„Wir sind für zwei Jahre durchfinanziert“, beruhigt ein ThyssenKrupp-Top-Manager. Insofern gebe es „keinen Grund zur Sorge“: Fremdmitteln von 5,8 Milliarden Euro steht ein Eigenkapital von 9,1 Milliarden Euro gegenüber, die Eigenkapitalquote liegt noch bei 20 Prozent. Doch die vermeintlich gesunde Relation steht nur auf dem Papier. Denn zu dem Eigenkapital von 9,1 Milliarden Euro zählen die neuen, aber unwirtschaftlichen Stahlwerke in Brasilien und den USA. Die beiden Verlustbringer, von denen sich ThyssenKrupp trennen will, stehen mit sieben Milliarden Euro in der Bilanz.
Dieser Wert, so die Erkenntnis des Führungstrios Hiesinger, Cromme und Beitz, dürfte viel zu hoch angesetzt sein. „Es könnte beim Verkauf auf deutlich unter drei bis vier Milliarden Euro hinauslaufen“, sagt ein Aufsichtsrat, „vielleicht sogar auf nur ein bis zwei Milliarden Euro.“ Das bedeute einen „immensen Abschreibungsbedarf von vier, fünf oder im schlimmsten Fall sechs Milliarden Euro“, heißt es aus Aufsichtsratskreisen. Die Folgen könnten ThyssenKrupp strangulieren. „Wenn das eintritt, könnten die Banken neue Sicherheiten verlangen“, warnt ein mit dem Konzern vertrauter Anwalt.
ThyssenKrupp: Umsätze und Auftragseingänge nach Sparten
Umsatz* (in Mrd. Euro): 14,7
Auftragseingang**: -10%
* Geschäftsjahr 2010/11; ** 3. Quartal 2011/12zum Vorjahr; Quelle: ThyssenKrupp
Umsatz* (in Mrd. Euro): 7,0
Auftragseingang**: + 5%
Umsatz* (in Mrd. Euro): 1,5
Auftragseingang**: + 461%
Umsatz* (in Mrd. Euro): 4,0
Auftragseingang**: - 12%
Umsatz* (in Mrd. Euro): 5,2
Auftragseingang**: - 15%
Umsatz* (in Mrd. Euro): 1,4
Auftragseingang**: + 90%
Umsatz* (in Mrd. Euro): 6,1
Auftragseingang**: - 15%
Das schwierige Geschäft und die neuen Eigenkapitallücken dämpfen die Aussichten der Aktie. Dennoch ist der Konzern, gemessen am hohen Geschäftsvolumen, inzwischen günstig bewertet. Für mutige Käufer ist die Aktie eine Turn-around-Spekulation (siehe Grafik in der linken Spalte).
Damit begänne ein Countdown mit absehbarem Ende. Bisher sind Beitz und Ziehsohn Cromme, der im Februar 70 wird und als Nachfolgekandidat im Stiftungsvorsitz gilt, meist erst zur Hochform aufgelaufen, wenn sie mit dem Rücken zur Wand stehen. Doch nun droht die Wand einzustürzen. Nicht nur die Finanzkraft von ThyssenKrupp schmilzt wie Erz im Hochofen. Auch der traditionelle Kern des Konglomerats ist mittlerweile faul. Die Aufträge gehen zurück (siehe Grafik ).
Im deutschen Stahl-Stammgeschäft in Duisburg und beim als Hoffnungsträger deklarierten Anlagenbau (Errichtung von Zementwerken und Chemieanlagen) sind es zweistellige Prozentzahlen. Anlagenbau, Aufzüge und der Marineschiffbau gelten als künftiges Kerngeschäft von ThyssenKrupp. Vor allem das Stahlgeschäft – die Urzellen der 1999 fusionierten Ruhrkonzerne Thyssen und Krupp – droht das Unternehmen in den Abgrund zu reißen: Im um gut 20 Prozent schrumpfenden amerikanischen Stahlmarkt verliert ThyssenKrupp mit seinen Werken pro Quartal 150 bis 300 Millionen Euro.
Analysten erwarten eine weitere Abschwächung des Marktes. Zugleich drohen Schandtaten an den Konzernfinanzen zu nagen. Wegen Kartellabsprachen im Geschäft mit Bahnschienen zwischen ThyssenKrupp und dem österreichischen Stahlhersteller Voestalpine will die Deutsche Bahn die Essener auf Schadensersatz verklagen. Zwar hat die Bahn signalisiert, sich auch außergerichtlich einigen zu wollen.
Zur Debatte stehen 500 Millionen Euro. Kommt es zu einem Vergleich, dürfte an ThyssenKrupp mindestens die Hälfte hängen bleiben. Weitere Geschädigte – das städtische Düsseldorfer Nahverkehrsunternehmen Rheinbahn sowie Ruhrgebietskommunen – schätzen ihren Schadensersatzbedarf vorerst auf 71 Millionen Euro. Abschließende Rechnungen werden 2013 präsentiert.