Fernsehmesse MipTV Wenn der Zuschauer mitten im Spiel steht

Auf der Fernsehmesse MipTV in Cannes sind die neuen digitalen Möglichkeiten des Mediums das beherrschende Thema. Mancher empfindet sie als Bedrohung des klassischen TV. Andere Sender experimentieren.

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Mit E-Sport werden heute schon 463 Millionen Dollar erlöst. Quelle: dapd

Cannes Dass diese MipTV sich von den Veranstaltungen der Vorjahre unterscheidet, sieht man schon von weitem. Vor dem Palais des Festivals in Cannes, einem unansehnlichen Betonklotz, in dem die mehr als 1600 Aussteller der Fernsehmesse ihre Stände bezogen haben, haben sich Sicherheitsleute mit knallgelben Westen postiert. Nach den Terroranschlägen in Belgien und Frankreich hat die Messeleitung die Kontrolle der Besucher ins Freie verlegt und drastisch verschärft: Ein Sicherheitsmann scannt den Code auf dem Ticket der Besucher, ein zweiter durchsucht penibel Taschen und Rucksäcke und ein dritter tastet jeden Messeteilnehmer mit einem Metalldetektor ab.

Doch nicht nur die verschärften Sicherheitsvorkehrungen unterscheiden diese MipTV von vorangegangenen Messen. Noch viel mehr als in den Vorjahren widmen sich die Veranstaltungen auf der Messe den Umbrüchen, die sich aus dem digitalen Zeitalter für das Fernsehen ergeben. Eine Veranstaltungsreihe mit dem Titel „Digital Fronts“ zieht sich über alle vier Messetage. Und bereits auf der allerersten Keynote der Messe am Montagvormittag im großen Auditorium des Palais‘ machte die amerikanische Marken-Expertin Margaret Czeisler der versammelten TV-Branche klar, was da auf sie zukommt.

Sie präsentierte eine neue Umfrage unter amerikanischen Millennials, also jungen Leuten, die um die Jahrtausendwende herum geboren wurden. Demnach haben 50 Prozent von ihnen entweder noch nie Kabelfernsehen gesehen oder wollen ihren Kabelanschluss kündigen, so sie es noch nicht getan haben. Das Kabel ist in den USA der wichtigste Übertragungsweg für das klassische lineare TV. Doch 70 Prozent der Millennials ziehen dem herkömmlichen Fernsehen Streaming-Dienste wie Netflix oder Amazon Instant Video vor. Und 90 Prozent von ihnen besuchen täglich das Bewegtbild-Portal Youtube.

Das sind Zahlen, die für die Branche nicht unbedingt beruhigend sind. „Wir wissen, dass der Wechsel vom klassischen linearen zum digitalen non-linearen Fernsehen kommen wird“, sagte der Chef eines deutschen TV-Senders dem Handelsblatt am ersten Messetag. „Wir wissen nur nicht, wann das sein wird.“

In der Branche hofft man, dass der Umbruch noch in ferner Zukunft liegt. Denn mit den Margen des hochprofitablen herkömmlichen Fernsehens können die des digitalen TVs nicht mithalten: Im Markt der Online-Videoplattformen herrscht ein gnadenloser Verdrängungswettbewerb. Hier verdient kaum einer richtig Geld. Das Jahresabo von Amazon Instant Video ist etwa schon für 49 Euro zu haben. Und mit den Multi Channel Networks – Kanäle auf Youtube, auf denen kurze Videos von Webstars wie Sängern, Comedians oder Beautyexpertinnen laufen, die bei Millennials bestens ankommen – lässt sich nur kleines Werbegeld verdienen. Dennoch müssen die TV-Konzerne schon jetzt digitales non-lineares Fernsehen anbieten, wollen sie nicht den Anschluss verlieren.


„TV = Total Video“

Die zum Medienunternehmen Bertelsmann gehörende RTL Group tut dies bereits heute. Und ihr CEO Guillaume de Posch, der am Montagnachmittag seine Keynote in Cannes hielt, vertritt ohnehin einen Fernsehbegriff, der sämtliche digitale Spielarten des Mediums beinhaltet: „TV = Total Video“ lautete der Titel seines Vortrags. Dennoch ist de Posch von der Überlebensfähigkeit des herkömmlichen Fernsehens überzeugt. Dem Handelsblatt sagte er, er glaube, dass in 30 Jahren genauso viel Zeit auf die lineare wie auf die non-lineare TV-Nutzung entfallen werde. Angesichts der Zahlen aus der Umfrage der Markenexpertin Czeisler ist das eine sehr optimistische Annahme.

Wie sehr sich die Branche schon heute verändert hat, zeigen die Veranstaltungen des Themenschwerpunkts „Digital Front“. Am ersten Messetag ging es etwa um E-Sport. Dabei handelt es sich um Wettbewerbe, die sich besonders begabte Spieler von Computer-Games vor großem Publikum liefern. Nicht nur, dass die besten Spieler, die in eigenen Ligen gegeneinander antreten, mit ihrer Leidenschaft ihren Lebensunterhalt bestreiten können. Nach Angaben des niederländischen Marktforschers Peter Warman, der sich auf die Game-Szene spezialisiert hat, werden mit E-Sport heute schon 463 Millionen Dollar erlöst.

Warman geht davon aus, dass dieser Betrag sich bis 2019 auf mehr als eine Milliarde Dollar erhöhen wird. Schon jetzt würden weltweit 131 Millionen Menschen die Spiele verfolgen. TV-Unternehmen wie die schwedische Senderfamilie Modern Times Group oder die Produktionsgesellschaft Shine Endemol übertragen E-Sport-Wettkämpfe auf Youtube-Kanälen, die dort anschließend, wie man es beispielsweise von Fußballspielen kennt, auch analysiert werden. Warman vergleicht folglich E-Sport-Wettkämpfe mit realen Profiligen und sieht ein großes Potenzial für Werbekunden und Sponsoren. In nicht allzu ferner Zukunft würden sich die Zuschauer via Virtual Reality in die Spiele der E-Sportler buchstäblich hineinversetzen können.

In Cannes wird aber nicht nur die digitale Gegenwart und Zukunft diskutiert. Hier werden selbstverständlich nach wie vor Filme und Serien für das herkömmliche TV gehandelt, von denen einige – immerhin – auch interaktive Elemente aufweisen. Das trifft beispielsweise auf das Projekt „Terror“ zu, dass die Produktionsfirma Beta Film bereits am Sonntagabend vorstellte. Dabei handelt es sich um einen Film nach dem gleichnamigen Theaterstück des Autors Ferdinand von Schirach.

Darin geht es um ein Gerichtsverfahren, dem sich ein Bundeswehrsoldat stellen muss, der ein entführtes Passagierflugzeug abgeschossen hat, das auf die vollbesetzte Münchener Allianz-Arena zu stürzen drohte. Ob der Mann schuldig ist, entscheiden die Zuschauer via App- und Online-Abstimmung. Vom Ende des Films gibt es zwei Versionen. Je nachdem, wie das Votum ausgeht, wird gezeigt, wie der Soldat verurteilt oder wie er freigesprochen wird.

Auf derselben Veranstaltung wie „Terror“ wurde auch der Dreiteiler „Mitten in Deutschland: NSU“ der internationalen Presse vorgestellt. Von den drei Regisseuren der Miniserie konnte aber nur einer zugegen sein. Zwei steckten auf dem Flughafen von Nizza fest, wo es eine Terrorwarnung gegeben hatte, nachdem ein verdächtiger Gegenstand gefunden worden war. Der entpuppte sich zwar schnell als harmloses Gepäckstück. Doch die Sicherheit, das neben der Digitalität zweite große Thema dieser MipTV, war so schon einen Tag vor ihrem offiziellen Beginn im Bewusstsein der Messebesucher angekommen.

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