Rein ins Taxi. Handy in die Hand. Kurze Ansage an den Fahrer. Und Tempo bitte, in 45 Minuten muss Oliver Samwer im Flieger nach London sitzen. Während der Wagen zum Flughafen Berlin Tegel startet, tippt Samwer auf seinem Smartphone rum, nestelt nebenbei den Gurt ins Schloss und macht dazu eine Miene, als wolle er das Wetter draußen beschreiben: Nieselregen.
Dabei war alles ganz anders geplant. Samwer hatte zu einem Hintergrundgespräch in die Zentrale seiner Online-Holding Rocket Internet nach Berlin-Mitte geladen. Um das Geschäftsmodell der Start-up-Schmiede sollte es gehen. Stattdessen bietet er eine Hetzjagd durch die Hauptstadt.
Man müsse das bitte verstehen, hat Samwers Pressesprecher noch kurz gesagt, bevor er die schwarze Rolltasche seines Chefs in den Kofferraum des Taxis wuchtete. Unvorhergesehene Ereignisse hätten den Zeitplan des Meisters über den Haufen geworfen. Irgendwo knirscht es halt immer bei Rocket Internet, dem Samwer-Reich, das sich heute über den ganzen Globus erstreckt – von Albanien bis nach Ruanda, von Chile bis Myanmar.
Ihr größter Trick
Wo auch immer sich im weltweiten E-Commerce gerade Geld verdienen lässt, sind Oliver Samwer und seine Brüder Marc und Alexander mit Rocket Internet mit von der Partie. Sie waren früh an Netzgiganten wie Facebook, LinkedIn und Groupon beteiligt, haben den Modeversender Zalando zur größten Online-Kleiderkammer Europas gepäppelt und zig andere E-Commerce-Hoffnungen weltweit ausgerollt.
Die drei Samwer-Brüder
Auf rund 400 Seiten schildert Gründerszene-Chefredakteur Joel Kaczmarek in „Die Paten des Internets“ das Leben der drei Brüder Marc, Oliver und Alexander Samwer – von ihrer Kindheit über ihr erstes eigenes Unternehmen bis zum gigantischen Start-up-Schmiede „Rocket Internet“. Das Buch gewährt nicht nur vertiefende Einblicke in das gigantische Firmenimperium der Samwers, es vermittelt auch einen Eindruck in die Denkweise der ehrgeizigen Geschwister und zeigt ihre unterschiedlichen Charaktere auf.
„Die Paten des Internets. Zalando, Jamba, Groupon – wie die Samwer-Brüder das größte Internet-Imperium der Welt aufbauen" von Joel Kaczmarek, Finanzbuch Verlag, 19,99 Euro.
Zu Beginn des Samwer-Aufstiegs sucht auch Marc (* 3. Dezember 1970) häufig die Öffentlichkeit, überließ jedoch später häufig Oliver Samwer das Rampenlicht und konzentrierte sich auf seine Rolle als rechtlicher Berater und Steuerer des Samwer-Imperiums. Der erste Sohn des Kölner Rechtsanwalts Sigmar-Jürgen gilt als charismatischer und vernünftiger Gesprächspartner. Allerdings haftet dem ältesten Bruder auch der Ruf als Manipulator an.
Kaczmarek: "Marc Samwer, ein Menschenfänger mit Juristenverstand"
Studium: Rechtswissenschaften
Der mittlere Bruder (* 9. August 1973) hat schnell die Anführerrolle des Trios übernommen. Oliver organisiert und treibt die Entwicklung des Samwer-Imperiums voran.
Kaczmarek: „ Ein Mann, der sich körperlich bis an die Grenzen der Belastbarkeit tastet und einen gewissen Masochismus zeigt, wenn es darum geht, (über andere) zu triumphieren. Dem es gleichzeitig aber auch an einem moralischen Kompass oder einer für Unternehmer üblichen Wirtschaftsethik fehlt. […] Schnelligkeit und seine Auffassungsgabe heben Oliver Samwer deutlich hervor, doch es gibt eine Eigenschaft, die ihn wirklich von allen anderen absetzt – das ist diese ganz eigene Art, wie er mit Menschen umgeht und sie steuert. […] Ist es in seinem Interesse, verströmt er eine inspirierende, anregende Aura, der selbst Größen der internationalen Finanzwelt mit Leichtigkeit verfallen.“
Abitur-Note: 0,8
Studium: Betriebswirtschaftslehre
Anders als seine Brüder gilt Alexander nicht als nur vom Ehrgeiz Getriebener, sondern als analytischer Denker. Er wird als menschlich, höflich und zurückhaltend beschrieben.
Kaczmarek: „Während die Gründungen, bei denen Oliver oder Marc Samwer federführend tätig waren, oftmals auf kurzfristigen Erfolg angelegt waren, konzentrierte sich Alexander Samwer auf die anspruchsvollen Aufgaben und betreute diese mit strategischer Weitsicht.[…] Hätte es ihn nicht in die Selbstständigkeit als Internetunternehmer verschlagen, könnte er heute genauso als Vorstandsvorsitzender eines DAX-Unternehmens tätig sein.“
Abitur-Note: 0,66
Studium: Volkswirtschaftslehre
Jetzt planen sie ihren größten Coup: Sowohl für Rocket Internet als auch für Zalando loten sie Börsengänge aus. Ihre Anteile dürften dabei mit insgesamt fast drei Milliarden Euro bewertet werden. Ist die Samwer-Saga vom Aufstieg dreier deutscher Internet-Jungs zu Mega-Online-Stars also eine einzige Erfolgsgeschichte?
Die WirtschaftsWoche und das ZDF-Magazin „Frontal21“ haben die Geschäfte der Brüder im Detail durchleuchtet. Das Resultat: Kein zweiter deutscher Unternehmerclan hat in den vergangenen Jahren einen ähnlich steilen Aufstieg geschafft. Doch die Methoden, mit denen sich die drei Brüder ihren Weg nach oben bahnten, scheinen bisweilen weniger Managementweisheiten denn dem Plot des Italo-Westerns „Zwei glorreiche Halunken“ entsprungen zu sein, nur dass die Samwers zu dritt sind.
Niemand ist erfolgreicher, niemand ist umstrittener in der europäischen Internet-Szene. Das Online-Konglomerat Rocket Internet erweist sich beim näheren Hinsehen als intransparentes Unternehmensgeflecht, anfällig für Interessenkonflikte und Einflussnahmen der Großaktionäre – kurz: als gigantische Wette auf die Zukunft.
Die bekanntesten Gründungen und Beteiligungen von Rocket Internet
mGut 100 Unternehmen haben die Samwer-Brüder mit ihrer Start-up-Schmiede "Rocket Internet" in den vergangenen Jahren gegründet oder sich an ihnen beteiligt. Die folgenden Liste ist nur eine kleine Auswahl, die zeigt, wie vielschichtig und umfassend das Portfolio der Brüder ist. Deutlich wird auch, dass die Ideen für die Unternehmen selten die eigenen sind.
Quelle: Joel Kaczmarek: Die Paten des Internets, 2014
Unternehmen: Ads.com.mm
Vorbild: Craigslist
Einstieg: Juli 2012
Unternehmensart: Kleinanzeigen (Anzeigen)
Herkunftsland: Myanmar
Unternehmen: Airizu
Vorbild: Airbnb
Einstieg: Mai 2011
Unternehmensart: Privatzimmervermittlung
Herkunftsland: China
Unternehmen: Airu
Vorbild: Etsy
Einstieg: Juli 2011
Unternehmensart: Marktplatz für Selbstgemachtes
Herkunftsland: Mittel- und Südamerika
Unternehmen: Dealstreet
Vorbild: Swoopo
Einstieg: April 2009
Unternehmensart: Live-Shopping Anbieter
Herkunftsland: Deutschland
Unternehmen: Edarling
Vorbild: Eharmony
Einstieg: November 2008
Unternehmensart: Online-Partnervermittlung
Herkunftsland: Deutschland
Unternehmen: Fashion4Home
Vorbild: MyFab
Einstieg: Juli 2009
Unternehmensart: Onlineshop für Designer-Möbel
Herkunftsland: Deutschland
Unternehmen: HelloFresh
Vorbild: Middagsfrid
Einstieg: November 2011
Unternehmensart: Abo-Commerce zu Rezepten samt Zutaten
Herkunftsland: Afrika, Asien, Europa, Lateinamerika, Mittlerer Osten
Unternehmen: LadenZeile
Vorbild: Like.com
Einstieg: Januar 2009
Unternehmensart: Metasuche für Shoppingangebote
Herkunftsland: Deutschland
Unternehmen: Lazada
Vorbild: Amazon
Einstieg: Februar 2012
Unternehmensart: Online-Versandhaus
Herkunftsland: Südostasien
Unternehmen: MyBrands
Vorbild: Dress-for-Less
Einstieg: Mai 2009
Unternehmensart: Online-Designer-Outlet
Herkunftsland: Deutschland
Unternehmen: Payleven
Vorbild: Square
Einstieg: Januar 2012
Unternehmensart: Anbieter für Mobile Payment
Herkunftsland: Deutschland
Unternehmen: Sexpartnerclub
Vorbild: -
Einstieg: Juni 2007
Unternehmensart: Casual-Dating-Portal
Herkunftsland: Deutschland
Unternehmen: Toptarif
Vorbild: Check24
Einstieg: Juli 2007
Unternehmensart: Online-Preisvergleich
Herkunftsland: Deutschland
Unternehmen: Westwing
Vorbild: One Kings Lane
Einstieg: September 2011
Unternehmensart: Shoppingclub für Wohn-Accessoires
Herkunftsland: Deutschland
Unternehmen: Wimdu
Vorbild: Airbnb
Einstieg: Februar 2011
Unternehmensart: Privatzimmervermittlung
Herkunftsland: Deutschland
Unternehmen: Zalando
Vorbild: Zappos
Einstieg: Juni 2008
Unternehmensart: Onlineshop für Fashion
Herkunftsland: Deutschland
Angesichts der Firmenkonstruktion von Rocket Internet wirkt Zalando – der zweite Börsenkandidat der Samwer-Brüder – fast wie ein Hort der Stabilität und Transparenz. Innerhalb weniger Jahre ist das Unternehmen zu Europas größtem Online-Modehändler avanciert. Einziger Schönheitsfehler: Das Wachstum wurde mit üppigen Fördermitteln alimentiert.
In den vergangenen Jahren wurden dem Unternehmen insgesamt 35 Millionen Euro Fördergeld vom Bund und den Ländern Thüringen, Brandenburg und Berlin bewilligt. Damit zählt der Web-Angreifer zu den Subventionskönigen im deutschen Handel.
Berliner Blackbox
Noch 43 Minuten bis zum Abflug. Das Taxi fädelt sich in den Verkehr auf der Berliner Friedrichstraße ein. Die erste Ampel schaltet auf Rot. Oliver Samwer schaut vom Handydisplay auf, knipst sein Blendax-Lächeln an und ist plötzlich voll da: Die große Samwer-Show beginnt.