Die Macher hinter Rocket Internet Das Samwer-Imperium ist nur eine riskante Wette

Vom Börsengang ihrer Start-up-Fabrik erhoffen sich die Samwer-Brüder Milliarden. Doch Rocket Internet erweist sich als intransparentes Unternehmensgeflecht - und als gigantische Wette auf die Zukunft.

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Oliver Samwer Quelle: Armin Brosch für WirtschaftsWoche

Rein ins Taxi. Handy in die Hand. Kurze Ansage an den Fahrer. Und Tempo bitte, in 45 Minuten muss Oliver Samwer im Flieger nach London sitzen. Während der Wagen zum Flughafen Berlin Tegel startet, tippt Samwer auf seinem Smartphone rum, nestelt nebenbei den Gurt ins Schloss und macht dazu eine Miene, als wolle er das Wetter draußen beschreiben: Nieselregen.

Dabei war alles ganz anders geplant. Samwer hatte zu einem Hintergrundgespräch in die Zentrale seiner Online-Holding Rocket Internet nach Berlin-Mitte geladen. Um das Geschäftsmodell der Start-up-Schmiede sollte es gehen. Stattdessen bietet er eine Hetzjagd durch die Hauptstadt.

Man müsse das bitte verstehen, hat Samwers Pressesprecher noch kurz gesagt, bevor er die schwarze Rolltasche seines Chefs in den Kofferraum des Taxis wuchtete. Unvorhergesehene Ereignisse hätten den Zeitplan des Meisters über den Haufen geworfen. Irgendwo knirscht es halt immer bei Rocket Internet, dem Samwer-Reich, das sich heute über den ganzen Globus erstreckt – von Albanien bis nach Ruanda, von Chile bis Myanmar.

Gemeinsam mit der WirtschaftsWoche hat auch Frontal21 hinter den Kulissen "Der großen Samwer-Show" recherchiert. Der Film der ZDF-Journalisten zeigt, wie die Unternehmerbrüder Oliver, Marc und Alexander agieren.

Ihr größter Trick

Wo auch immer sich im weltweiten E-Commerce gerade Geld verdienen lässt, sind Oliver Samwer und seine Brüder Marc und Alexander mit Rocket Internet mit von der Partie. Sie waren früh an Netzgiganten wie Facebook, LinkedIn und Groupon beteiligt, haben den Modeversender Zalando zur größten Online-Kleiderkammer Europas gepäppelt und zig andere E-Commerce-Hoffnungen weltweit ausgerollt.

Die drei Samwer-Brüder

Jetzt planen sie ihren größten Coup: Sowohl für Rocket Internet als auch für Zalando loten sie Börsengänge aus. Ihre Anteile dürften dabei mit insgesamt fast drei Milliarden Euro bewertet werden. Ist die Samwer-Saga vom Aufstieg dreier deutscher Internet-Jungs zu Mega-Online-Stars also eine einzige Erfolgsgeschichte?

Die WirtschaftsWoche und das ZDF-Magazin „Frontal21“ haben die Geschäfte der Brüder im Detail durchleuchtet. Das Resultat: Kein zweiter deutscher Unternehmerclan hat in den vergangenen Jahren einen ähnlich steilen Aufstieg geschafft. Doch die Methoden, mit denen sich die drei Brüder ihren Weg nach oben bahnten, scheinen bisweilen weniger Managementweisheiten denn dem Plot des Italo-Westerns „Zwei glorreiche Halunken“ entsprungen zu sein, nur dass die Samwers zu dritt sind.

Niemand ist erfolgreicher, niemand ist umstrittener in der europäischen Internet-Szene. Das Online-Konglomerat Rocket Internet erweist sich beim näheren Hinsehen als intransparentes Unternehmensgeflecht, anfällig für Interessenkonflikte und Einflussnahmen der Großaktionäre – kurz: als gigantische Wette auf die Zukunft.

Die bekanntesten Gründungen und Beteiligungen von Rocket Internet

Angesichts der Firmenkonstruktion von Rocket Internet wirkt Zalando – der zweite Börsenkandidat der Samwer-Brüder – fast wie ein Hort der Stabilität und Transparenz. Innerhalb weniger Jahre ist das Unternehmen zu Europas größtem Online-Modehändler avanciert. Einziger Schönheitsfehler: Das Wachstum wurde mit üppigen Fördermitteln alimentiert.

In den vergangenen Jahren wurden dem Unternehmen insgesamt 35 Millionen Euro Fördergeld vom Bund und den Ländern Thüringen, Brandenburg und Berlin bewilligt. Damit zählt der Web-Angreifer zu den Subventionskönigen im deutschen Handel.

Berliner Blackbox

Noch 43 Minuten bis zum Abflug. Das Taxi fädelt sich in den Verkehr auf der Berliner Friedrichstraße ein. Die erste Ampel schaltet auf Rot. Oliver Samwer schaut vom Handydisplay auf, knipst sein Blendax-Lächeln an und ist plötzlich voll da: Die große Samwer-Show beginnt.

"Erfolgsgeschichte made in Germany"

Falls die Aktienmärkte mitspielen, könnte Rocket Internet schon im Herbst an die Börse preschen. Zuvor soll Rocket Internet noch von einer deutschen in eine europäische Aktiengesellschaft umgewandelt werden, heißt es in Finanzkreisen. Anschließend stünde eine Notierung am unregulierten Markt in Frankfurt an.

Oliver Samwer schweigt dazu. Doch im Hintergrund läuft längst die Werbemelodie, die den Gang aufs Parkett intoniert. Als „Erfolgsgeschichte made in Germany“ preist er Rocket Internet. Ein Sammelbecken für „unternehmerisches Talent und Wissen“ sei das Unternehmen, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, Online-Geschäftsmodelle aufzuspüren, zu kopieren und global auszurollen. Ein neuer, ein digitaler Mittelständler, der mit Fleiß, Disziplin und operativem Geschick geführt werde, sei Rocket Internet. Ganz nach Art des schwäbischen Schrauben- und Montagetechnik-Milliardärs Reinhold Würth – nur halt im Netz.

Das hört sich gut an. Doch der Beweis dafür, dass die Unternehmen, die Rocket Internet gründete, auch Geld verdienen wie bei soliden Mittelständlern eigentlich üblich, der fehlt bisher.

Die operativen Verluste von zehn zentralen Rocket-Ablegern, darunter der Möbelhändler Home24 und die russische Zalando-Kopie Lamoda, summierten sich 2013 auf rund 431 Millionen Euro.

Bekannte Investments der Samwers

Allerdings sind die Zahlen nur ein kleiner Ausschnitt. Wie es um das komplette Rocket-Intenet-Reich bestellt ist, lässt sich allenfalls erahnen. Insgesamt rund 1500 Einzelgesellschaften umfasst das Gebilde, teilweise untergebracht in Luxemburg und im US-Bundesstaat Delaware, jenen Hotspots der Welt, die vor allem für ihr steuermildes Klima bekannt sind – auch wenn derlei Aspekte nach Unternehmensangaben nie im Vordergrund stünden. „Das Ganze ist eine Blackbox“, sagt Jörg Funder, Professor für Unternehmensführung im Handel an der Hochschule Worms, über Rocket Internet. „Teilweise fehlen sogar die Jahresabschlüsse im Handelsregister.“

E-Commerce-Ableger von Rocket Internet

Die Lage wird nicht übersichtlicher durch einen Passus in Oliver Samwers Vertrag als Vorstandschef mit Rocket Internet. Dort ist neben der Laufzeit bis 15. Juni 2019 auch eine teilweise Befreiung vom Wettbewerbsverbot fixiert, das Top-Managern üblicherweise untersagt, für andere Unternehmen tätig zu sein. So darf der Rocket-Chef nebenher weiter die Geschäfte des European Founders Fund führen. Das Münchner Unternehmen, das kürzlich in Global Founders umgetauft wurde, gehört den Samwer-Brüdern privat. In dem Vehikel haben sie ihre Rocket-Aktien gebündelt ebenso wie ihre Anteile am Modeversender Zalando. Das Problem: Laut Satzung investiert Global Founders Risikokapital in junge Unternehmen teils in den gleichen Geschäftsfeldern, in denen auch Rocket Internet aktiv ist.

Mögliche Interessenkonflikte mag ein Rocket-Sprecher darin nicht erkennen. Global Founders verfüge über ein eigenes Investmentteam, „Oliver Samwers Fokus liegt zu 99,9 Prozent auf Rocket Internet“, heißt es offiziell.

Doch wie wird sich der Rocket-Internet-Chef entscheiden, wenn er auf das nächste große Ding im Netz stößt? Kopiert er das Geschäftsmodell im Interesse seiner Aktionäre, oder beteiligt er sich über Global Founders zum eigenen und brüderlichen Wohle? Und was machen die Brüder mit Nieten im Privat-Portfolio? Reichen sie die im Zweifel an Rocket Internet durch?

Start-up-Beteiligungen von United Internet

Dass es sich bei solchen Fragen nicht um einen akademischen Diskurs handelt, ist seit ein paar Tagen klar. Mitte August beteiligte sich der Web-Dienstleister United Internet aus Montabaur mit 10,7 Prozent an Rocket Internet und lieferte nebenbei ein finanzakrobatisches Meisterstück ab.

Auf dem Papier musste United Internet die stolze Summe von 435 Millionen Euro für das Aktienpaket berappen. Einen Teil davon – nämlich 102 Millionen Euro – zahlte das Unternehmen aber nicht bar. Stattdessen erhielt Rocket Internet allerlei Start-up-Beteiligungen. Die Anteile stammten aus einer gemeinsam geführten Gesellschaft von United Internet und Global Founders, dem Privatfonds der Samwers.

Die größten Onlineshops
Platz 10: EspritE-Commerce-Umsatz: 327,6 Millionen Euro. Das Modelabel zählt zu den beliebtesten Marken der Deutschen - vor allem der deutschen Frauen. Dennoch verliert Esprit zwei Plätze im Vergleich zum Vorjahr. Esprit kämpft seit einigen Jahren mit Qualitätsproblemen, einem schleichenden Imageverlust und hat in diesem Jahr zum ersten Mal seit dem Börsengang 1993 einen Verlust von über 400 Millionen Euro eingefahren. Mehr über die Probleme bei Esprit lesen Sie hier: "Esprit läuft die Zeit davon"Quelle des Rankings: EHI Retail-Institute + Statista Studie E-Commerce-Markt Deutschland 2013 - untersucht wurde der Markt der Top 1000 Onlineshops. Als E-Commerce-Umsatz gilt der Nettoumsatz im Jahr 2012, bereinigt von Retouren, exkl. Umsatzsteuer und nur aus der reinen Geschäftstätigkeit des Onlineshops (ohne sonstige betriebliche Erträge des Unternehmens). Quelle: Screenshot
Platz 9: CyberportE-Commerce-Umsatz: 343,1 Millionen Euro. Das Portal für Computer, Unterhaltungselektronik, Handys und Zubehör kann seinen Platz im Vergleich zum Vorjahr halten. Die Produktgruppe Computer & Co. ist mit rund 14 Prozent am Gesamtumsatz der Top-1000-Onlineshops das drittstärkste Segment im gesamten E-Commerce. Quelle: Screenshot
Platz 8: BonprixE-Commerce-Umsatz: 357 Millionen Euro. Die Otto-Tochter Bonprix ist seit 1986 am Markt. Sie wirbt mit günstigen Preise für junge Mode und spricht damit in erster Linie Frauen an. Im Vergleich zum Vorjahr verschlechtert sich Bonprix um einen Platz. 20 Prozent aller Umsätze der Top 1000 Onlinehändler wurden 2012 mit Modeartikeln gemacht. Quelle: Screenshot
Platz 7: TchiboE-Commerce-Umsatz: 360 Millionen Euro. Vom Teesieb bist zur Regenjacke - bei Tchibo gibt es nahezu alles - das scheint den Kunden zu gefallen. Der einstige Kaffeeröster schießt von Platz 16 auf Platz 7. Der Umsatzanteil der Generalisten, zu denen auch Tchibo zählt, blieb mit knapp 37 Prozent und fast 11 Milliarden Euro auf Vorjahresniveau. Rund die Hälfte aller Onlineshops betreibt wie auch Tchibo, zusätzlich ein oder mehrere stationäre Geschäfte. Beliebt sind außerdem Marktplätze wie Amazon und ebay, die von knapp 45 bzw. fast 29 Prozent der Händler genutzt werden. Smartphone- sowie Tablet-optimierte Websites oder Apps inklusive Shopfunktion sind um gut 36 Prozent gewachsen und haben ihren Marktanteil auf über 29 Prozent (Vorjahr: 21,4 Prozent) ausgebaut. Kataloge oder Magazine halten über 23 Prozent innerhalb der Vertriebskanäle. Quelle: Screenshot
Platz 6: ConradE-Commerce-Umsatz: 372,9 Millionen Euro. Werkzeug, TV-Geräte, Glühbirnen - Conrad ist das Technik-Dorado der Schrauber und Bastler. Filialen, Katalog und Onlineportal führen mehr als 220.000 Produkte. Die Conrad-Gruppe geht zurück auf Max Conrad der 1923 das "Radio Conrad" gründete. Im Vergleich zum Vorjahr verliert Conrad einen Platz im Ranking und tauscht ihn mit.... Quelle: Screenshot
Platz 5: WeltbildE-Commerce-Umsatz: 388,9 Millionen Euro. Die Verlagsgruppe Weltbild beschäftigt mehr als 6.400 Mitarbeiter. Zum Sortiment gehören Bücher und E-Books, Musik und DVDs, Software und Games, Haushaltsartikel, Spielwaren und Geschenkartikel. Im Online-Buchhandel ist der Internetshop nach eigener Aussage bereits die Nummer zwei in Deutschland. Weltbild.de macht im Vergleich zum Vorjahr im Ranking der umsatzstärksten deutschen Onlineshops einen Platz gut - von 6 auf 5. Quelle: Screenshot
Platz 4: ZalandoE-Commerce-Umsatz: 411,6 Millionen Euro. Zalando.de, hat mit Platz 4 das Sieger-Treppchen zwar knapp verfehlt, aber volle 16 Plätze im Vergleich zum Vorjahr aufgeholt. Mit seinem Mode-, Schuh- und Accessoires-Sortiment hat das "Schrei-vor-Glück"- Unternehmen das zweitgrößte Segment im Onlinehandel kräftig aufgemischt und könnte schon an die Börse gehen. Zalando feiert in diesem Jahr seinen fünften Geburtstag. Quelle: Screenshot

Erstaunlich: In den eigenen Büchern hatte United Internet diese Anteile nicht mit 102 Millionen Euro bewertet, sondern nur mit 30 Millionen Euro. Das explosionsartige Plus erklärt ein United-Internet-Sprecher mit einer „Neubewertung“ der Beteiligungen. Davon profitierten auch die Samwers. Denn auch sie gaben ihre gemeinsam mit United Internet gehaltenen Anteile an den Start-ups im Tausch gegen zusätzliche Rocket-Internet-Aktien ab – ein klassischer Samwer-Deal.

Etwas getrickst

Noch 35 Minuten bis zum Abflug. Der Taxifahrer steuert schweigend durch den Berliner Feierabendverkehr, vorbei an Häuserschluchten, Imbissbuden und Spielcasinos. Hier, mitten in der Hauptstadt, begann der Fabelaufstieg der drei Dotcom-Brüder.

1999 startete das Trio in einer Bürogemeinschaft in Berlin-Mitte Alando. Das Unternehmen sollte den Markt für Online-Auktionen aufmischen, ein deutsches Ebay werden. Schnell kristallisierte sich die Rollenverteilung innerhalb der Bruderschaft heraus: Oliver Samwer ist Anführer der Formation, Alexander der Stratege und Marc der Diplomat. Gemeinsam ist ihnen der unbändige Siegeswille. Um mehr Angebote auf die Alando-Web-Site zu bekommen, vertickten die Brüder anfangs Teile ihres Jugendzimmerinventars samt Baseballhandschuh und Modelleisenbahn.

Auch bei der Beschaffung der notwendigen Technik und der Finanzierung des Projekts waren sie nicht zimperlich. „Da mussten wir etwas tricksen“, räumte Oliver Samwer später ein. „Den Venture-Capital-Gesellschaften haben wir erzählt, die Technologie sei schon so gut wie installiert. Und die Technologiefirmen haben wir überzeugt, dass die Finanzierung schon so gut wie gesichert ist.“

Die Idee ging auf: Nach wenigen Monaten übernahm Ebay den Laden – und machte die Samwers zu Millionären. Das systematische Kopieren, Ausrollen und schnelle Weiterverkaufen von erprobten Online-Konzepten wurde fortan zu ihrem Geschäftsmodell. Alando gab die Blaupause ab: voller Einsatz, waghalsiges Tempo und mitunter ein paar Tricks.

Wann immer sich ein neuer Trend im Netz abzeichnete, schickten die Samwers nun einen deutschen Nachbau ins Rennen. Mit Rocket Internet konstruierten sie 2007 eine Plattform, um diesen Kopier- und Ausrollprozess vollends zu industrialisieren. Statt Waren laufen bei Rocket Internet-Start-ups vom Band. Unternehmen wie die Partnerbörse eDarling, der Kosmetikversender Glossybox, die Möbelhändler Home24, die Online-Bettenbörse Wimdu und der Kreditvermittler Lendico entstanden – allesamt inspiriert von Wettbewerbern. Die Kopiermasche sorgt denn auch für Empörung. Als „niedrigste Form von Müll“, beschimpfte etwa die US-Web-Koryphäe Jason Calacanis das Vorgehen der Samwers.

Die sind von den Klon-Vorwürfen genervt. Ideen gebe es schließlich wie Sand am Meer, sagt Oliver Samwer. Auf die Umsetzung komme es an. Dabei macht ihm niemand etwas vor.

Leben im Schmutz

Noch 27 Minuten bis zum Abflug. Oliver Samwer, verstrubbeltes Haar, hellblaues Hemd, drahtige Figur, zeichnet auf dem Kunstlederbezug der Rückbank im Taxi mit dem Zeigefinger die Unternehmensstruktur von Rocket Internet.

Als „McKinsey auf Steroiden“ soll er Rocket Internet einmal bezeichnet haben. Rund 330 Mitarbeiter arbeiten in der Schaltzentrale des Firmenbeschleunigers in der Berliner Johannisstraße. Die meisten von ihnen sind jünger als Lady Gaga, das Durchschnittsalter liegt bei unter 28 Jahren. Der 42-jährige Oliver Samwer gilt als oberster Einpeitscher der Truppe. Arbeitstage von 18 Stunden sind für ihn Routine. Als seinen Lieblingsfilm nannte er im „Stern“ einst das Heldenepos „Gladiator“, bei dem abgeschlagene Köpfe durch die Landschaft kegeln und Blut literweise strömt. Auch das Schottenlichtspiel „Braveheart“ gehört zu seinem cineastischen Kanon. Prädikat: Besonders lehrreich. „Schaut euch den Film ruhig an“, riet Oliver Samwer einst Studenten bei einem Vortrag. „Braveheart sah so aus, wie er lebte: im Schmutz.“ Soll wohl heißen: Auf prunkvolle Büros und ähnliches Konzernchichi sollten digitale Leistungsträger im Dienst von Dirty Olli nicht bauen.

Stattdessen gibt’s markige Ansagen vom Chef. Legendär ist etwa seine Motivationsmail an Führungskräfte betreff „When is it time for blitzkrieg“. Darin forderte er von Mitarbeitern Strategiepläne, „die mit eurem Blut unterschrieben“ sind, und gab Parolen aus wie: „Ich werde sterben, um zu gewinnen.“ Später entschuldigte er sich für die Entgleisung. Es sei nur fair, nicht jedes Wort einer nächtlichen E-Mail auf die Goldwaage zu legen.

Auch nonverbal sind die Raketen-Brüder für robuste Auftritte bekannt. Im Umgang mit Geschäftspartnern wie Wettbewerbern verortet ein früherer Rocket-Internet-Manager die Samwers und ihre Statthalter an der „Grenze des Zumutbaren“.

Zitate über Oliver Samwer

Harsche Vorwürfe gab es etwa bei Wimdu. Über die Online-Übernachtungsbörse, eine Kopie des amerikanischen Marktführers Airbnb, können private Anbieter Wohnungen an Reisende vermieten. Doch bei der Gründung von Wimdu fehlte es der Plattform an Unterkünften. Bei der Akquise von Vermietern sollen die Wimdu-Kräfte deshalb im Revier von Wettbewerbern wie Airbnb gewildert haben. Per E-Mail informierte Airbnb seine Geschäftspartner über die „Attacken der Klone“, die sogar vorgegaukelt hätten, im Auftrag von Airbnb zu arbeiten, in Wahrheit aber nur Vermieter abwerben wollten. Wimdu ließ eine Anfrage dazu unbeantwortet.

Bei Auslandseinsätzen der Samwers geht es nicht minder stürmisch zur Sache. Wenn sich die deutschen Expeditionskorps auf den Weg machen, um ein Geschäftsmodell in die Welt zu tragen, nutzen die Rocket-Internet-Kräfte Touristen-Visa. Der Antrag für ein reguläres Geschäftsvisum dauert ihnen zu lange. Irgendwann, erzählt Oliver Samwer gern, seien in einem Auslandsbüro mal ein paar Beamte zum Kontrollbesuch aufgeschlagen. An dem Tag hätten die Rocket-Touris dann halt von zu Hause aus gearbeitet. „Man muss einfach super pragmatisch sein“, so Samwer.

Alles und jeder werde dem Erfolg untergeordnet

Was das heißt, bekamen 2012 rund 400 Beschäftigte des Rocket-Standorts in der Türkei zu spüren. Weil die Zahlen nicht stimmten, wurde der Standort kurzerhand geschlossen. In Afrika verschaffte Rocket Internet seinem Online-Händler Jumia einen Vorsprung gegenüber dem wichtigsten Wettbewerber, dem nigerianischen Online-Anbieter Konga. Die Berliner sicherten sich die Konga-Web-Adressen in elf afrikanischen Ländern. „Wir beabsichtigen, unter diesem Namen ein Start-up in verschiedenen afrikanischen Ländern zu starten“, sagt ein Rocket-Sprecher dazu. Konga jedenfalls kann unter eigenem Namen dort nicht mehr antreten.

Grafik zu den Anteilseignern von Rocket Internet

Unzählige solcher Storys über das Vorgehen der Samwers – irgendwo zwischen clever und skrupellos – kursieren in der Szene. „Alles und jeder“, sagt Joel Kaczmarek, werde „in der Samwer-Maschine gänzlich dem unternehmerischen Erfolg untergeordnet“. Als Chefredakteur und Herausgeber des Branchenmagazins „Gründerszene“ hat er den Aufstieg der Brüder hautnah miterlebt.

In seiner am Donnerstag erschienenen Biografie über „Die Paten des Internets“ beschreibt Kaczmarek, wie es den Brüdern gelang, „einer ganzen Branche ihren Stempel aufzudrücken“. Die Geschichte der Samwers sei „gleichermaßen mit unglaublichen Erfolgen wie aberwitzigen Machenschaften gepflastert“, so Kaczmarek.

Ruf des Goldes

Noch 20 Minuten bis zum Abflug, die Zeit wird knapp, um die Maschine zu erreichen. Das Taxi schiebt sich den Saatwinkler Damm entlang, während Oliver Samwer über den digitalen Wandel doziert. Das ist sein großes Thema.

Schon Mitte Juni, bei ihrem Konsumgüterforum in Paris, hatten sich die Vertreter der europäischen Handelskonzerne im Kongresssaal unter dem Louvre versammelt, um dem Online-Hosianna des deutschen Web-Propheten zu lauschen. „Ich bin nicht hier, um Ihnen eine Freude zu machen“, ließ Oliver Samwer seine Zuhörer wissen, während er auf der Bühne auf und ab tigerte. „Einkaufshäuser sind etwas aus der Zeit um Christi Geburt. Es gibt sie nur, weil es früher kein Internet gab. Aber das bedeutet nicht, dass es ein Recht auf ihre Existenz gibt.“ Zum Abschied rät er den Top-Managern: „Verlassen Sie den Saal sehr paranoid.“

Zitate von Oliver Samwer

Oliver Samwer spürt besser als viele andere, dass in der Handelsbranche Alarmstimmung herrscht. Weltweit fließen Milliardenbeträge von klassischen Läden in Internet-Shops und Online-Plattformen, ordern Kunden immer mehr Waren per Smartphone und Computer. Das verändert die Hackordnung im Handel von Grund auf. Der Umbruch ist gewaltig – und liefert den Samwers das beste Verkaufsargument. Ihre Botschaft: Wer beim größten Goldrausch aller Zeiten dabei sein will, kann bei Rocket Internet die Eintrittskarte lösen. Heute werden die Claims für das Geschäft von morgen abgesteckt.

In einer Mail an einen potenziellen Geldgeber klingt das dann so: „Mein Name ist Oliver Samwer, meine zwei Brüder und ich sind Serien-Gründer“. Ganz unbescheiden findet sich in der Mail ein Link zur Vermögensübersicht der Brüder beim US-Wirtschaftsmagazin „Forbes“ nebst der Anregung, doch am besten bei einem persönlichen Treffen über die vielversprechenden Geschäftschancen in den aufstrebenden Märkten zu plaudern.

Die Reichen verfallen ihnen

Wer Interesse zeigt, darf sich auf launige Präsentationen freuen – etwa über den Rocket-Ableger Foodpanda. In einem „streng vertraulichen“ Papier von 2013 wird Vermögenden die „Revolution bei Online-Essenbestellungen in Schwellenländern“ schmackhaft gemacht. Das Geschäftsmodell: Restaurants und Lieferdienste stellen ihre Angebote bei Foodpanda ein. Ordert ein Kunde dann seine Pizza oder Pasta über die Seite, streicht Foodpanda eine Provision ein. Ab 2017 will das Unternehmen schwarze Zahlen schreiben. 2018 soll der Gewinn vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen (Ebitda) dann schwindelerregende 30 Millionen Euro und mehr erreichen. Großes Panda-Ehrenwort!

Derlei Avancen scheinen zu verfangen: Superreiche und Investoren rund um den Globus sind in den vergangenen Jahren dem Samwer’schen Lockruf gefolgt und haben teils direkt in Rocket-Ableger, teils in die Holding investiert. Der indische Stahlmagnat Lakshmi Mittal und der russischstämmige US-Milliardär Leonard Blavatnik gehören zu den Finanziers. Aus Deutschland steuerten neben United-Internet-Frontmann Ralph Dommermuth die Beteiligungsunternehmen von Tengelmann-Eigner Karl-Erivan Haub und Verleger Stefan von Holtzbrinck Millionenbeträge zu.

Stillstand ist keine Option

Der wichtigste Geldgeber ist jedoch der börsennotierte schwedische Medienkonzern Kinnevik. Rund 1,2 Milliarden Euro haben die Schweden in die Samwer-Sphäre gepumpt, den Großteil in Zalando. Mit 36,5 Prozent der Anteile sind sie der größte Anteilseigner des Modehändlers, Kinnevik-Verwaltungsratschefin und Großaktionärin Cristina Stenbeck führt den Zalando-Aufsichtsrat. An Rocket Internet selbst hält Kinnevik 18,5 Prozent.

Freie Bahn

Ankunft am Flughafen Tegel, das Taxi hält vor dem Zugang zu Flugsteig fünf. Draußen leuchtet in grellem Orange die Werbung des Autoverleihers Sixt: „Winners have a sixt sense“. Samwer reißt die Tür auf und stürmt raus. Fahrziel erreicht, Gespräch beendet, noch schnell die Tasche aus dem Kofferraum und dann zum British-Airways-Schalter.

Keine Frage, Rocket Internet und die Samwers müssen sich sputen. Egal, ob Marktplätze, Möbel- oder Modeshops – die aussichtsreichsten Massenmärkte im Web sind besetzt. Hier noch neue Marktführer zu kreieren wird immer aufwendiger. Der Kopierfabrik drohen dereinst die Vorlagen auszugehen.

Rocket Internet reagiert mit einer Art Konzern-Upgrade auf diese Gefahr und stampfte zuletzt eine Finanzsparte aus dem Boden. Im August stieg zudem die philippinische Telefongesellschaft Philippine Long Distance Telephone (PLDT) bei den Berlinern ein. Gemeinsam wollen die Partner nun in Schwellenländern Angebote für das Bezahlen per Handy aufziehen. Wenig später folgte der United-Internet-Deal und hievte die Bewertung von Rocket Internet auf insgesamt mehr als vier Milliarden Euro. Würden die Samwers ihr 54-Prozent-Paket verkaufen, könnten sie demnach mindestens 2,2 Milliarden Euro kassieren. Ihre 17-Prozent-Beteiligung an Zalando ist nach Stand der Dinge weitere 660 Millionen Euro wert.

Doch wollen die Samwers Kasse machen? „Die Eigentümer haben keine Pläne, ihre Anteile zu veräußern“, beteuert ein Rocket-Internet-Sprecher.

287 Millionen in die Samwer-Taschen

Ihren Einsatz haben die Alt-Gesellschafter ohnehin gesichert. Seit 2012 kehrte Rocket Internet fast eine Milliarde Euro an Sach- und Bardividenden an die Eigentümer aus. Das lässt sich aus einem Prüfbericht zur Umwandlung des Unternehmens in eine Aktiengesellschaft im Juli ableiten. 2012 und 2013 wurden die Samwers und ihr Investorenzirkel demnach mit insgesamt 551 Millionen Euro bedacht. Für 2014 gönnten sich die Anteilseigner eine sogenannte Vorabausschüttung. Knapp 287 Millionen Euro flossen an die Brüder und katapultierten das Trio auf Platz sechs in die Liste der größten deutschen Dividendenempfänge. Kinnevik und die Beteiligungsgesellschaft Access Industries wurden im Gegenzug mit zusätzlichen Anteilen an Zalando-Doppelgängern rund um den Erdball bedacht. Die Schweden hätten auf mehr direkte Unternehmensanteile gedrungen, heißt es im Rocket-Internet Umfeld.

Nebeneffekt: Die Auszahlungen leerten die Kasse der Rocket-Holding empfindlich. Neue Investoren und demnächst auch private Anleger sollen helfen, nachzufüllen. Dann, so die Hoffnung, wird die große Samwer-Show noch erfolgreicher, noch gewinnbringender weitergehen – fragt sich nur für wen.

Die Dame vom First-Class-Schalter schüttelt freundlich lächelnd den Kopf, als Oliver Samwer ihr seinen Pass hinhält. Leider nichts zu machen, Flug BA 987 ist dicht. Eigentlich hätte Samwer jetzt Zeit. Er könnte durch Flughafen-Boutiquen schlendern und den stationären Handel inspizieren. Die nächste Maschine nach London startet erst in eineinhalb Stunden.

Doch Stillstand ist keine Option für ihn, die Arbeit geht weiter. Er marschiert zu Gate fünf, legt Reisetasche und Handy auf das Band und passiert die Sicherheitsschleuse. Kein Piepen hält ihn auf, keine Security bittet ihn zur Nachkontrolle: freie Bahn für Oliver Samwer.

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