Kommentar zu Twitter Gefallener Star mit Identitätskrise

Die Interessenten stehen bei Twitter Schlange: Unternehmen von Microsoft bis Disney denken über einen Kauf des Zwitscherdienstes nach. Am sinnvollsten wäre so ein Milliardendeal aber wohl nur für ein einziges Unternehmen.

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Die guten, alten Zeiten: Twitter ging 2013 an die Börse – heute gilt das Unternehmen als Übernahmekandidat. Quelle: AFP

Düsseldorf Was das größte Problem von Twitter ist, lässt sich an den Schlagzeilen der vergangenen Tage festmachen. Während der Präsidentschaftsdebatte in den USA zwitschert es im Online-Dienst wie selten zuvor, aus dem Nachrichtengeschehen ist er nicht wegzudenken. Trotzdem spricht der Verwaltungsrat offenbar mit mehreren Interessenten über einen Verkauf, darunter Google-Mutter Alphabet und Disney. Das zeigt: Dem Unternehmen ist es nicht gelungen, aus seiner öffentlichen Bedeutung ein tragfähiges Geschäftsmodell zu entwickeln.

Das wäre aber auch für jeden neuen Eigentümer eine große Herausforderung. Denn das Management ist chaotisch – viele Führungskräfte haben sich in den vergangenen Monaten abgesetzt, wichtige Produkte sind nicht oder nur mit Verzögerung fertig geworden. Zudem ist die Strategie nicht klar – Twitter ist bekannt als Kanal für Promis und Medienmacher, soll aber zu einer Plattform für Live-Inhalte werden. Wer dieses Unternehmen kauft, übernimmt auch eine lange To-Do-Liste. Womöglich traut sich am Ende nur Google zu, diese abzuarbeiten.

Twitter befindet sich in einer dauerhaften Identitätskrise. Schon in den ersten Jahren stritten die Gründer darüber, was der Zwitscherdienst sein soll, auch heute grübelt das Management über die Ausrichtung. Er ist derzeit irgendetwas zwischen Nachrichtenticker und Befindlichkeitsbarometer, Konzernchef Jack Dorsey will ihn zu einem Medium für Live-Inhalte ausbauen. Einige Matches aus Wimbledon und Spiele der Football-Liga NFL waren dort bereits zu sehen.

Es ist eine Wette, dass Twitter doch zu einem Massenmedium werden kann, wie es die Anleger nach dem Börsengang 2013 hofften. Denn während Medienmacher, Prominente und Geeks nicht auf den schnellen Nachrichtenkanal verzichten wollen, werden viele Gelegenheitsnutzer von der immer noch umständlichen Bedienung abgeschreckt. Beide Seiten zufriedenzustellen, ist schwierig: Als Dorsey darüber nachdachte, die Tweets nicht einer chronologischen Liste anzuzeigen, sondern sortiert nach Popularität, protestierten viele Intensivnutzer vehement.

Kurz gesagt: Der Konzern hat ein fundamentales Problem mit seinem Kernprodukt. Er braucht viel zu lange, um es anzugehen. Und fast jede Maßnahme droht einige der treuesten Nutzer zu vergraulen.


Facebook dürfte am Kartellamt scheitern

Trotz dieser Herausforderung stehen die Interessenten offenbar Schlange. Immerhin ist selten ein Unternehmen mit einer derartigen Reichweite und Bedeutung wie Twitter auf dem Markt. Da ist etwa Google und dessen Mutterkonzern Alphabet, der den Trend zu Social Media verpasst hat. Den Preis, den Insider irgendwo zwischen 16 und 30 Milliarden Dollar ansiedeln, könnte er locker stemmen.

Da ist Salesforce, das seine Unternehmenssoftware mit Künstlicher Intelligenz trainieren will und aus den Echtzeitdaten wertvolle Erkenntnisse gewinnen könnte, etwa für den Kundendienst. Da sind außerdem der Medienkonzern Disney, der Netzbetreiber Verizon und der Softwareriese Microsoft, deren Interesse aus Börsenkreisen vermeldet wird.

Welches dieser Unternehmen ernsthaft infrage kommt, ist aber fraglich. Salesforce dürfte an die Grenzen der finanziellen Belastbarkeit geraten. Disney könnte den Deal stemmen, müsste seinen Aktionären aber die Frage beantworten, warum ein einzelner Kanal so viel Geld wert sein soll – zumal dieser seinen Wert verlöre, wenn man ihn zu einem exklusiven Abspielkanal für Disney-Inhalte machte. Microsoft ist noch mit der Übernahme von Linkedin beschäftigt, Verizon ist gerade dabei, sich Yahoo einzuverleiben. Und Facebook, bisher nicht als Interessent genannt, müsste ohnehin die Kartellbehörden fürchten.

In Zeiten billigen Geldes wagen Unternehmenslenker gerne riskante Übernahmen. Geht es rein nach strategischen Gesichtspunkten, wäre es aber kein Wunder, wenn am Ende nur Google als Käufer übrig bliebe. Der Suchmaschinenriese versteht das digitale Werbegeschäft wie kaum ein anderer und hat mit Youtube selbst eine Videoplattform. Nach dem Scheitern des sozialen Netzwerks Google+ fehlt ihm zudem eine starke Präsenz in den sozialen Medien. Aber ob er sich einen Partner mit Identitätskrise antun will, überdies mit teurer Mitgift? Die nächsten Monate werden es zeigen.

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