Rein ins Taxi. Handy in die Hand. Kurze Ansage an den Fahrer. Und Tempo bitte, in 45 Minuten muss Oliver Samwer im Flieger nach London sitzen. Während der Wagen zum Flughafen Berlin Tegel startet, tippt Samwer auf seinem Smartphone rum, nestelt nebenbei den Gurt ins Schloss und macht dazu eine Miene, als wolle er das Wetter draußen beschreiben: Nieselregen.
Dabei war alles ganz anders geplant. Samwer hatte zu einem Hintergrundgespräch in die Zentrale seiner Online-Holding Rocket Internet nach Berlin-Mitte geladen. Um das Geschäftsmodell der Start-up-Schmiede sollte es gehen. Stattdessen bietet er eine Hetzjagd durch die Hauptstadt.
Man müsse das bitte verstehen, hat Samwers Pressesprecher noch kurz gesagt, bevor er die schwarze Rolltasche seines Chefs in den Kofferraum des Taxis wuchtete. Unvorhergesehene Ereignisse hätten den Zeitplan des Meisters über den Haufen geworfen. Irgendwo knirscht es halt immer bei Rocket Internet, dem Samwer-Reich, das sich heute über den ganzen Globus erstreckt – von Albanien bis nach Ruanda, von Chile bis Myanmar.
Ihr größter Trick
Wo auch immer sich im weltweiten E-Commerce gerade Geld verdienen lässt, sind Oliver Samwer und seine Brüder Marc und Alexander mit Rocket Internet mit von der Partie. Sie waren früh an Netzgiganten wie Facebook, LinkedIn und Groupon beteiligt, haben den Modeversender Zalando zur größten Online-Kleiderkammer Europas gepäppelt und zig andere E-Commerce-Hoffnungen weltweit ausgerollt.
Die drei Samwer-Brüder
Auf rund 400 Seiten schildert Gründerszene-Chefredakteur Joel Kaczmarek in „Die Paten des Internets“ das Leben der drei Brüder Marc, Oliver und Alexander Samwer – von ihrer Kindheit über ihr erstes eigenes Unternehmen bis zum gigantischen Start-up-Schmiede „Rocket Internet“. Das Buch gewährt nicht nur vertiefende Einblicke in das gigantische Firmenimperium der Samwers, es vermittelt auch einen Eindruck in die Denkweise der ehrgeizigen Geschwister und zeigt ihre unterschiedlichen Charaktere auf.
„Die Paten des Internets. Zalando, Jamba, Groupon – wie die Samwer-Brüder das größte Internet-Imperium der Welt aufbauen" von Joel Kaczmarek, Finanzbuch Verlag, 19,99 Euro.
Zu Beginn des Samwer-Aufstiegs sucht auch Marc (* 3. Dezember 1970) häufig die Öffentlichkeit, überließ jedoch später häufig Oliver Samwer das Rampenlicht und konzentrierte sich auf seine Rolle als rechtlicher Berater und Steuerer des Samwer-Imperiums. Der erste Sohn des Kölner Rechtsanwalts Sigmar-Jürgen gilt als charismatischer und vernünftiger Gesprächspartner. Allerdings haftet dem ältesten Bruder auch der Ruf als Manipulator an.
Kaczmarek: "Marc Samwer, ein Menschenfänger mit Juristenverstand"
Studium: Rechtswissenschaften
Der mittlere Bruder (* 9. August 1973) hat schnell die Anführerrolle des Trios übernommen. Oliver organisiert und treibt die Entwicklung des Samwer-Imperiums voran.
Kaczmarek: „ Ein Mann, der sich körperlich bis an die Grenzen der Belastbarkeit tastet und einen gewissen Masochismus zeigt, wenn es darum geht, (über andere) zu triumphieren. Dem es gleichzeitig aber auch an einem moralischen Kompass oder einer für Unternehmer üblichen Wirtschaftsethik fehlt. […] Schnelligkeit und seine Auffassungsgabe heben Oliver Samwer deutlich hervor, doch es gibt eine Eigenschaft, die ihn wirklich von allen anderen absetzt – das ist diese ganz eigene Art, wie er mit Menschen umgeht und sie steuert. […] Ist es in seinem Interesse, verströmt er eine inspirierende, anregende Aura, der selbst Größen der internationalen Finanzwelt mit Leichtigkeit verfallen.“
Abitur-Note: 0,8
Studium: Betriebswirtschaftslehre
Anders als seine Brüder gilt Alexander nicht als nur vom Ehrgeiz Getriebener, sondern als analytischer Denker. Er wird als menschlich, höflich und zurückhaltend beschrieben.
Kaczmarek: „Während die Gründungen, bei denen Oliver oder Marc Samwer federführend tätig waren, oftmals auf kurzfristigen Erfolg angelegt waren, konzentrierte sich Alexander Samwer auf die anspruchsvollen Aufgaben und betreute diese mit strategischer Weitsicht.[…] Hätte es ihn nicht in die Selbstständigkeit als Internetunternehmer verschlagen, könnte er heute genauso als Vorstandsvorsitzender eines DAX-Unternehmens tätig sein.“
Abitur-Note: 0,66
Studium: Volkswirtschaftslehre
Jetzt planen sie ihren größten Coup: Sowohl für Rocket Internet als auch für Zalando loten sie Börsengänge aus. Ihre Anteile dürften dabei mit insgesamt fast drei Milliarden Euro bewertet werden. Ist die Samwer-Saga vom Aufstieg dreier deutscher Internet-Jungs zu Mega-Online-Stars also eine einzige Erfolgsgeschichte?
Die WirtschaftsWoche und das ZDF-Magazin „Frontal21“ haben die Geschäfte der Brüder im Detail durchleuchtet. Das Resultat: Kein zweiter deutscher Unternehmerclan hat in den vergangenen Jahren einen ähnlich steilen Aufstieg geschafft. Doch die Methoden, mit denen sich die drei Brüder ihren Weg nach oben bahnten, scheinen bisweilen weniger Managementweisheiten denn dem Plot des Italo-Westerns „Zwei glorreiche Halunken“ entsprungen zu sein, nur dass die Samwers zu dritt sind.
Niemand ist erfolgreicher, niemand ist umstrittener in der europäischen Internet-Szene. Das Online-Konglomerat Rocket Internet erweist sich beim näheren Hinsehen als intransparentes Unternehmensgeflecht, anfällig für Interessenkonflikte und Einflussnahmen der Großaktionäre – kurz: als gigantische Wette auf die Zukunft.
Die bekanntesten Gründungen und Beteiligungen von Rocket Internet
mGut 100 Unternehmen haben die Samwer-Brüder mit ihrer Start-up-Schmiede "Rocket Internet" in den vergangenen Jahren gegründet oder sich an ihnen beteiligt. Die folgenden Liste ist nur eine kleine Auswahl, die zeigt, wie vielschichtig und umfassend das Portfolio der Brüder ist. Deutlich wird auch, dass die Ideen für die Unternehmen selten die eigenen sind.
Quelle: Joel Kaczmarek: Die Paten des Internets, 2014
Unternehmen: Ads.com.mm
Vorbild: Craigslist
Einstieg: Juli 2012
Unternehmensart: Kleinanzeigen (Anzeigen)
Herkunftsland: Myanmar
Unternehmen: Airizu
Vorbild: Airbnb
Einstieg: Mai 2011
Unternehmensart: Privatzimmervermittlung
Herkunftsland: China
Unternehmen: Airu
Vorbild: Etsy
Einstieg: Juli 2011
Unternehmensart: Marktplatz für Selbstgemachtes
Herkunftsland: Mittel- und Südamerika
Unternehmen: Dealstreet
Vorbild: Swoopo
Einstieg: April 2009
Unternehmensart: Live-Shopping Anbieter
Herkunftsland: Deutschland
Unternehmen: Edarling
Vorbild: Eharmony
Einstieg: November 2008
Unternehmensart: Online-Partnervermittlung
Herkunftsland: Deutschland
Unternehmen: Fashion4Home
Vorbild: MyFab
Einstieg: Juli 2009
Unternehmensart: Onlineshop für Designer-Möbel
Herkunftsland: Deutschland
Unternehmen: HelloFresh
Vorbild: Middagsfrid
Einstieg: November 2011
Unternehmensart: Abo-Commerce zu Rezepten samt Zutaten
Herkunftsland: Afrika, Asien, Europa, Lateinamerika, Mittlerer Osten
Unternehmen: LadenZeile
Vorbild: Like.com
Einstieg: Januar 2009
Unternehmensart: Metasuche für Shoppingangebote
Herkunftsland: Deutschland
Unternehmen: Lazada
Vorbild: Amazon
Einstieg: Februar 2012
Unternehmensart: Online-Versandhaus
Herkunftsland: Südostasien
Unternehmen: MyBrands
Vorbild: Dress-for-Less
Einstieg: Mai 2009
Unternehmensart: Online-Designer-Outlet
Herkunftsland: Deutschland
Unternehmen: Payleven
Vorbild: Square
Einstieg: Januar 2012
Unternehmensart: Anbieter für Mobile Payment
Herkunftsland: Deutschland
Unternehmen: Sexpartnerclub
Vorbild: -
Einstieg: Juni 2007
Unternehmensart: Casual-Dating-Portal
Herkunftsland: Deutschland
Unternehmen: Toptarif
Vorbild: Check24
Einstieg: Juli 2007
Unternehmensart: Online-Preisvergleich
Herkunftsland: Deutschland
Unternehmen: Westwing
Vorbild: One Kings Lane
Einstieg: September 2011
Unternehmensart: Shoppingclub für Wohn-Accessoires
Herkunftsland: Deutschland
Unternehmen: Wimdu
Vorbild: Airbnb
Einstieg: Februar 2011
Unternehmensart: Privatzimmervermittlung
Herkunftsland: Deutschland
Unternehmen: Zalando
Vorbild: Zappos
Einstieg: Juni 2008
Unternehmensart: Onlineshop für Fashion
Herkunftsland: Deutschland
Angesichts der Firmenkonstruktion von Rocket Internet wirkt Zalando – der zweite Börsenkandidat der Samwer-Brüder – fast wie ein Hort der Stabilität und Transparenz. Innerhalb weniger Jahre ist das Unternehmen zu Europas größtem Online-Modehändler avanciert. Einziger Schönheitsfehler: Das Wachstum wurde mit üppigen Fördermitteln alimentiert.
In den vergangenen Jahren wurden dem Unternehmen insgesamt 35 Millionen Euro Fördergeld vom Bund und den Ländern Thüringen, Brandenburg und Berlin bewilligt. Damit zählt der Web-Angreifer zu den Subventionskönigen im deutschen Handel.
Berliner Blackbox
Noch 43 Minuten bis zum Abflug. Das Taxi fädelt sich in den Verkehr auf der Berliner Friedrichstraße ein. Die erste Ampel schaltet auf Rot. Oliver Samwer schaut vom Handydisplay auf, knipst sein Blendax-Lächeln an und ist plötzlich voll da: Die große Samwer-Show beginnt.
"Erfolgsgeschichte made in Germany"
Falls die Aktienmärkte mitspielen, könnte Rocket Internet schon im Herbst an die Börse preschen. Zuvor soll Rocket Internet noch von einer deutschen in eine europäische Aktiengesellschaft umgewandelt werden, heißt es in Finanzkreisen. Anschließend stünde eine Notierung am unregulierten Markt in Frankfurt an.
Oliver Samwer schweigt dazu. Doch im Hintergrund läuft längst die Werbemelodie, die den Gang aufs Parkett intoniert. Als „Erfolgsgeschichte made in Germany“ preist er Rocket Internet. Ein Sammelbecken für „unternehmerisches Talent und Wissen“ sei das Unternehmen, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, Online-Geschäftsmodelle aufzuspüren, zu kopieren und global auszurollen. Ein neuer, ein digitaler Mittelständler, der mit Fleiß, Disziplin und operativem Geschick geführt werde, sei Rocket Internet. Ganz nach Art des schwäbischen Schrauben- und Montagetechnik-Milliardärs Reinhold Würth – nur halt im Netz.
Das hört sich gut an. Doch der Beweis dafür, dass die Unternehmen, die Rocket Internet gründete, auch Geld verdienen wie bei soliden Mittelständlern eigentlich üblich, der fehlt bisher.
Die operativen Verluste von zehn zentralen Rocket-Ablegern, darunter der Möbelhändler Home24 und die russische Zalando-Kopie Lamoda, summierten sich 2013 auf rund 431 Millionen Euro.
Bekannte Investments der Samwers
In weit mehr als 100 Unternehmen haben die Samwers in den vergangenen acht Jahren investiert. Früh stiegen sie etwa bei Größen wie Facebook oder LinkedIn ein und stießen ihre Anteile später mit Gewinn wieder ab. Mal investierten die Brüder direkt, mal über den EFF (European Founders Fund) oder den GFC (Global Founders Capital). Eine kleine Auswahl der bekannten Investments.
Unternehmen: Bigpoint
Entität: European Founders Fund
Einstiegsmonat: 7
Einstiegsjahr: 2006
Unternehmensart: Browsergames-Entwickler
Herkunftsland: Deutschland
Unternehmen: BuyVip
Entität: European Founders Fund
Einstiegsmonat: 7
Einstiegsjahr: 2007
Unternehmensart: Shoppingclub
Herkunftsland: Spanien
Unternehmen: Check24
Entität: European Founders Fund
Einstiegsmonat: 4
Einstiegsjahr: 2008
Unternehmensart: Online-Versicherungsvergleich
Herkunftsland: Deutschland
Unternehmen: DaWanda
Entität: European Founders Fund
Einstiegsmonat: 3
Einstiegsjahr: 2008
Unternehmensart: Marktplatz für Kreatives
Herkunftsland: Deutschland
Unternehmen: Erdbeerlounge
Entität: European Founders Fund
Einstiegsmonat: 10
Einstiegsjahr: 2007
Unternehmensart: Frauenmagazin
Herkunftsland: Deutschland
Unternehmen: Facebook
Entität: Samwers direkt
Einstiegsmonat: 1
Einstiegsjahr: 2008
Unternehmensart: Social Network
Herkunftsland: USA
Unternehmen: LinkedIn
Entität: European Founders Fund
Einstiegsmonat: 1
Einstiegsjahr: 2007
Unternehmensart: Business-Network
Herkunftsland: USA
Unternehmen: Lokalisten
Entität: European Founders Fund
Einstiegsmonat: 9
Einstiegsjahr: 2006
Unternehmensart: Social Network
Herkunftsland: Deutschland
Unternehmen: MeinAuto.de
Entität: European Founders Fund
Einstiegsmonat: 7
Einstiegsjahr: 2007
Unternehmensart: Plattform für Neuwagenkauf
Herkunftsland: Deutschland
Unternehmen: Motor-Talk
Entität: European Founders Fund
Einstiegsmonat: 7
Einstiegsjahr: 2007
Unternehmensart: Auto-Community
Herkunftsland: Deutschland
Unternehmen: Mydays
Entität: European Founders Fund
Einstiegsmonat: 3
Einstiegsjahr: 2007
Unternehmensart: Erlebnisanbieter
Herkunftsland: Deutschland
Unternehmen: MyHammer
Entität: European Founders Fund
Einstiegsmonat: 8
Einstiegsjahr: 2008
Unternehmensart: Marktplatz für Handwerker
Herkunftsland: Deutschland
Unternehmen: MyVideo
Entität: Samwers direkt
Einstiegsmonat: 4
Einstiegsjahr: 2006
Unternehmensart: Videoplattform
Herkunftsland: Deutschland
Unternehmen: Q-Cells
Entität: Samwers direkt
Einstiegsmonat: unbekannt
Einstiegsjahr: unbekannt
Unternehmensart: Solarunternehmen
Herkunftsland: Deutschland
Unternehmen: SolarWorld
Entität: Samwers direkt
Einstiegsmonat: unbekannt
Einstiegsjahr: unbekannt
Unternehmensart: Solarunternehmen
Herkunftsland: Deutschland
Unternehmen: Sport1
Entität: European Founders Fund
Einstiegsmonat: 9
Einstiegsjahr: 2007
Unternehmensart: Sportportal
Herkunftsland: Deutschland
Unternehmen: StudiVZ
Entität: Samwers direkt
Einstiegsmonat: 4
Einstiegsjahr: 2006
Unternehmensart: Social Network
Herkunftsland: Deutschland
Unternehmen: TripIt
Entität: European Founders Fund
Einstiegsmonat: 4
Einstiegsjahr: 2007
Unternehmensart: Online-Reiseplaner
Herkunftsland: USA
Unternehmen: Trivago
Entität: European Founders Fund
Einstiegsmonat: 10
Einstiegsjahr: 2007
Unternehmensart: Hotelsuche
Herkunftsland: Deutschland
Unternehmen: Zynga
Entität: European Founders Fund
Einstiegsmonat: unbekannt
Einstiegsjahr: 2007
Unternehmensart: Social-Games-Entwickler
Herkunftsland: USA
Allerdings sind die Zahlen nur ein kleiner Ausschnitt. Wie es um das komplette Rocket-Intenet-Reich bestellt ist, lässt sich allenfalls erahnen. Insgesamt rund 1500 Einzelgesellschaften umfasst das Gebilde, teilweise untergebracht in Luxemburg und im US-Bundesstaat Delaware, jenen Hotspots der Welt, die vor allem für ihr steuermildes Klima bekannt sind – auch wenn derlei Aspekte nach Unternehmensangaben nie im Vordergrund stünden. „Das Ganze ist eine Blackbox“, sagt Jörg Funder, Professor für Unternehmensführung im Handel an der Hochschule Worms, über Rocket Internet. „Teilweise fehlen sogar die Jahresabschlüsse im Handelsregister.“
Die Lage wird nicht übersichtlicher durch einen Passus in Oliver Samwers Vertrag als Vorstandschef mit Rocket Internet. Dort ist neben der Laufzeit bis 15. Juni 2019 auch eine teilweise Befreiung vom Wettbewerbsverbot fixiert, das Top-Managern üblicherweise untersagt, für andere Unternehmen tätig zu sein. So darf der Rocket-Chef nebenher weiter die Geschäfte des European Founders Fund führen. Das Münchner Unternehmen, das kürzlich in Global Founders umgetauft wurde, gehört den Samwer-Brüdern privat. In dem Vehikel haben sie ihre Rocket-Aktien gebündelt ebenso wie ihre Anteile am Modeversender Zalando. Das Problem: Laut Satzung investiert Global Founders Risikokapital in junge Unternehmen teils in den gleichen Geschäftsfeldern, in denen auch Rocket Internet aktiv ist.
Mögliche Interessenkonflikte mag ein Rocket-Sprecher darin nicht erkennen. Global Founders verfüge über ein eigenes Investmentteam, „Oliver Samwers Fokus liegt zu 99,9 Prozent auf Rocket Internet“, heißt es offiziell.
Doch wie wird sich der Rocket-Internet-Chef entscheiden, wenn er auf das nächste große Ding im Netz stößt? Kopiert er das Geschäftsmodell im Interesse seiner Aktionäre, oder beteiligt er sich über Global Founders zum eigenen und brüderlichen Wohle? Und was machen die Brüder mit Nieten im Privat-Portfolio? Reichen sie die im Zweifel an Rocket Internet durch?
Start-up-Beteiligungen von United Internet
Dass es sich bei solchen Fragen nicht um einen akademischen Diskurs handelt, ist seit ein paar Tagen klar. Mitte August beteiligte sich der Web-Dienstleister United Internet aus Montabaur mit 10,7 Prozent an Rocket Internet und lieferte nebenbei ein finanzakrobatisches Meisterstück ab.
Auf dem Papier musste United Internet die stolze Summe von 435 Millionen Euro für das Aktienpaket berappen. Einen Teil davon – nämlich 102 Millionen Euro – zahlte das Unternehmen aber nicht bar. Stattdessen erhielt Rocket Internet allerlei Start-up-Beteiligungen. Die Anteile stammten aus einer gemeinsam geführten Gesellschaft von United Internet und Global Founders, dem Privatfonds der Samwers.
Erstaunlich: In den eigenen Büchern hatte United Internet diese Anteile nicht mit 102 Millionen Euro bewertet, sondern nur mit 30 Millionen Euro. Das explosionsartige Plus erklärt ein United-Internet-Sprecher mit einer „Neubewertung“ der Beteiligungen. Davon profitierten auch die Samwers. Denn auch sie gaben ihre gemeinsam mit United Internet gehaltenen Anteile an den Start-ups im Tausch gegen zusätzliche Rocket-Internet-Aktien ab – ein klassischer Samwer-Deal.
Etwas getrickst
Noch 35 Minuten bis zum Abflug. Der Taxifahrer steuert schweigend durch den Berliner Feierabendverkehr, vorbei an Häuserschluchten, Imbissbuden und Spielcasinos. Hier, mitten in der Hauptstadt, begann der Fabelaufstieg der drei Dotcom-Brüder.
1999 startete das Trio in einer Bürogemeinschaft in Berlin-Mitte Alando. Das Unternehmen sollte den Markt für Online-Auktionen aufmischen, ein deutsches Ebay werden. Schnell kristallisierte sich die Rollenverteilung innerhalb der Bruderschaft heraus: Oliver Samwer ist Anführer der Formation, Alexander der Stratege und Marc der Diplomat. Gemeinsam ist ihnen der unbändige Siegeswille. Um mehr Angebote auf die Alando-Web-Site zu bekommen, vertickten die Brüder anfangs Teile ihres Jugendzimmerinventars samt Baseballhandschuh und Modelleisenbahn.
Auch bei der Beschaffung der notwendigen Technik und der Finanzierung des Projekts waren sie nicht zimperlich. „Da mussten wir etwas tricksen“, räumte Oliver Samwer später ein. „Den Venture-Capital-Gesellschaften haben wir erzählt, die Technologie sei schon so gut wie installiert. Und die Technologiefirmen haben wir überzeugt, dass die Finanzierung schon so gut wie gesichert ist.“
Die Idee ging auf: Nach wenigen Monaten übernahm Ebay den Laden – und machte die Samwers zu Millionären. Das systematische Kopieren, Ausrollen und schnelle Weiterverkaufen von erprobten Online-Konzepten wurde fortan zu ihrem Geschäftsmodell. Alando gab die Blaupause ab: voller Einsatz, waghalsiges Tempo und mitunter ein paar Tricks.
Wann immer sich ein neuer Trend im Netz abzeichnete, schickten die Samwers nun einen deutschen Nachbau ins Rennen. Mit Rocket Internet konstruierten sie 2007 eine Plattform, um diesen Kopier- und Ausrollprozess vollends zu industrialisieren. Statt Waren laufen bei Rocket Internet-Start-ups vom Band. Unternehmen wie die Partnerbörse eDarling, der Kosmetikversender Glossybox, die Möbelhändler Home24, die Online-Bettenbörse Wimdu und der Kreditvermittler Lendico entstanden – allesamt inspiriert von Wettbewerbern. Die Kopiermasche sorgt denn auch für Empörung. Als „niedrigste Form von Müll“, beschimpfte etwa die US-Web-Koryphäe Jason Calacanis das Vorgehen der Samwers.
Die sind von den Klon-Vorwürfen genervt. Ideen gebe es schließlich wie Sand am Meer, sagt Oliver Samwer. Auf die Umsetzung komme es an. Dabei macht ihm niemand etwas vor.
Leben im Schmutz
Noch 27 Minuten bis zum Abflug. Oliver Samwer, verstrubbeltes Haar, hellblaues Hemd, drahtige Figur, zeichnet auf dem Kunstlederbezug der Rückbank im Taxi mit dem Zeigefinger die Unternehmensstruktur von Rocket Internet.
Als „McKinsey auf Steroiden“ soll er Rocket Internet einmal bezeichnet haben. Rund 330 Mitarbeiter arbeiten in der Schaltzentrale des Firmenbeschleunigers in der Berliner Johannisstraße. Die meisten von ihnen sind jünger als Lady Gaga, das Durchschnittsalter liegt bei unter 28 Jahren. Der 42-jährige Oliver Samwer gilt als oberster Einpeitscher der Truppe. Arbeitstage von 18 Stunden sind für ihn Routine. Als seinen Lieblingsfilm nannte er im „Stern“ einst das Heldenepos „Gladiator“, bei dem abgeschlagene Köpfe durch die Landschaft kegeln und Blut literweise strömt. Auch das Schottenlichtspiel „Braveheart“ gehört zu seinem cineastischen Kanon. Prädikat: Besonders lehrreich. „Schaut euch den Film ruhig an“, riet Oliver Samwer einst Studenten bei einem Vortrag. „Braveheart sah so aus, wie er lebte: im Schmutz.“ Soll wohl heißen: Auf prunkvolle Büros und ähnliches Konzernchichi sollten digitale Leistungsträger im Dienst von Dirty Olli nicht bauen.
Stattdessen gibt’s markige Ansagen vom Chef. Legendär ist etwa seine Motivationsmail an Führungskräfte betreff „When is it time for blitzkrieg“. Darin forderte er von Mitarbeitern Strategiepläne, „die mit eurem Blut unterschrieben“ sind, und gab Parolen aus wie: „Ich werde sterben, um zu gewinnen.“ Später entschuldigte er sich für die Entgleisung. Es sei nur fair, nicht jedes Wort einer nächtlichen E-Mail auf die Goldwaage zu legen.
Auch nonverbal sind die Raketen-Brüder für robuste Auftritte bekannt. Im Umgang mit Geschäftspartnern wie Wettbewerbern verortet ein früherer Rocket-Internet-Manager die Samwers und ihre Statthalter an der „Grenze des Zumutbaren“.
Zitate über Oliver Samwer
„Es sind oft dieselben zwei Gründe, weshalb sich Leute negativ über ihn äußern: Man hat seine eigentlich sehr direkte und klare Art nicht verstanden und fühlt sich unfair behandelt. Viele denken aufgrund seiner gewinnenden Art aber auch, dass sie mit Oliver Samwer eng befreundet sind. [...]Wer das, was Oliver Samwer sagt, für bare Münze nimmt und nicht angepasst in seine eigene Sprache übersetzt, macht aber ohnehin etwas falsch.“
Jambas langjähriger Pressechef Tilo Bonow über die Arbeit mit Oliver Samwer
„Es herrschte eine gute und tolle Stimmung bei Alando und obwohl am Tag 12 bis 13 Stunden gearbeitet wurde und man auch am Wochenende im Büro war, spürte jeder diese Aufbruchstimmung. Wir haben auch viel gelacht. [...] Die Samwers hatten noch keinen großen Namen, Presseaufmerksamkeit gab es kaum, das Internet war noch nicht so gehypt, und es steckten keine 100 Millionen in Alando. Alles war viel entspannter und es herrschte eben echte Goldgräberstimmung.“
Samwer-Wegbegleiter Ole Brandenburg über die Stimmung bei Ebay-Klon Alando
„Oliver Samwer hat Benzin statt Blut in den Adern. Er arbeitet härter als jeder, den ich kenne, und als Manager hat man genau deshalb großen Respekt vor ihm. Er hat ja auch nie Zeit, was einem das Gefühl vermittelt, dass seine Aufmerksamkeit ein sehr wertvolles Gut ist. [...] Der Vergleich ist sicherlich sehr krass, aber ein wenig ist das wie bei einer Frau, die von ihrem Mann geschlagen wird: Es löst Glücksgefühle aus, wenn du keine Schläge abbekommst.“
Eine ehemalige Führungskraft über Oliver Samwer
„Die Atmosphäre bei Jamba war in der Anfangszeit oft wie in einem Bienenstock. Kam man zwei Minuten zu spät, gab es sofort einen Anschiss, egal ob man am Tag zuvor bis spät in den Abend im Büro saß oder das Wochenende durchgearbeitet hatte. Auch Raucherpausen wurden stets moniert, besonders wenn ein Mitarbeiter Verantwortung trug und deshalb ein Vorbild sein sollte.“
Ein ehemaliger Mitarbeiter über die Atmosphäre bei Jamba
„Oliver Samwer hat eine völlige Abneigung gegenüber Smalltalk. Wenn er eine Person für unbedeutend hält oder sich nicht für ihre Belange interessiert, verbringt er auch praktisch keine Zeit mit ihr, sondern lässt sie einfach stehen. Er sagt nicht Hallo, er sagt nicht Auf Wiedersehen, sondern lässt Leute völlig im Regen stehen. Auch bei Telefonaten fängt er einfach an loszureden und legt auf, sobald er gesagt hat, was er sagen wollte. Er praktiziert diese soziale Kälte mit einer derart frappierenden Skrupellosigkeit, dass man sich unmittelbar eingeschüchtert fühlt und in der Regel irritiert zurückbleibt.“
Ein ehemaliger Manager über Oliver Samwers Sozialverhalten
„[Oliver Samwer] ist smart und sehr flink im Kopf, wodurch er nicht gefestigte Standpunkte ganz schnell auseinandernehmen kann. Bullshitten kann man bei ihm deshalb nicht. Er durchschaut jegliche Ahnungslosigkeit und passiert dies mehrfach, verliert man seinen Respekt und kann gehen. Umgekehrt sind die Möglichkeiten aber fast grenzenlos, hat man es erst einmal in seinen engen Zirkel geschafft. [...] Ab einem bestimmten Punkt lässt er einen aber nicht mehr lernen, weil er nicht will, dass man ein Unternehmen alleine vollumfassend realisieren kann. [...]“
Eine ehemalige Mitarbeiterin über Oliver Samwers Führungsstil
„Das Konzept von Zuckerbrot und Peitsche beherrscht Oliver Samwer bis ins Detail, nur dass er dabei sogar das Zuckerbrot weglässt. Die Messlatte liegt so hoch und es gibt so wenig Lob, dass es einen eigentlich demotivieren sollte. Aber während Oliver Samwer öffentlich oft aggressiv und pushy ist, kann er im Einzelgespräch auf einmal so charmant sein, dass viele ihm anschließend ihre Qualität beweisen wollen.“
Ein ehemaliger Groupon-Mitarbeiter über Oliver Samwers Methoden
„Das Krasse an Oliver Samwers Führungsstil ist, dass er andere dazu bewegt, latent sadistische Tendenzen zu entdecken und mit der Zeit immer mehr auszuleben. Menschen, die anfangs noch freundlich und normal mit anderen umgingen, beginnen unter seiner Führung damit, andere zu quälen und zu schikanieren. Sie nehmen Olis aggressiv-unsoziale Art an und lassen sich berauschen von der Macht, die er ihnen über andere vermittelt. Das ist ein wenig wie in Diktaturen, bei denen man sich als neutraler Beobachter hinterher immer fragt, wie es geschehen konnte, dass so viele Menschen dieser offensichtlich destruktiven Propaganda folgten.“
Ein ehemaliges Management-Mitglied über die Führungskräfte der Samwers
Joel Kaczmarek, „Die Paten des Internets“, erschienen im Finanzbuchverlag FBV, ISBN: 978-3-89879-880-8
Harsche Vorwürfe gab es etwa bei Wimdu. Über die Online-Übernachtungsbörse, eine Kopie des amerikanischen Marktführers Airbnb, können private Anbieter Wohnungen an Reisende vermieten. Doch bei der Gründung von Wimdu fehlte es der Plattform an Unterkünften. Bei der Akquise von Vermietern sollen die Wimdu-Kräfte deshalb im Revier von Wettbewerbern wie Airbnb gewildert haben. Per E-Mail informierte Airbnb seine Geschäftspartner über die „Attacken der Klone“, die sogar vorgegaukelt hätten, im Auftrag von Airbnb zu arbeiten, in Wahrheit aber nur Vermieter abwerben wollten. Wimdu ließ eine Anfrage dazu unbeantwortet.
Bei Auslandseinsätzen der Samwers geht es nicht minder stürmisch zur Sache. Wenn sich die deutschen Expeditionskorps auf den Weg machen, um ein Geschäftsmodell in die Welt zu tragen, nutzen die Rocket-Internet-Kräfte Touristen-Visa. Der Antrag für ein reguläres Geschäftsvisum dauert ihnen zu lange. Irgendwann, erzählt Oliver Samwer gern, seien in einem Auslandsbüro mal ein paar Beamte zum Kontrollbesuch aufgeschlagen. An dem Tag hätten die Rocket-Touris dann halt von zu Hause aus gearbeitet. „Man muss einfach super pragmatisch sein“, so Samwer.
Alles und jeder werde dem Erfolg untergeordnet
Was das heißt, bekamen 2012 rund 400 Beschäftigte des Rocket-Standorts in der Türkei zu spüren. Weil die Zahlen nicht stimmten, wurde der Standort kurzerhand geschlossen. In Afrika verschaffte Rocket Internet seinem Online-Händler Jumia einen Vorsprung gegenüber dem wichtigsten Wettbewerber, dem nigerianischen Online-Anbieter Konga. Die Berliner sicherten sich die Konga-Web-Adressen in elf afrikanischen Ländern. „Wir beabsichtigen, unter diesem Namen ein Start-up in verschiedenen afrikanischen Ländern zu starten“, sagt ein Rocket-Sprecher dazu. Konga jedenfalls kann unter eigenem Namen dort nicht mehr antreten.
Unzählige solcher Storys über das Vorgehen der Samwers – irgendwo zwischen clever und skrupellos – kursieren in der Szene. „Alles und jeder“, sagt Joel Kaczmarek, werde „in der Samwer-Maschine gänzlich dem unternehmerischen Erfolg untergeordnet“. Als Chefredakteur und Herausgeber des Branchenmagazins „Gründerszene“ hat er den Aufstieg der Brüder hautnah miterlebt.
In seiner am Donnerstag erschienenen Biografie über „Die Paten des Internets“ beschreibt Kaczmarek, wie es den Brüdern gelang, „einer ganzen Branche ihren Stempel aufzudrücken“. Die Geschichte der Samwers sei „gleichermaßen mit unglaublichen Erfolgen wie aberwitzigen Machenschaften gepflastert“, so Kaczmarek.
Ruf des Goldes
Noch 20 Minuten bis zum Abflug, die Zeit wird knapp, um die Maschine zu erreichen. Das Taxi schiebt sich den Saatwinkler Damm entlang, während Oliver Samwer über den digitalen Wandel doziert. Das ist sein großes Thema.
Schon Mitte Juni, bei ihrem Konsumgüterforum in Paris, hatten sich die Vertreter der europäischen Handelskonzerne im Kongresssaal unter dem Louvre versammelt, um dem Online-Hosianna des deutschen Web-Propheten zu lauschen. „Ich bin nicht hier, um Ihnen eine Freude zu machen“, ließ Oliver Samwer seine Zuhörer wissen, während er auf der Bühne auf und ab tigerte. „Einkaufshäuser sind etwas aus der Zeit um Christi Geburt. Es gibt sie nur, weil es früher kein Internet gab. Aber das bedeutet nicht, dass es ein Recht auf ihre Existenz gibt.“ Zum Abschied rät er den Top-Managern: „Verlassen Sie den Saal sehr paranoid.“
Zitate von Oliver Samwer
„Die alte Investorenregel, wonach acht von zehn Engagements in die Hose gehen dürfen, solange zwei das große Geld bringen, lehnen wir ab. Wir wollen, dass aus allen 20 Eiern, die wir bebrüten, ein Küken schlüpft und sich jedes Küken zu einem prachtvollen Vogel entwickelt. Mag sein, dass am Ende das eine Unternehmen am Ende eine Million Euro wert ist und das andere hundert Millionen. Aber wir geben keines unserer Engagements verloren. Notfalls ändern wir das Geschäftsmodell – und niemals lassen wir einen Entrepreneur fallen.“
Oliver Samwer im August 2007 über die Ambitionen des EFF
„Ich verweise gerne auf das Beispiel der Banken. So ist Citibank eine Großbank, aber das Bankenwesen erfunden haben beispielsweise eher die Medici. [...] Es gibt ganz wenige 'Einstein-Unternehmer' wie den Erfinder der Glühbirne oder des Telefons. Aber zu 99 Prozent entscheidet die Umsetzung der Idee. Am Ende kommt es nicht darauf an, ob ich als Erster eine Idee gehabt habe, sondern darauf, ein Unternehmen aufzubauen, das langfristig existiert und Kunden zufriedenstellt. […] In der Internetindustrie gibt es Einsteins und Typen wie Bob, der Baumeister. Ich bin ein Bob, der Baumeister.“
Oliver Samwer zum Copycat-Vorwurf
„Im Oktober 2009 habe ich beschlossen: Den Herrn Haub rufe ich an und frage ihn mal, ob er nicht ein Unternehmen für seine Kinder aufbauen möchte. Ich habe ihm gesagt: Ich denke, dass E-Commerce auf jeden Fall passieren wird. Und ich glaube nicht, dass Sie es mit Ihrem Unternehmen alleine schaffen werden. Wollen Sie nicht auf ein zweites Pferd setzen? […] [Andere klassische Händler] setzen nur auf ein Pferd, auf ihr eigenes Pferd. Sie denken: Ich bin Händler, ich kenne das Geschäft seit 30 Jahren, vielleicht schon in der dritten Generation. Das mit dem E-Commerce ist doch nichts anderes als ein Laden oder ein Versandhausgeschäft.“
Oliver Samwer über seine Beteiligungsehe mit Tengelmann
In seiner Zeit bei Groupon schrieb Oliver Samwer eine Mail, die als „Blitzkrieg“-Mail bekannt wurde. Das sind einige Zitate aus dem Dokument:
„Wir müssen den Zeitpunkt für unsere Blitzkrieg weise wählen, also sagt mir jedes Land mit seinem Blut, wenn es soweit ist. Ich bin bereit – immer!“
„Ich gebe euch all mein Geld um zu gewinnen, ich gebe auch all mein Vertrauen, aber wehe, ihr kommt zurück und habt eure Erfolge nicht erreicht.“
„Ich bin der aggressivste Mann im Internet auf dem Planeten. Ich werde sterben, um zu gewinnen, und ich erwarte von euch dasselbe!“
„[L]aufen eine Milliarde Inder nackt rum? Oder 240 Millionen Indonesier? Nein, die wollen was kaufen! Die Logik ist doch klar. Wir gehen dorthin, wo es nicht schon 100 Zalandos gibt. […] Am Ende des Tages sind wir Unternehmer, um zu sagen: Was immer dazu notwendig ist. Wenn es nötig ist, dass ich die letzte Meile selbst baue und im Prinzip eine Post entwickle, bin ich auch bereit, die pakistanische Post zu bauen. Warum nicht? Vor sieben Jahren hatten wir keine Ahnung von E-Commerce, vor 15 Jahren hatte ich keine Ahnung vom Internet. […] Wir machen alles, was notwendig ist. Und das kann der Bau von Warenhäusern, der Bau der letzten Meile oder das Mitbringen von Geld ins Land sein.“
Oliver Samwer über die weltweite Internationalisierung
„Wir gehen in ein Land immer mit Touristen-Visa. […] Google geht mit Business-Visa. Aber ein Business-Visum zu erhalten kann drei Monate dauern. Ich erinnere mich noch, als eine Art Polizei unsere Büros besucht hat und wir alle zu Hause gearbeitet haben an diesem Tag. Alles war leer, nur Einheimische waren da. […] Ich denke, man muss einfach ultra pragmatisch sein. Und keine Zeit darauf verwenden, was wäre wenn usw. Die Leute denken allgemein zu viel darüber nach, was das Problem ist, worin die Herausforderung besteht. Wirklich, für eine Internationalisierung ist es in jedem Land dasselbe. Nur bei China würde ich sagen, dass ich fernbleibe.“
Oliver Samwer über den Pragmatismus seiner weltweiten Internationalisierung
„Wenn wir jetzt nur noch alle gestarteten Unternehmen möglichst schnell in die Gewinnzone führen würden, wären wir durchfinanziert. Dann bräuchten wir kein frisches Geld mehr. Aber das wäre völlig falsch. Ein Börsengang ist bei sehr vielen unserer Unternehmen das Ziel. In 40 Jahren soll im Wikipedia-Eintrag über uns zu lesen sein, dass niemand weltweit so viele Internet-Unternehmen so systematisch gebaut hat wie wir.“
Oliver Samwer über die Ambitionen seiner weltweiten Gründungsvorhaben
Joel Kaczmarek, „Die Paten des Internets“, erschienen im Finanzbuchverlag FBV, ISBN: 978-3-89879-880-8
Oliver Samwer spürt besser als viele andere, dass in der Handelsbranche Alarmstimmung herrscht. Weltweit fließen Milliardenbeträge von klassischen Läden in Internet-Shops und Online-Plattformen, ordern Kunden immer mehr Waren per Smartphone und Computer. Das verändert die Hackordnung im Handel von Grund auf. Der Umbruch ist gewaltig – und liefert den Samwers das beste Verkaufsargument. Ihre Botschaft: Wer beim größten Goldrausch aller Zeiten dabei sein will, kann bei Rocket Internet die Eintrittskarte lösen. Heute werden die Claims für das Geschäft von morgen abgesteckt.
In einer Mail an einen potenziellen Geldgeber klingt das dann so: „Mein Name ist Oliver Samwer, meine zwei Brüder und ich sind Serien-Gründer“. Ganz unbescheiden findet sich in der Mail ein Link zur Vermögensübersicht der Brüder beim US-Wirtschaftsmagazin „Forbes“ nebst der Anregung, doch am besten bei einem persönlichen Treffen über die vielversprechenden Geschäftschancen in den aufstrebenden Märkten zu plaudern.
Die Reichen verfallen ihnen
Wer Interesse zeigt, darf sich auf launige Präsentationen freuen – etwa über den Rocket-Ableger Foodpanda. In einem „streng vertraulichen“ Papier von 2013 wird Vermögenden die „Revolution bei Online-Essenbestellungen in Schwellenländern“ schmackhaft gemacht. Das Geschäftsmodell: Restaurants und Lieferdienste stellen ihre Angebote bei Foodpanda ein. Ordert ein Kunde dann seine Pizza oder Pasta über die Seite, streicht Foodpanda eine Provision ein. Ab 2017 will das Unternehmen schwarze Zahlen schreiben. 2018 soll der Gewinn vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen (Ebitda) dann schwindelerregende 30 Millionen Euro und mehr erreichen. Großes Panda-Ehrenwort!
Derlei Avancen scheinen zu verfangen: Superreiche und Investoren rund um den Globus sind in den vergangenen Jahren dem Samwer’schen Lockruf gefolgt und haben teils direkt in Rocket-Ableger, teils in die Holding investiert. Der indische Stahlmagnat Lakshmi Mittal und der russischstämmige US-Milliardär Leonard Blavatnik gehören zu den Finanziers. Aus Deutschland steuerten neben United-Internet-Frontmann Ralph Dommermuth die Beteiligungsunternehmen von Tengelmann-Eigner Karl-Erivan Haub und Verleger Stefan von Holtzbrinck Millionenbeträge zu.
Stillstand ist keine Option
Der wichtigste Geldgeber ist jedoch der börsennotierte schwedische Medienkonzern Kinnevik. Rund 1,2 Milliarden Euro haben die Schweden in die Samwer-Sphäre gepumpt, den Großteil in Zalando. Mit 36,5 Prozent der Anteile sind sie der größte Anteilseigner des Modehändlers, Kinnevik-Verwaltungsratschefin und Großaktionärin Cristina Stenbeck führt den Zalando-Aufsichtsrat. An Rocket Internet selbst hält Kinnevik 18,5 Prozent.
Freie Bahn
Ankunft am Flughafen Tegel, das Taxi hält vor dem Zugang zu Flugsteig fünf. Draußen leuchtet in grellem Orange die Werbung des Autoverleihers Sixt: „Winners have a sixt sense“. Samwer reißt die Tür auf und stürmt raus. Fahrziel erreicht, Gespräch beendet, noch schnell die Tasche aus dem Kofferraum und dann zum British-Airways-Schalter.
Keine Frage, Rocket Internet und die Samwers müssen sich sputen. Egal, ob Marktplätze, Möbel- oder Modeshops – die aussichtsreichsten Massenmärkte im Web sind besetzt. Hier noch neue Marktführer zu kreieren wird immer aufwendiger. Der Kopierfabrik drohen dereinst die Vorlagen auszugehen.
Rocket Internet reagiert mit einer Art Konzern-Upgrade auf diese Gefahr und stampfte zuletzt eine Finanzsparte aus dem Boden. Im August stieg zudem die philippinische Telefongesellschaft Philippine Long Distance Telephone (PLDT) bei den Berlinern ein. Gemeinsam wollen die Partner nun in Schwellenländern Angebote für das Bezahlen per Handy aufziehen. Wenig später folgte der United-Internet-Deal und hievte die Bewertung von Rocket Internet auf insgesamt mehr als vier Milliarden Euro. Würden die Samwers ihr 54-Prozent-Paket verkaufen, könnten sie demnach mindestens 2,2 Milliarden Euro kassieren. Ihre 17-Prozent-Beteiligung an Zalando ist nach Stand der Dinge weitere 660 Millionen Euro wert.
Doch wollen die Samwers Kasse machen? „Die Eigentümer haben keine Pläne, ihre Anteile zu veräußern“, beteuert ein Rocket-Internet-Sprecher.
287 Millionen in die Samwer-Taschen
Ihren Einsatz haben die Alt-Gesellschafter ohnehin gesichert. Seit 2012 kehrte Rocket Internet fast eine Milliarde Euro an Sach- und Bardividenden an die Eigentümer aus. Das lässt sich aus einem Prüfbericht zur Umwandlung des Unternehmens in eine Aktiengesellschaft im Juli ableiten. 2012 und 2013 wurden die Samwers und ihr Investorenzirkel demnach mit insgesamt 551 Millionen Euro bedacht. Für 2014 gönnten sich die Anteilseigner eine sogenannte Vorabausschüttung. Knapp 287 Millionen Euro flossen an die Brüder und katapultierten das Trio auf Platz sechs in die Liste der größten deutschen Dividendenempfänge. Kinnevik und die Beteiligungsgesellschaft Access Industries wurden im Gegenzug mit zusätzlichen Anteilen an Zalando-Doppelgängern rund um den Erdball bedacht. Die Schweden hätten auf mehr direkte Unternehmensanteile gedrungen, heißt es im Rocket-Internet Umfeld.
Nebeneffekt: Die Auszahlungen leerten die Kasse der Rocket-Holding empfindlich. Neue Investoren und demnächst auch private Anleger sollen helfen, nachzufüllen. Dann, so die Hoffnung, wird die große Samwer-Show noch erfolgreicher, noch gewinnbringender weitergehen – fragt sich nur für wen.
Die Dame vom First-Class-Schalter schüttelt freundlich lächelnd den Kopf, als Oliver Samwer ihr seinen Pass hinhält. Leider nichts zu machen, Flug BA 987 ist dicht. Eigentlich hätte Samwer jetzt Zeit. Er könnte durch Flughafen-Boutiquen schlendern und den stationären Handel inspizieren. Die nächste Maschine nach London startet erst in eineinhalb Stunden.
Doch Stillstand ist keine Option für ihn, die Arbeit geht weiter. Er marschiert zu Gate fünf, legt Reisetasche und Handy auf das Band und passiert die Sicherheitsschleuse. Kein Piepen hält ihn auf, keine Security bittet ihn zur Nachkontrolle: freie Bahn für Oliver Samwer.