Jürgen Koch erinnert sich noch genau. Ob der feine BDA, der Bund Deutscher Architekten, ihn wohl rauswerfen würde, fragte sich der Düsseldorfer Architekt, falls er den Auftrag der Rewe-Group annehmen und sich in die Niederungen der Handelsarchitektur begeben würde. Der Handelskonzern hatte Mitte 2008 in Düsseldorf angefragt, ob beim Büro Koch Architekten, einem Spezialisten für nachhaltiges Bauen, Interesse bestehe, einen neuen Supermarkttyp zu entwickeln. Keine 08/15-Kiste, sondern ein Pilotprojekt, das nicht nur ein neues Energiekonzept, sondern auch eine zukunftsweisende Architektur für eine ganze Generation von Supermärkten erproben sollte.
Supermärkte der Zukunft
Koch, der immer noch Mitglied des BDA ist, nahm die Herausforderung an. Im November 2009 wurde in Berlin-Rudow, im Südosten der Hauptstadt, der Rewe-Lebensmittelmarkt nach fünf Monaten Bauzeit mitten in einem Wohngebiet als „Prototyp eines energieeffizienten Supermarkts“ eröffnet. Seinem Vorbild folgen auch die jüngst eröffneten Rewe-Märkte in Hamburg und Neckarsulm. Modell gestanden hat für die „Supermärkte der Zukunft“ die traditionelle Markthalle. Ein, so Koch, „klassischer europäischer Bautypus, wie die Kirche oder das Rathaus“, mit flexiblem Grundriss und in der Höhe großzügigem Volumen. Vor allem: mit energiesparendem, freundlichem Tageslicht und einer klaren, wiedererkennbaren Gestaltung, für die in Berlin schon das stelzenartig vorgreifende Tragwerk aus Holz sorgt, das den Kunden gleich am Eingang mit machtvoller Geste empfängt. Die Botschaft des Supermarkts: Hier wird nachhaltig gebaut.
Wie eine Kirche
Gebäude wie Jürgen Kochs Berliner Supermarkt machen Freunden der Baukultur Hoffnung: Sie künden vom Niedergang der Bierzelt- und Lagerhallenarchitektur, vom Ende des Billigbauens um jeden Preis. Ermutigende Beispiele dafür, dass es im Handel auch anders geht, gibt es allenthalben. Etwa in München-Obermenzing, wo das Büro Hild und K für die Münchner Handelskette Basic einen Supermarkt gebaut hat, der sich an seiner Schmalseite, „wie eine Kirche“ über dem dreieckigen Grundstück erhebt, mit hoch sitzendem, kreuzförmigem Sprossenfenster, das von innen den Blick auf den „rein bayrischen Himmel“ freigibt. Oder in Ingolstadt, wo sich der Edeka-Pavillon des Architekturbüros ATP mit seinen lang gestreckten Glasfassaden wie eine Hommage an Ludwig Mies van der Rohe streckt. Oder auch in der Oldenburger Provinz, in Hude, wo das Büro neun grad architektur für die regionale Handelskette aktiv & irma einen Supermarkt im Ortskern platziert hat, der sich mit einladender Gebärde wie ein Schaufenster Richtung Straße öffnet.
Architektur als Wettbewerbsvorteil
Lars Frerichs, Gründer und Chef von neun grad, konnte den Rat der Stadt Hude davon überzeugen, dass sich die monitorartige Front des Supermarkts durchaus mit dem Bullerbü-Charme des Städtchen verträgt. Konventionelle Discounter-Architektur hätte in Hude wegen der Politik keine Chance mehr gehabt. Wenn sich die Handelsketten neuerdings daran erinnern, dass Supermärkte und Discounter mehr bieten können als die handelsüblichen Hallen aus Fertigbauteilen, dann liegt das nicht zuletzt am wachsenden Selbstbewusstsein der Städte. Die Behörden lassen es nicht mehr ohne Weiteres zu, dass das kompakte Ortsbild durch gesichtslose Container-Architektur und ausufernde Parkplätze zerstört wird. Sie verbieten den Bau von Discountern. Oder sie drängen, wie der Duisburger Architekt Christian Kohl sagt, auf eine „städtebauliche Integration der Handelsimmobilien, gern auch mit ein, zwei alternativ genutzten Geschossen über dem Markt“.
Der Markt als Marke
Die Handelsketten spielen in aller Regel mit, weil der Standort in den attraktiven, zentrumsnahen Lagen der Schlüssel zu ihrem Erfolg ist. Und weil sich herumgesprochen hat, dass gute Architektur ein Wettbewerbsvorteil ist im Kampf um die Kunden. Je austauschbarer das Warenangebot in Qualität und Preis, desto stärker die Bereitschaft der Handelskonzerne, sich durch Architektur zu unterscheiden. In Zeiten der Standardisierung wird, wie der Stadtforscher Wolfgang Christ sagt, „der Standort einmalig gemacht: Der Markt wird als Marke inszeniert.“
Die österreichische Supermarktkette M-Preis hat schon in den Neunzigerjahren vorgemacht, wie Architektur auf diese Art Zeichen setzen kann: Jeder M-Preis-Markt ist anders, ein architektonisches Unikat. Seit dem Jahr 2000 hat der österreichische Handelskonzern Spar nachgezogen: Bauwettbewerbe wurden ausgeschrieben, die Budgets leicht erhöht und die Umsatzzahlen untersucht. Die Kunden, so die Bilanz, honorieren Investitionen in den architektonischen Mehrwert, die in der Regel zwischen 5 und 15 Prozent über dem Standard liegen.
Energieerzeugender Supermarkt
Das gilt auch für Graz, wo Ende 2011 ein spektakulärer Spar-Supermarkt eröffnet wurde, der erste in Österreich, der mehr Energie erzeugt, als er selbst verbraucht. „Wir haben uns architektonisch sehr weit aus dem Fenster lehnen dürfen“, sagt der Architekt Bernhard Schönherr, Partner des Grazer Büros LOVE architecture. Die rasante Form habe sich aus dem trapezförmigen Zuschnitt des Grundstücks ergeben: Durch das am Eingang angehobene und nach hinten abfallende Dach entstehe eine starke, dreidimensionale Sogwirkung in den Markt, „wie bei einer Trompete: Es zieht einen richtig in den Markt hinein, wenn man davor steht.“ Die Hülle aus verzinktem Stahlblech mit ihren umlaufenden Knickkanten und Falten steigert noch die Dynamik und erzeugt, je nach Perspektive, metallisch changierende Hell-Dunkel-Effekte, während das Innere des Supermarkts in warmen Holztönen gehalten ist.
"Quantensprung für Aldi"
Diese Rolle spielt Aldi im Einzelhandel
Aldi ist der führende Lebensmittel-Discounter in Deutschland. Fast neun von zehn Haushalten kaufen Schätzungen zufolge bei Aldi Nord und Aldi Süd regelmäßig oder spontan ein. „Da ist derjenige dabei, der zweimal in der Woche bei Aldi seinen Grundbedarf deckt, aber auch derjenige, der am Urlaubsort zufällig bei Aldi vorbeikommt und dort einkauft“, sagt der GfK-Handelsexperte Wolfgang Adlwarth.
„Der Einfluss von Aldi wird noch immer gern unterschätzt“, findet Matthias Queck vom Handelsinformationsunternehmen Planet Retail. Wenn man den deutschen Lebensmittel-Einzelhandel insgesamt betrachte, liege der Marktanteil von Aldi Nord und Süd zusammengenommen zwar nur bei 15 Prozent. Bei einzelnen Produkten sei der Marktanteil und damit der Einfluss aber wesentlich höher. „Ob bei Milch, Saft oder Zucker - Aldi legt vor und bestimmt den Preis, und alle anderen reagieren innerhalb von Stunden oder wenigen Tagen“, schildert der Experte. An Aldi-Preisen orientierten sich die großen Supermarkt-Gruppen in der untersten Preislage.
Mit dem dichten Filialnetz von insgesamt rund 4300 Märkten in Deutschland und dem begrenzten Sortiment würden Aldi Nord und Aldi Süd über Nacht zu einem der größten Verkäufer, wenn sie ein neues Produkt wie jüngst Coca-Cola in ihr Sortiment aufnehmen. Bei den eigenen Aldi-Marken stützten sich die Discountketten zum Teil auch auf verschiedene Lieferanten. „Der Discounter kann damit Lieferanten austauschen und sorgt damit für Wettbewerb unter den Herstellern.“
Die Gewerkschaft Verdi wirft Aldi Nord und Aldi Süd vor, systematisch Mehrarbeit von Mitarbeitern nicht zu bezahlen. „Aldi bezahlt die Mitarbeiter zwar grundsätzlich nach den Flächentarifverträgen. Wir stellen aber fest, dass bestimmte Zeiten wie Überstunden nicht angerechnet werden“, sagt der Verdi-Fachgruppenleiter Einzelhandel, Ulrich Dalibor. Das summiere sich zu riesigen Beträgen, die die Unternehmen ihre Mitarbeitern vorenthalten würden. „Deshalb ist die Einhaltung von Tarifverträgen in Anführungszeichen zu setzen.“
Aldi Nord beschäftigt nach eigenen Angaben rund 28.000 Mitarbeiter in Deutschland, bei Aldi Süd wird in Kreisen der Gewerkschaft Verdi von etwa 25.000 Mitarbeitern in Deutschland ausgegangen.
Der Bundesverband Deutscher Milchviehhalter sieht Aldi mit dessen Fokus auf niedrige Preise zudem als einen Wegbereiter der Billigmentalität. „Aldi nutzt Chancen, die die Molkereiwirtschaft und Milchviehhalter mit einem Überangebot an Milch bieten, wirtschaftlich bis zur letzten Nuance aus“, schildert Sprecher des Bundes, Hans Foldenauer.
Aldi Süd weist den Vorwurf, dass Mehrarbeit systematisch nicht bezahlt würde, zurück. „Eine über die offizielle Arbeitszeit hinausgehende, nicht vergütete Mehrarbeit wird weder erwartet noch geduldet. Dies wird durch den jeweiligen Vorgesetzten kontrolliert“, erklärte eine Sprecherin des Unternehmens. In einigen Fällen könne es selbstverständlich vorkommen, dass es zu Mehrarbeit, also Arbeitsstunden, die über die im Vertrag festgehaltene Arbeitszeit hinausgehen, komme. „Derartige Mehrarbeit wird immer entweder vergütet oder durch Freizeitausgleich abgegolten“, betonte sie.
Das Schwesterunternehmen Aldi Nord weist die Kritik ebenfalls zurück. Es werde eine Mehrarbeitsvergütung bezahlt - unabhängig davon, ob die Mitarbeiter tatsächlich Mehrarbeit geleistet hätten oder nicht. Dazu gebe es Vereinbarungen mit der Mitarbeitervertretung.
Verglichen mit Österreich, gebe es in Deutschland „Nachholbedarf“, sagt Thomas Mattesich, Chef des Münchner Büros von ATP Architekten Ingenieure. Zu lange sei billiges Einkaufen mit dürftigem Design gleichgesetzt worden: mit der geschlossenen Black Box, wo der Kunde im Schnelldurchgang seine Runde dreht. Dass Gestaltung und Funktion im Einzelhandel unbedingt zusammenpassen müssen, schließe nicht aus, dass der Boden eines Supermarkts, wie im Innsbrucker Kaufhaus Tirol, mit Edelholzparkettboden ausgelegt ist, und der Blick des Kunden gern auch mal zur Decke und dann erst ins Regal geht.
Dazu gehört der nötige Platz. In Ingolstadt hat ATP im Jahr 2006 den Prototyp eines Supermarkts für Edeka-Süd gebaut, der über eine „lichte Raumhöhe“ von 5, 50 Metern bei einer Regalhöhe von 1,60 Metern verfügt, was dem Kunden einen guten Überblick und damit Orientierung ermöglicht. Der auf zwei Seiten komplett verglaste Pavillon rückt, neben den Parkplätzen, an die Straße vor „wie ein überdachter Marktplatz“, der Blick geht von außen in die Tiefe des Raums über die Kassen bis zur hinteren Fleischtheke, der Eingang ist im Sinne des Corporate Designs als gelbe Box gestaltet mit Café und Bäckerei.
Lichtkuppeln bei Aldi
Transparenz, intelligenter Einsatz von Tageslicht und ordentliches Design ist inzwischen sogar für einen Discounter wie Aldi kein Tabu mehr. Die im September 2010 in Betrieb genommene Aldi-Süd-Filiale in Rastatt versuchte erstmals über Lichtkuppeln die Tageslichtverteilung im Verkaufsraum des Discounters zu verbessern.
Für den neuen Aldi-Nord-Markt im Stadtteilzentrum Oldenburg-Dietrichsfeld hat neun-grad-Architekt Lars Frerichs den Vordach-Bereich neben dem Drogeriemarkt nach dem Vorbild einer Sechzigerjahre-Tankstelle im Retro-Stil inszeniert, mit verklinkerten Rundungen, vertieften Deckenlampen und hohen Fenstern mit anthrazitfarbenem Rahmen. „Ein Quantensprung für Aldi“, sagt Jochen Rehling, Geschäftsführer von neun grad.
40 Prozent mehr Umsatz
Wenn es nach Jürgen Koch ginge, dann wäre die Front des Rewe-Markts in Berlin-Rudow bis zum Boden verglast. Doch Glas verträgt sich nicht mit den nötigen Regalflächen und erfordert bei direktem Tageslicht eine Verschattung. Wenn die Sonne zu grell durch das 280 Meter lange, umlaufende Fensterband scheint, gehen die innen liegenden Rollos automatisch hinunter. Zur Inszenierung der Warengruppen wird zusätzlich künstliches Licht mit Farbfiltern eingesetzt: So wird das Fleisch bei Rewe gern mit Rotlicht bestrahlt, damit es noch frischer, noch saftiger wirkt im Kontrast zum Schwarz der Regale und Truhen.
Warenpräsentation in Sperrholzkisten
Zu den Vorreitern dieses Schwarz-Trends gehören die FrischeParadiese, ein „Spezialmarkt und Lieferant für feinste Lebensmittel“. Seine vom Berliner Architekturbüro Robertneun gestalteten Märkte kombinieren Großhandel mit Einzelhandel. Die 2009 am Rand des Prenzlauer Bergs, in Nachbarschaft von Toom und Lidl eröffnete Filiale mit ihrer aufgeständerten, in patinierte Holzbretter gekleideten Dach-Box beherbergt im Erdgeschoss neben den Kommissionierungs- und Lagerbereichen den eigentlichen Markt mit seiner schwarz eingerahmten Glasfassade. Auch die Geflügelabteilung und das Regal mit Trüffeln und Kaviar hinter der Kassenzone werden schwarz inszeniert. Die Fischabteilung kontrastiert dazu mit einem handbemalten blauweißen Fliesenmosaik in holländischer Manier ebenso effektvoll wie die hell glänzende Kupferwand in der Käseabteilung und das Chrom hinter den Obst und Gemüsetruhen.
Das Ziel war es, so Architekt Nils Buschmann, die Lebensmittel in eine „spezifische Sinnlichkeit und Materialität“ einzubetten, die etwas von der „Rauheit und Einfachheit des Großhandels“ vermittelt. Die Einrichtung der FrischeParadiese soll, so Buschmann, in ihrer Gesamterscheinung „industriell“ wirken. Deshalb die zusammengeschraubten Sperrholzkisten, wie man sie aus dem Versandhandel kennt, und die in den FrischeParadiesen Berlin der Warenpräsentation dienen.
Immerhin: Umsatzsteigerungen von bis zu 40 Prozent sind nach Umbauten erzielt worden. Die FrischeParadiese ziehen ein zahlungskräftiges Publikum an, das Olivenöl vom Ätna oder fein marmoriertes Schweinefleisch aus Thüringen goutiert. In den Umbau der jüngst eröffneten Charlottenburger Dependance, erzählt Betriebsleiter Thomas Warmer, wurden 3,5 Millionen Euro investiert. Die edelrustikale Auskleidung der Verkaufsräume mit See-Kiefernholz wirke in Charlottenburg „noch heimeliger“.
Die relativ hohen Preise werden nicht nur durch die Architektur, sondern vor allem durch den Service gerechtfertigt. Das Personal besteht fast nur aus Köchen. „Der Bedien-Tresen kommt wieder“, prophezeit Warmer. Die Kunden schätzen die eine oder andere Rezeptempfehlung zum Tafelspitz. Ein „KaDeWe mit Parkplatz“ ist das Charlottenburger FrischeParadies genannt worden. Im Hof sind die neuesten Modelle von Audi oder Bentley zu bestaunen. Das Publikum kommt aus Grunewald, Steglitz, Wilmersdorf, Zehlendorf und Potsdam. Oder aus dem Regierungsviertel. Kürzlich ist hier auch die Kanzlerin gesichtet worden.