monate zuvor dort Order platziert, dann aber wegen Brandschutzmängeln die Verträge gekündigt. Bei dem Feuer kamen zwei Arbeiterinnen um. Die Fenster waren vergittert und Feuertreppen fehlten.