Ein Show-Man sieht anders aus. Im engen blauen Pullover steht Sundar Pichai im Mai ein bisschen steif vor 6000 Technik-Enthusiasten. Ruhigen Schrittes geht der 43-Jährige auf der Bühne auf und ab, die Gestik auf wenige Handbewegungen beschränkt. Seine Worte sind wohlüberlegt, während er auf der Google-Entwicklerkonferenz I/O von der Zukunft des Internet-Unternehmens spricht. Die Stimme ist zurückhaltend, sein starker Akzent verrät die indische Herkunft.
Auftritte wie dieser werden es kaum sein, wegen denen Pichai im Gedächtnis blieben wird. “Wenn Sie Sundar Pichai überhaupt kennen, haben Sie wahrscheinlich eine der drei Stunden langen I/O-Keynotes durchlitten, die er in den vergangenen Jahren moderiert hat”, schreibt das Portal Mashable. Obwohl Pichai seit Jahren einer der führenden Köpfe bei Google war, ist er - anders als die Konzerngründer Sergei Brin und Larry Page - in der breiten Öffentlichkeit kaum bekannt.
Google-Imperium: Das ist die Alphabet-Holding
Das Dach der einzelnen Google-Einheiten bildet in Zukunft die neue Holding Alphabet. Die Unternehmensspitze besteht aus Larry Page (CEO), Sergey Brin (Präsident, Eric Schmidt (Chairman) und Ruth Porat (CFO).
Unter dem angestammten Namen des Konzerns sind die Internet-Suchmaschine, das Werbe-Geschäft sowie YouTube und Android gebündelt. Google ist damit eine Tochterfirma von Alphabet. Noch immer ist Google aber der wichtigste und wirtschaftlich stärkste Bereich.
In Googles Innovationslabor werden unter anderem selbstfahrende Autos, Drohnen und Ballons zur Internet-Versorgung entlegener Gebiete aus der Luft entwickelt.
Das Automatisierungsunternehmen Nest baut vernetzte Thermostaten, die über Apps gesteuert werden können. Auch Rauchmelder sind im Programm. Google kaufte das Unternehmen Anfang 2014 für mehr als drei Milliarden Dollar.
Die Gesundheitsfirma Calico - kurz für California Life Company - soll vor allem das Altern erforschen - um es eventuell bremsen zu können. Das Unternehmen wurde 2013 von Google gegründet.
In den USA bietet der Konzern unter diesem Namen in mehreren Städten ultra-schnelle Internet-Zugänge über Glasfaser-Anschlüsse an.
Der Spezialist Sidewalk ist auf die Infrastruktur moderner Städte fokussierte. Es geht unter anderem darum, den Verkehr effizienter zu machen, Energieverbrauch und Lebenshaltungskosten zu senken oder die Stadtverwaltung zu verbessern.
Über Google Ventures investiert der Konzern in Start-ups, unter anderem den umstrittenen Fahrdienst-Vermittler Uber.
Mit einem Schlag ist das anders: Die Moderation Ende Mai war Pichais letzter großer Auftritte als Googles stille Nummer 3. Seit dem 10. August ist er der Chef des Internet-Riesen.
Am Montag verkündete Google einen Radikalumbau. Eine Gesellschaft namens Alphabet soll in Zukunft unter Leitung von Page die verschiedenen Aktivitäten Googles bündeln.
Googles Experimente und Investitionen, wie das Forschungslabor X-Lab (Google Glass“ und selbstfahrenden Autos), das Biotech-Unternehmen Calico und der Heimautomatisierer Nest werden zu eigenständigen Unternehmen. Pichai wird dabei zum Vorstandschef vom Kerngeschäft Google selbst. De Facto ist er damit Boss des einzigen wirtschaftlich relevanten Unternehmens der Holding, das nahezu für den gesamten Umsatz von 66 Milliarden Dollar steht.
Pichai spiele eine Schlüsselrolle in der neuen Struktur, teilt Larry Page auch in Brins Namen in der offiziellen Erklärung im Unternehmens-Blog mit. "Es ist klar für uns und den Vorstand, dass es für Sundar an der Zeit ist, Googles CEO zu werden."
Darauf, dass er einmal einen der einflussreichsten Konzerne der Welt führen wird, deutete in Pichais Kindheit wenig hin.
Pichai Sundararajan - so der indische Name - wird 1972 in Tamil Nadu geboren, eine Region im Süden Indiens. Er wächst in einer Zwei-Zimmer-Wohnung auf, die Verhältnisse sind einfach. Das erste Telefon bekommt die Familie, als Sundar zwölf Jahre alt war, erzählte er im vergangenen Jahr der „Bloomberg Businessweek“ . Ihr übliches Fortbewegungsmittel war ein Motorroller, auf den sie zu viert stiegen. Sundar fuhr vorne im Stehen.
Google in Zahlen
Der Umsatz des Internet-Giganten lag im vierten Quartal 2014 bei 18,1 Milliarden Dollar. Den größten Teil seiner Umsätze (12,4 Milliarden Dollar) erzielte Google dabei auf den eigenen Seiten, den Rest (3,7 Milliarden Dollar) auf den Webseiten von Geschäftspartnern.
Wenn es um das Geldverdienen geht, ist Google quasi ein „One-Trick Pony“, also ein Zirkuspferd, das nur einen einzigen Trick beherrscht, nämlich Werbung. Von den 18,1 Milliarden Dollar Umsatz im vierten Quartal 2014 entfielen gut 16,1 Milliarden auf Online-Werbung.
In der Google-Bilanz wird neben Online-Werbung nur noch ein Umsatz-Segment mit dem Namen „Other“ (Anderes) aufgelistet. Hinter diesen Umsätzen von knapp zwei Milliarden Dollar, die Google nicht weiter aufschlüsselt, stehen nach Experten-Einschätzung vor allem die Gebühren aus dem Play Store, die der Internet-Riese von den Entwicklern von Android-Apps und Unterhaltungsanbietern verlangt.
Google Suche, G-Mail, Google Maps, der Online-Speicher Google Drive, das Smartphone-Betriebssystem Android mit dem App-Store Google Play: Die Liste der Google-Dienste wird von Jahr zu Jahr länger. In seinen geheimen Labs arbeitet der Konzern außerdem bereits an weiteren Produkten wie einem selbstfahrenden Auto oder Heißluft-Ballons, über die auch entlegene Gegenden mit Internet-Zugängen versorgt werden sollen.
Sundar ist schon als Kind zurückhaltend. "Höflich" sei er, schrieben die Lehrer in sein Zeugnis. Und "folgsam". Einer, der zufriedenstellen will. Keiner, der sich gerne nach vorne drängelt.
Schon früh bemerkten Eltern und Freunde, dass er ein irrsinnig gutes Zahlengedächtnis hat. Selbst lange Telefonnummern kann er sich merken, wenn er sie einmal eingetippt hat. Nach der Schule beginnt er sein Studium am indischen Institute of Technology Kharagpur. Ein Stipendium für die kalifornische Elite-Uni Stanford bringt Pichai 1993 in die USA. Allein der Hinflug kostet seinen Vater ein Jahresgehalt: 1000 Dollar. Später arbeitet Pichai als Produktmanager beim Hersteller von Halbleitertechnik Applied Materials und bei den Beratern von McKinsey.
Pichais Herausforderungen als Google-CEO
Am 1. April 2004 beginnt Sundar Pichai seine Arbeit bei Google. Der Job ist kein Scherz. Pichai wird Produktmanager, er soll die Such-Boxen in den großen Browsern Firefox und Internet-Explorer verbessern. Doch der junge Mann denkt größer - und entwickelt nebenbei gleich einen eigenen Google-Browser. Keine zehn Jahre später ist Chrome eine feste Größe und hat den einstigen Platzhirschen in vielen Ländern den Rang abgelaufen.
Mit dem Chrome-Coup qualifiziert sich Pichai für Höheres. Er betreut die Entwicklung des Google-eigenen Betriebssystems Chrome OS und des schlanken Laptops Chromebook. Der Cloudspeicher Drive, der Kartendienst Maps und Gmail - Pichai kümmert sich in der Folge um Googles wichtigste Projekte - jene, die den Internetriesen tief im Leben der Nutzer verankern. Pichai konzentriert sich darauf, die Dienste leichter zugänglich zu machen - und damit neue Nutzer zu gewinnen und alte enger zu binden. Was seine Lehrer “folgsam” nannten, macht Pichai zu seiner großen Stärke. Er versteht sich als Diener der Nutzer.
Die Erfolge von Gmail, Maps und GoogleDrive werden so zu persönlichen Siegen für Pichai. Und Google weiß, was man an dem jungen Inder hat. Als der Kurznachrichtendienst Twitter 2010 versucht, Pichai abzuwerben, zahlt der Konzern einen Bonus aus - eine Summe zwischen zehn und 50 Millionen Dollar, heißt es in der Branche.
2013 übernimmt Pichai eines der wichtigsten Google-Projekte. Er wird Chef der Android-Sparte, nachdem sich deren Leiter, Andy Rubin, mit Larry Page überworfen hat. Das Mobile-Betriebsystem gilt als Googles wichtigstes Standbein neben der Suchmaschine und läuft auf dem Großteil aller Smartphones weltweit.
Der Ehrgeiz ist endgültig geweckt. Als Steve Ballmer Anfang 2014 seinen Rücktritt als Microsoft-CEO ankündigt, wird plötzlich Pichai als einer der heißesten Nachfolge-Kandidaten gehandelt. In Redmond übernimmt schließlich Satya Naella das Ruder - und Pichais Karriere macht trotzdem einen kräftigen Sprung. Seit vergangenem Herbst verantwortet er nahezu das gesamte Onlinegeschäft.
Mit seiner Konzentration auf die Bedürfnisse der Nutzer bewegte sich Sundar Pichai bislang auf einer Linie mit seinem Vorgesetzten Page. In Interviews wich er nie von der Konzernlinie ab. “Sundar sagt seit einiger Zeit Dinge, die ich genauso sagen würde - manchmal sogar besser”, verkündet Page entsprechend mit väterlicher Zufriedenheit.
Auch bei seinen Kollegen ist Pichai beliebt. “Sundar hat nie einen schlechten Tag”, zitiert die New York Times den Risikokapitalgeber und ehemaligen Kollegen Chris Sacca. “Seine positive Energie ist ansteckend und sein Optimismus zieht die besten Talente an.”
Ob sich die Eintracht auch in Zukunft hält, ist ungewiss. Ebenso, ob seine zurückhaltende Art dazu taugt, ein solches Konzern-Dickschiff zu lenken. Denn auch die um die Moonshots verkleinerte Google-Kerneinheit steht vor Herausforderungen. Die sind nicht mal finanzieller Art. 2014 erzielte das Unternehmen bei knapp 70 Milliarden Dollar Umsatz 14,4 Milliarden Dollar Gewinn.
Doch die Abhängigkeit vom Suchmaschinengeschäft und der dabei ausgespielten Werbung ist enorm. Ein zweites, auch nur annähernd ähnlich potentes Standbein aufzubauen, ist Google bislang nicht gelungen. 90,4 Prozent des Umsatzes wurden zuletzt mit Werbebannern erwirtschaftet.
Youtube, dass auch in Zukunft zu Google gehören wird, macht zwar enorme Umsätze, knappst aber nur an der Schwarzen Null. Google Plus, das soziale Netzwerk, das Facebook in seine Schranken weisen sollte, kann der Konkurrenz nicht das Wasser reichen. Im Gegenzug wildert Facebook sogar im Google-Territorium, zeigt Videos im Nachrichtenverlauf und schraubt an der eigenen Suchfunktion.Insbesondere im schnell wachsenden Segment der Werbung auf Smartphone und Tablet macht Facebook große Sprünge. Noch liegt Google zwar vorn, aber der Abstand wird geringer.
Sundar Pichai wird beweisen müssen, dass sein Weg der Konzentration auf die Nutzerbedürfnisse der richtige ist, um Facebook Paroli zu bieten. Von oberster Stelle hat Sundar aber auch die Erlaubnis, weiter zu experimentieren. "Ich weiß, dass Sundar sich immer auf Innovationen konzentrieren wird", so Larry Page.
Wie genau die neue Struktur von Google und der Alphabet-Holding aussieht, welche Änderungen kommen und wann sie in Kraft treten, wird sich erst in den kommenden Wochen zeigen. Bisher übt sich Pichai weiter in Zurückhaltung und Bescheidenheit. “Thanks”, antwortet er einer Handvoll prominenter Gratulanten wie Satya Nadella und Tim Cook auf Twitter. Kaum ein Wort mehr. Ein Show-Man hätte seinen Aufstieg anders verkündet.