Der 1. November wird für Olesja Scheibell ein Feiertag – nicht nur, weil an Allerheiligen in Baden-Württemberg die Arbeit ruht, sondern auch weil die 33-jährige Zeitarbeitskraft von diesem Tag an deutlich mehr verdient. Ihr offizieller Tarifstundenlohn als Leiharbeiterin von dann regulär 8,19 Euro wird schlagartig auf 9,42 Euro emporschnellen – ein Plus von 15 Prozent.
Den Sprung verdankt die gebürtige Kasachin, die in den Diensten des Augsburger Arbeitskräfteverleihers Orizon steht, einer Zeitenwende in der Zeitarbeit hierzulande. Denn am 1. November treten Tarifverträge in Kraft, die den Verdienst der Fremdkräfte an die Löhne der Mitarbeiter im Einsatzbetrieb immer weiter annähern. Scheibell setzt am 1. November seit mehr als sechs Wochen Alu-Fensterläden bei Europas führendem Hersteller Ehret im badischen Mahlberg zusammen. Deshalb erreicht die verheiratete Mutter zweier Kinder nun die erste Stufe, von der an Leiharbeiter Zuschläge bekommen, wenn sie längere Zeit im selben Einsatzbetrieb werkeln.
Personalabteilungen kalkulieren neu
Was schön für Scheibell ist, zwingt viele Unternehmen, die Fremdkräfte einsetzen, in den kommenden Monaten zum Umdenken. Wenn Leiharbeit teurer wird, kalkulieren die Personalabteilungen neu: Wie viele Helfer von außen, die kurzfristig und kostenlos wieder weggeschickt werden können, will sich die Firma künftig leisten? Inwieweit gelingt es, die Arbeitszeit der eigenen Belegschaft weiter zu flexibilisieren? Bedeuten Werkverträge mit Firmen, die ihr Personal schlechter bezahlen, Krach mit dem Betriebsrat? Oder lassen sich die Mehrkosten vermeiden – etwa, indem man Zeitarbeitskräfte vor Erreichen der Zuschlagsstufen auswechselt?
Die einschneidende Veränderung resultiert aus Tarifverträgen, die die Zeitarbeitsverbände mit der IG Metall und der Chemie-Gewerkschaft IGBCE in diesem Jahr ausgehandelt haben. Der erste Lohnzuschlag – wie bei Olesja Scheibell – wird fällig, wenn die Einsatzdauer in ein und demselben Betrieb sechs Wochen überschreitet. Weitere Erhöhungen gibt es nach drei, fünf, sieben und neun Monaten Einsatzdauer. Maximal steigt der tarifliche Leiharbeiterlohn in der untersten Entgeltstufe auf 12,29 Euro und in der höchsten Entgeltstufe auf 27,30 Euro. Ähnliche Regelungen greifen bald in drei weiteren Branchen: ab Januar 2013 in der Kunststoffindustrie und der Kautschukbranche, ab April im Bahn-Bereich. Verhandlungen mit der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi laufen noch.
Wirkung ist nur in Ansätzen zu erkennen
Die Gewerkschaften feiern die Tarifverträge als "ersten Schritt in Richtung Equal Pay", zu Deutsch: Gleichbezahlung von Leiharbeitern und Stammpersonal. Die Arbeitgeber haben sich darauf eingelassen, um eine gesetzliche Einführung der Gleichbezahlung durch die Bundesregierung zu verhindern. "Wegen des politischen Ultimatums", sagt Luitwin Mallmann, Hauptgeschäftsführer des Verbandes der Metall- und Elektro-Industrie NRW, war "es notwendig und richtig, dass diese Tarifverträge geschlossen wurden".
Was die Zuschläge in der Praxis bewirken, lässt sich bisher nur in Ansätzen erkennen. Der Fensterladenhersteller Ehret etwa hat zurzeit rund 80 Leiharbeiter wie Scheibell im Einsatz, davon 20 von Orizon – bei 300 eigenen Leuten. Die Mehrzahl von ihnen wird übertariflich bezahlt – sie werden dadurch gar keine Zulagen bekommen. Die Zeitarbeit deshalb einzuschränken schließt Ehret-Personal-Chefin Simone Rabe aus: "Bei Auftragsspitzen brauchen wir innerhalb weniger Tage Personal."
Löhne bleiben gedeckelt
Zudem kann Ehret die Lohnzuschläge begrenzen. Theoretisch könnte Scheibells Bruttostundenlohn nach neun Monaten auf über zwölf Euro klettern. Doch wenn der Entleiher gegenüber dem Zeitarbeitsdienstleister erklärt, wie viel Stammkräfte mit vergleichbaren Tätigkeiten verdienen, wird der Zeitarbeitszuschlag gedeckelt. Die Formel für den Höchstzuschlag eines Leiharbeiters heißt: Lohn der vergleichbaren Stammarbeitskraft abzüglich zehn Prozent.
Hier zeichnen sich Konflikte zwischen Einsatzbetrieben und Verleihern ab. "Manche Kunden wollen die Vergleichslöhne nicht offenlegen", sagt Orizon-Chef Dieter Traub. Etwa, weil sie Probleme mit dem Datenschutz fürchten oder so viel Transparenz gegenüber den Zeitarbeitsunternehmen nicht wollen. Werden aber Vergleichslöhne willkürlich festgesetzt, um Lohnzuschläge zu vermeiden, gibt es Ärger mit den Gewerkschaften und ein neues Betätigungsfeld für Anwälte und Arbeitsgerichte.
Für einige Zeitarbeitskräfte wären die Zuschläge eine Verschlechterung
Andere Unternehmen haben größere Probleme mit dem Lohnschub. Die Meyer-Werft im niedersächsischen Papenburg befürchtet jährlich fünf bis sechs Millionen Euro Mehrkosten bei den 300 weitgehend langfristig eingesetzten Zeitarbeitern. Die Verträge für sechs Kreuzfahrtschiffe nachzuverhandeln geht nicht. Hans-Artur Wilker, Mitglied der Geschäftsleitung bei der Meyer-Neptun-Gruppe, denkt deshalb über mehr Flexibilität nach: die Wochenarbeitszeit könnte künftig zwischen 30 und 48 Stunden schwanken, der Urlaub mit dem Arbeitsvolumen synchronisiert und Mitarbeiter an verschiedenen Arbeitsplätzen eingesetzt werden.
Für Konzerne ist die Lage anders. Die 5500 Siemens-Zeitarbeitskräfte werden so gut bezahlt, dass für einige die Lohnzuschläge sogar eine Verschlechterung darstellen würde. BMW entlohnt seine rund 12 000 Zeitarbeiter vom ersten Tag an nach Metall-Tarif. Gleichwohl geht der Autohersteller unter dem Druck der IG Metall neue Wege und stellt rund 3000 der Fremdkräfte ein. Zum Ausgleich werden Arbeitszeitkonten eingerichtet, auf denen BMW-Mitarbeiter bis zu 300 Arbeitsstunden ansammeln können. Werksurlaube, Vier-Tage-Wochen, Kurzarbeit oder unbezahlte Freizeit sollen Nachfrageeinbrüche auffangen. Nur wenn es nicht anders geht, wird die Zahl der Leiharbeiter erhöht.
Manpower rechnet mit 20 Prozent Umsatzrückgang
Die Skepsis der Arbeitskräfteverleiher wächst. Vera Calasan, Deutschland-Chefin von Manpower, der viertgrößten Zeitarbeitsfirma in Deutschland, schätzt, dass 150 000 der zurzeit rund 850 000 Zeitarbeitsjobs auf der Kippe stehen: "Das halte ich für realistisch." Einzelne Aufträge würden nicht verlängert – konjunkturbedingt oder wegen der Zuschläge: "In einem Worst-case-Szenario gehen wir von einem Umsatzrückgang von 20 Prozent aus." Gleichzeitig steigen die administrativen Kosten. Die Lohnabrechnungen seien wegen der variantenreichen Zuschlags-Tarifverträge nun "der blanke Horror", sagt Manpower-Chefin Calasan.
Abwanderung befürchtet
Calasans Kollege Marcus Schulz, Geschäftsführer des sechstgrößten Personaldienstleisters USG People Germany, widerspricht: "Wir sehen nicht das Schreckgespenst. Equal Pay rückt den Wert der Flexibilisierung in den Vordergrund. Selbst Kunden, von denen wir vermuteten, dass sie sich aufgrund der höheren Personalkosten zurückziehen, tun das nicht."
Auch NRW-Metallunternehmer-Funktionär Mallmann trägt die neue Entlohnung der Leiharbeiter grundsätzlich mit: "Wer als Zeitarbeitskraft längerfristig in einem Betrieb eingesetzt ist, dessen Fähigkeiten nähern sich denen der Stammkräfte immer mehr an." Die Zeitarbeit werde "nicht so stark verteuert, wie manche befürchten". Die meisten Zeitarbeiter blieben nicht länger als drei Monate im Unternehmen, die Hälfte der 22 000 deutschen Metallunternehmen setze gar keine Leiharbeiter ein. Trotzdem prognostiziert Mallmann: "Manche Tätigkeit wird in Niedriglohnländer wie Rumänien auswandern."
Zeitarbeiter ersetzen nicht die Stammbelegschaft
Eine Möglichkeit, den neuen Branchenzuschlägen zu entfliehen, liegt im verstärkten Outsourcing etwa durch Werkverträge, bei denen die Auftraggeber mit der Bezahlung der eingesetzten Arbeitskräfte nichts zu tun haben. Das Thema birgt Zündstoff. Die IG Metall sieht in Werkverträgen ein "neues Lohndumpingmodell" und will "hier einen Zugewinn an Rechten" erreichen – "wie bei der Leiharbeitskampagne".
Der Zeitarbeits-Branchenverband IGZ legt die 2600 Mitgliedsfirmen deshalb darauf fest, sich bei Werkverträgen an die Zeitarbeitstarife zu halten. Und USG-People-Chef Schulz hofft, dass die Branche nun für Fachkräfte attraktiver wird und dass sie seltener am Pranger steht: "Der Vorwurf, Zeitarbeiter ersetzten Stammbelegschaften, ist jetzt endlich vom Tisch."
Davor, "dass erneut Schlupflöcher und die Grenzen der Legalität gesucht werden", wenn Kunden die Lohnzuschläge unterlaufen wollen, warnt auch Martin Delwel vom Personaldienstleister Olympia in Düsseldorf, der 2500 Zeitarbeiter in Deutschland beschäftigt: "Wir müssen konsequent arbeitsrechtliche Grauzonen meiden."