Was Unternehmen zum Brexit sagen "Erwarten deutlichen Rückgang des Geschäfts"

Die Enttäuschung über den Brexit in der Wirtschaft ist riesig. In Großbritannien arbeiten Hunderttausende in Niederlassungen deutscher Konzerne, die Geschäfte werden leiden. Konzernchefs und Banken verlangen von der EU rasche Klarheit.

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Rolls-Royce-Fertigung im südenglischen Goodwood Quelle: REUTERS

Katerstimmung in den Chefetagen nach dem Brexit: Die deutsche Wirtschaft ist fassungslos über das Votum der Briten, die für einen Austritt aus der Europäischen Union gestimmt haben. Die Industrie fürchtet harte und unmittelbare Folgen für den Handel mit der Insel. Dort arbeiten fast 400.000 Beschäftigte in Niederlassungen deutscher Firmen. „Der Brexit ist für die deutsche Wirtschaft ein Schlag ins Kontor“, sagte der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Eric Schweitzer, am Freitagmorgen.

Auch die Exportwirtschaft sprach von einer Katastrophe für Großbritannien, Europa und Deutschland. „Es ist bestürzend, dass die älteste Demokratie der Welt uns den Rücken kehrt“, meinte der Chef des Außenhandelsverbandes BGA, Anton Börner. „Die Briten werden die Ersten sein, die unter den wirtschaftlichen Folgen leiden werden.“

Nach Einschätzung der Industrie wird der Brexit sich direkt negativ auf die Wirtschaftsbeziehungen mit dem Vereinigten Königreich auswirken. „Wir erwarten in den kommenden Monaten einen deutlichen Rückgang des Geschäfts mit den Briten. Neue deutsche Direktinvestitionen auf der Insel sind kaum zu erwarten“, sagte der Hauptgeschäftsführer des Industrieverbandes BDI, Markus Kerber. Die Beschäftigten in deutschen Niederlassungen stünden vor unsicheren Zeiten. Besonders betroffen vom Brexit seien die Branchen Auto, Energie, Telekom, Elektronik, Metall, Einzelhandel und Finanzen.

Der Brexit ist ein dramatischer Weckruf für alle Europäer – so sieht es zumindest Charles-Edouard Bouée, Chef der Strategieberatung Roland Berger. „Der EU ist es offensichtlich nicht gelungen, eine Mehrheit von Einwohnern in Großbritannien und andernorts von sich zu überzeugen: Sie nehmen die EU offenbar eher als Hindernis wahr als eine Gemeinschaft, die ihre Entwicklung unterstützt“, so der gebürtige Franzose. „Es ist unsere Aufgabe und eine große Herausforderung, die EU wieder zu einem inspirierenden und zukunftsorientierten Projekt zu machen, das auf Unternehmergeist, Innovation und Fortschritt gründet.“ Auf Frankreich und Deutschland käme noch größere Verantwortung zu: „Sie müssen ihre Partnerschaft stärken und gleichzeitig eine Lösung für das künftige Verhältnis mit Großbritannien finden. In beiden Ländern werden 2017 neue Regierungen gewählt: Das kann eine Chance für Europa sein – aber nur, wenn es über Lippenbekenntnisse hinausgeht, sich in Taten ausdrückt und die Menschen auf eine positive Reise mitnimmt.“

Autoindustrie gibt sich gelassen

Jedes fünfte in Deutschland produzierte Auto geht nach Angaben des Branchenverbandes VDA ins Vereinigte Königreich. Autos deutscher Konzernmarken haben danach auf der Insel einen Marktanteil von gut 50 Prozent. Im vergangenen Jahr wurden 810.000 Autos, die in Deutschland vom Band liefen, nach Großbritannien ausgeführt.

BMW reagiert betont zurückhaltend auf die Entscheidung der britischen Wähler. „Die Konsequenzen dieser Entscheidung sind heute noch nicht absehbar. Klar ist, dass nun eine Phase der Unsicherheit beginnt“, teilte der Münchener Autokonzern am Freitag mit. „Wir erwarten jedoch zunächst keine unmittelbaren Auswirkungen auf unsere Aktivitäten in Großbritannien.“ BMW baut in England jährlich mehr als 200.000 Minis und Rolls-Royce-Limousinen und beschäftigt dort 24.000 Mitarbeiter. Nach dem Brexit-Votum erklärte BMW, die Bedingungen für den Personen- und Warenverkehr müssten nun neu verhandelt werden. „Bevor die neuen Rahmenbedingungen nicht im Detail definiert sind, können wir uns zu konkreten Auswirkungen auf unsere Aktivitäten in Großbritannien nicht äußern.“

Welche Branchen besonders betroffen sind
AutoindustrieDie Queen fährt Land Rover – unter anderem. Autos von Bentley und Rolls-Royce stehen auch in der königlichen Garage. Die britischen Autobauer werden es künftig wohl etwas schwerer haben, ihre Autos nach Europa und den Rest der Welt zu exportieren – je nach dem, was die Verhandlungen über eine künftige Zusammenarbeit ergeben. Auch deutsche Autobauer sind betroffen: Jedes fünfte in Deutschland produzierte Auto geht nach Angaben des Branchenverbandes VDA ins Vereinigte Königreich. Autos deutscher Konzernmarken haben danach auf der Insel einen Marktanteil von gut 50 Prozent. BMW verkaufte in Großbritannien im vergangenen Jahr 236.000 Autos – das waren mehr als 10 Prozent des weltweiten Absatzes. Bei Audi waren es 9, bei Mercedes 8, beim VW-Konzern insgesamt 6 Prozent. Für Stefan Bratzel wird der Brexit merkliche negative Auswirkungen auf die Automobilindustrie haben, die im Einzelnen noch gar nicht abschließend bewertet werden können. „Der Brexit wird so insgesamt zu einem schleichenden Exit der Automobilindustrie von der Insel führen“, sagt der Auto-Professor. „Wirkliche Gewinner gibt es keine.“ Quelle: REUTERS
FinanzbrancheBanken brauchen für Dienstleistungen innerhalb der EU rechtlich selbstständige Tochterbanken mit Sitz in einem EU-Staat. Derzeit können sie grenzüberschreitend frei agieren. Durch den Brexit werden Handelsbarrieren befürchtet. Quelle: REUTERS
FinTechsDie Nähe zum Finanzplatz London und die branchenfreundliche Gesetzgebung machten Großbritannien in den vergangenen Jahren zu einem bevorzugten Standort für Anbieter internetbasierender Bezahl- und Transaktionsdienste, im Branchenjargon „FinTech“ genannt. Das dürfte sich nun ändern. Der Brexit-Entscheid werde bei den rund 500 im Königreich ansässigen FinTechs „unvermeidlich“ zu einer Abwanderung von der Insel führen, erwartet Simon Black. Grund dafür sei, so der Chef des Zahlungsdienstleisters PPRO, da ihr „Status als von der EU und EWR anerkannte Finanzinstitutionen nun gefährdet ist“. Simon erwartet von sofort an eine Verlagerung des Geschäfts und die Schaffung neuer Arbeitsplätze außerhalb von Großbritannien. „FinTech-Gewinner des Brexits werden meines Erachtens Amsterdam, Dublin und Luxemburg sein.“ Als Folge entgingen Großbritannien, kalkuliert Black, „in den nächsten zehn Jahren rund 5 Milliarden Britische Pfund an Steuereinnahmen verloren“. Quelle: Reuters
WissenschaftAuch in der Forschungswelt herrscht beidseits des Kanals große Sorge über die Möglichkeiten zukünftiger Zusammenarbeit. Die EU verliere mit Großbritannien einen wertvollen Partner, ausgerechnet in einer Zeit, in der grenzüberschreitende wissenschaftliche Zusammenarbeit mehr denn je gebraucht werde, beklagt etwa Rolf Heuer, Präsident der Deutschen Physikalischen Gesellschaft. „Wissenschaft muss helfen, Grenzen zu überwinden.“ Venki Ramakrishnan, der Präsident der Royal Society, fordert, den freien Austausch von Ideen und Menschen auch nach einem Austritt unbedingt weiter zu ermöglichen. Andernfalls drohe der Wissenschaftswelt „ernsthafter Schaden“. Wie das aussehen kann, zeigt der Blick in die Schweiz, die zuletzt, nach einer Volksentscheidung zur drastischen Begrenzung von Zuwanderung, den Zugang zu den wichtigsten EU-Forschungsförderprogramme verloren hat. Quelle: dpa
DigitalwirtschaftDie Abkehr der Briten von der EU dürfte auch die Chancen der europäischen Internetunternehmen im weltweiten Wettbewerb verschlechtern. „Durch das Ausscheiden des wichtigen Mitgliedslands Großbritannien aus der EU werde der Versuch der EU-Kommission deutlich erschwert, einen großen einheitlichen digitalen Binnenmarkt zu schaffen, um den Unternehmen einen Wettbewerb auf Augenhöhe mit Ländern wie den USA oder China zu ermöglichen“, kommentiert Bernhard Rohleder, Hauptgeschäftsführer beim IT-Verband Bitkom, den Volksentscheid. Daneben werde auch der Handel zwischen den einzelnen Ländern direkt betroffen: 2015 exportierte Deutschland ITK-Geräte und Unterhaltungselektronik im Wert von 2,9 Milliarden Euro nach Großbritannien geliefert; acht Prozent der gesamten ITK-Ausfuhren aus Deutschland. „Damit ist das Land knapp hinter Frankreich das zweitwichtigste Ausfuhrland für die deutschen Unternehmen.“ Quelle: REUTERS
ChemieindustrieDie Unternehmen befürchten einen Rückgang grenzüberschreitender Investitionen und weniger Handel. Im vergangenen Jahr exportierte die Branche nach Angaben ihres Verbandes VCI Produkte im Wert von 12,9 Milliarden Euro nach Großbritannien, vor allem Spezialchemikalien und Pharmazeutika. Das entspricht 7,3 Prozent ihrer Exporte. Von der Insel bezogen die deutschen Firmen Waren für 5,6 Milliarden Euro, vor allem pharmazeutische Vorprodukte und Petrochemikalien. Quelle: REUTERS
ElektroindustrieNach einer Umfrage des Ifo-Instituts sehen sich besonders viele Firmen betroffen (52 Prozent). Das Vereinigte Königreich ist der viertwichtigste Abnehmer für Elektroprodukte „Made in Germany“ weltweit und der drittgrößte Investitionsstandort für die Unternehmen im Ausland. Dem Branchenverband ZVEI zufolge lieferten deutsche Hersteller im vergangenen Jahr Elektroprodukte im Wert von 9,9 Milliarden Euro nach Großbritannien. Dies entspreche einem Anteil von 5,7 Prozent an den deutschen Elektroausfuhren. Quelle: dpa

Über Auswirkungen auf die Produktionsstandorte – Oxford, Hams Hall, Swindon und Goodwood – werde der Konzern nicht spekulieren. BMW hat dort rund 2,2 Milliarden Euro investiert. Zudem ist Großbritannien ist für BMW nach China und den USA der drittgrößte Auslandsmarkt. Der Konzern verkauft dort bislang mehr als zehn Prozent seiner Autos – im vergangenen Jahr waren das 236.000 Fahrzeuge.

Auch der weltgrößte Autozulieferer Bosch will seine Investitionen nicht kürzen. „Wir bedauern die Entscheidung für einen Ausstieg Großbritanniens aus dem größten Binnenmarkt der Welt sehr – nicht nur aus wirtschaftlicher Sicht“, sagt Bosch-Geschäftsführer Volkmar Denner. „Die langfristigen Folgen für die Wirtschaft werden erst nach und nach erkennbar.“ Es sei noch zu früh, konkrete Aussagen zu den Auswirkungen zu treffen. Vorsorgemaßnahmen hat Denner aber trotzdem getroffen: „Beispielsweise haben wir unsere Sicherungsquoten deutlich erhöht, um der Abwertung des britischen Pfundes entgegen zu wirken.“

Großbritannien und die EU - eine schwierige Beziehung

Bosch-Konkurrent Continental gibt sich gelassen. „Die direkten wirtschaftlichen Auswirkungen auf Continental sind voraussichtlich nur begrenzt“, sagte Unternehmenschef Elmar Degenhart. Conti mache derzeit weniger als drei Prozent des Umsatzes in Großbritannien. Als Produktionsstandort hat Großbritannien mit 1400 Mitarbeitern keine große Bedeutung.

Mit Blick auf den Zusammenhalt in Europa sei das Ergebnis aber sehr beunruhigend. „"Jeder für sich" entspricht nicht der Gründungsidee der EU und kann nicht die Antwort auf die Herausforderungen im weltweiten Wettbewerb mit Amerika und Asien sein“, sagte Degenhart.

„Nach einem EU-Austritt sollte niemand Interesse daran haben, mit Zollschranken zwischen Großbritannien und dem Festland den internationalen Warenverkehr zu verteuern“, sagte VDA-Präsident Matthias Wissmann. Dabei ist der britische Automobilmarkt in hohem Maße auf Importe angewiesen: 86 Prozent der Pkw-Neuzulassungen sind Autos, die nicht in Großbritannien produziert, sondern importiert wurden. Ein Großteil davon kommt aus EU-Ländern.

Gleichzeitig ist UK aber auch exportstark: Von den knapp 1,6 Millionen Autos, die 2015 in Großbritannien gefertigt wurden, gingen gut drei Viertel in den Export. Die anderen EU-Länder sind dabei Hauptabnehmer, gut jedes zweite exportierte Auto (57 Prozent) fand dort seinen Käufer.

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