Auch bei vielen Managerinnen war Gerhard Cromme nicht beliebt. Die alte Forderung nach mehr Weiblichkeit in den Führungsetagen und im obersten Kontrollgremium von ThyssenKrupp begegnete der Sohn eines Lateinlehrers mit dem Hinweis, der Aufsichtsrat sei kein Kaffeekränzchen. Dass der Abgang des 70-Jährigen ausgerechnet auf den Weltfrauentag fällt, ist zumindest eine amüsante Fußnote.
Der designierte Chef der Krupp-Stiftung, Stellvertreter von Berthold Beitz und Aufsichtsratsvorsitzende des Stahlkonzerns ThyssenKrupp, ist am Freitagnachmittag um 13.37 Uhr von all seinen Ämtern zurückgetreten. Aus und vorbei. Über die Gründe wurde in Kreisen der deutschen Industrie sofort spekuliert. Wenige Tage vor Crommes Rücktritt hatten Kripo, Bundespolizei und Bundeskartellamt Büros des Konzerns durchsucht. Die Beamten gingen Hinweisen nach, nach denen es massive Kartellabsprachen beim Karosseriestahl gegeben haben soll. Selbst loyale Manager bei ThyssenKrupp sind sich einig: Eine solche Razzia in der Herzkammer von ThyssenKrupp, dem Stahlwerk Duisburg-Bruckhausen, geschieht nur, wenn der Verdacht sehr schwer wiegt. ThyssenKrupp wurde bereits wegen Absprachen beim Schienenhandel und im Aufzuggeschäft abgestraft.
Doch Schienen sind ein Randgeschäft bei ThyssenKrupp. Das Brot- und Butter-Geschäfts des Konzerns ist der Flachstahl. Die Duisburger walzen es für die Autoindustrie. Käufer sind Volkswagen, BMW und Mercedes. Hat ThyssenKrupp die Ikonen der deutschen Industrie durch Absprachen geschädigt? Dann hätte sich Cromme in der Tat nicht länger halten können.
Dabei gilt Cromme eigentlich als Teflon-Manager, einer, an dem alles abperlt und nichts hängen bleibt. Das war so bei Fehlinvestitionen in den USA und Brasilien, und bei Korruptionsvorwürfen bei ThyssenKrupp und bei Siemens, wo er ebenfalls den Aufsichtsrat leitet. Zuletzt wusste Cromme stets seinen Mentor Beitz im Rücken. Als der vor Weihnachten mitteilte: „Cromme bleibt“, war das eine Art Generalamnestie für den Manager.
Hat Beitz ihm nun nach der Razzia diese Gnade verweigert? Hat Cromme gar, entnervt von den neuen Verdachtsmomenten, die ThyssenKrupp demnächst in noch größere Negativschlagzeilen bringen könnten, das Handtuch und sämtliche Kleenex-Tücher geworfen, mit denen er sich in der Vergangenheit stets zu reinigen suchte? Gab das neuerlich in Auftrag gegebene Gutachten an die Anwaltskanzlei Freshfield Bruckhaus Deringer diesmal keine Entlastung für Cromme her? Oder reagierte Beitz nicht mehr auf das kolportierte Ansinnen von Cromme, Beitz noch zu dessen Lebzeiten in den Chefsessel der Stiftung zu folgen und Beitz zu deren Ehrenvorsitzenden zu machen?
Wie unschuldig ist Cromme wirklich?
Es ist noch zu früh, diese Fragen zu beantworten. Es scheint, als ob sich nicht nur ThyssenKrupp, sondern das ganze Ruhrgebiet in Schweigen hüllt wegen des Schock-Rücktritts. Für einige ist es auch ein Befreiungsschlag, für ThyssenKrupp-Chef Heinrich Hiesinger zum Beispiel, der nun nicht mehr im Schatten des allmächtigen Cromme agieren muss. Er ist der neue, ganz starke Mann bei ThyssenKrupp – und weit darüber hinaus.
In München greift dieses Schock-Schweigen des Ruhrgebiets nicht um sich. Und in München, dem Sitz von Siemens, wird auch die Antwort zu suchen sein auf die letzte Frage, die im Fall Cromme nun noch offen ist. Die Frage, ob sich Cromme nun nach seinem Rücktritt von allen Ämtern bei ThyssenKrupp noch als Aufsichtsratschef von Siemens halten kann. In München nämlich haben noch einige Manager eine Rechnung mit Gerhard Cromme offen. Mit Cromme, der als Aufsichtsratschef gnadenlos jeden verfolgte, der nur in den Verdacht geriet, in Mauscheleien verwickelt zu sein. Der Konzern war in einen milliardenschweren Korruptionsskandal verwickelt gewesen, Cromme galt als harter Aufräumer.
Aber dass auch er in der fraglichen Korruptionszeit dem Prüfungsausschuss im Aufsichtsrat vorsaß, wurde fleißig unter den Teppich gekehrt. Ein Gutachten, wie so oft im Berufsleben des Gerhard Cromme, ergab seine Unschuld. Kann er nun nach seinem Rücktritt in Essen noch Aufsichtsratschef von Siemens bleiben? Hat er dort noch die Autorität, den Mann mit der weißen Weste zu geben?, fragt ein Siemens-Manager despektierlich.
Fehlte ein Entlastungsgutachten jetzt zum Schluss bei ThyssenKrupp? Was macht Berthold Beitz nun allein auf dem Thron auf dem Hügel in Essen, dem inzwischen zum Museum mutierten früheren Wohnhaus der untergegangenen Industriellenfamilie Krupp? Wie will Beitz nun als alleiniger Großaktionär von ThyssenKrupp agieren, so ganz ohne designierten Nachfolger?
Ein König ohne Kronprinz, das ist wie ein Cromme ohne Gutachten, welches ihn im letzten Moment noch entlastet. Es wird viele Bewerber geben, die nun auf dem Hügel auf der Matte stehen: In München wird schon der scheidende Linde-Chef Wolfgang Reitzle genannt.
Mit Cromme tritt ein ganz Großer von der Bühne ab. Ein Industriekapitän der alten Schule, der die erste feindliche Übernahme wagte, die es in Deutschland gab. Der die Wut Tausender von Stahlarbeitern auf sich zog, als er deren Arbeitsplätze wegrationalisierte, die nach den Fusionen nicht mehr nötig waren. Und der bei Siemens wie ein Großinquisitor auftrat, dessen heiliger Zorn, das vermeintlich korrupte Management hinwegzufegen drohte.