Start-up-Szene in London „Wie ein Reh im Scheinwerferlicht“

Die Londoner Start-up-Szene fürchtet sich vor den Brexit-Folgen. Anders als bei den Giganten Google und Facebook verliert die britische Hauptstadt für ihre Talente an Attraktivität. Großer Profiteur könnte Berlin sein.

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Das „Nein” der Britten zur EU könnte vor allem für die Londoner Start-up-Szene Spätfolgen haben. Quelle: Prisma Bildagentur

London Es weht ein eisiger Wind durch die dunkle Halle im Londoner Osten, in der dieses Jahr die Start-up-Messe „TechCrunch Disrupt“ stattfindet. Nicht im übertragenen Sinne, sondern ganz konkret: Eine Heizung gibt es nicht, und draußen ist es für britische Verhältnisse ungewöhnlich kalt. Aber heiter ist die Stimmung ohnehin nicht. Der Brexit sorgt für Unsicherheit. Auch hier ist der bevorstehende Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union das beherrschende Thema. „Natürlich hat das Folgen“, sagt ein Teilnehmer in der Schlange vor der Kaffeemaschine. „Aber nicht für die großen Unternehmen – es wird die kleinen Start-ups treffen“, sagt er.

Dabei könnte die Stimmungslage zwischen den jungen Start-ups und den Internetgiganten nicht unterschiedlicher sein: Die einen fürchten sich, die anderen verbreiten positive Nachrichten. In den vergangenen Wochen haben Branchenriesen wie Google, Facebook oder Apple verkündet, weiter in Großbritannien investieren zu wollen. „Großbritannien bleibt eines der besten Länder für ein Technologieunternehmen“, erklärte Facebook-Landeschefin Nicola Mendelsohn.

Im kommenden Jahr will sie hier 500 Mitarbeiter neu einstellen. Google-Chef Sundar Pichai bleibt England ebenfalls nach dem EU-Referendum treu: Der Internetgigant will einen neuen Firmenkomplex bauen und 3000 Mitarbeiter anheuern. Schon seit Jahren war das im Gespräch, nun hat Google eine Entscheidung getroffen. „Ein Bekenntnis zur Attraktivität des Standorts Großbritannien“, freuen sich Politiker wie Finanzminister Philip Hammond, der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan und Matt Hancock, als Kulturminister zuständig für die Technologiebranche. Doch in den Messehallen der TechCrunch ist die Meinung zu diesen Nachrichten zurückhaltender. Euphorie sieht anders aus.

„Große Firmen werden weiter in Großbritannien investieren“, sagt James Wise von der Venture-Capital-Gesellschaft Balderton. Das Umfeld sei gut und es gebe Hoffnung, dass die britische Regierung die Bedeutung der Technologiebranche erkenne. Doch im gleichen Atemzug weist er auf das Risiko hin, dass Großbritannien durch den Brexit an Anziehungskraft für neue Mitarbeiter verlieren könne – und besonders Unternehmen aus dem digitalen Bereich seien stark abhängig von ausländischen, gut ausgebildeten Mitarbeitern. Bislang würden diese sich auf der Suche nach einem Job im Ausland häufig für Großbritannien entscheiden, und fast jedes zweite Start-up auf der Insel wurde gegründet von jemand, der nicht aus Großbritannien stamme.

Mit dem Brexit könnte sich das ändern. Zumal die Konkurrenz vom Kontinent eine Chance wittert, Unternehmensgründer zu sich nach Berlin, Paris oder Stockholm zu locken. Für Aufsehen in der Szene sorgte ein Fahrzeug aus Deutschland, das im Sommer mit der Aufschrift „Dear start-ups, keep calm and move to Berlin" durch London fuhr. Sie müsse nicht einmal Busse losschicken, um Werbung für Paris zu machen, sagt Axelle Lemaire, Frankreichs Ministerin für Innovation, nun selbstbewusst. Denn die Frage sei, ob sich ausländische Arbeitskräfte nach dem Brexit-Votum überhaupt noch willkommen fühlen.

In einem Aspekt macht sich der Brexit bereits jetzt konkret bemerkbar: beim Gehalt. Durch den Rutsch des Pfund Sterlings nach dem EU-Referendum verdient ein britischer Entwickler von Internetseiten rund 20 Prozent weniger als im europäischen Ausland. Ein Nachteil, gerade im Konkurrenzkampf mit internationalen Städten. Für internationale Großkonzerne wie Apple oder Google könnte sich das sogar als Vorteil erweisen. Denn in ihrer Rechnung werden die Mitarbeiter in Großbritannien durch den Währungsverfall preiswerter – und erhöhen somit indirekt den Gewinn.


„Vielleicht sollte ich einfach nach Berlin gehen“

Das dringendste Problem für die Londoner Technologieszene ist aber nicht, ob diejenigen Unternehmen, die bereits auf der Insel etabliert seien, hier bleiben – es sei die Frage, ob sich Gründer in Zukunft noch hier ansiedeln und damit das viel zitierte „Ökosystem“ austrocknet. Einige Gründer überlegten sich bereits, ob sie noch nach London gehen wollen, berichtet Reshma Sohoni von der Investmentgesellschaft Seedcamp.

Sie müssten schließlich langfristig planen, wo sie ihre Teams aufbauen. Und wenn man dann nicht nur die hohen Lebenshaltungskosten in London in Erwägung ziehen müsse, sondern auch noch wie schwierig es ist, Visa zu bekommen, fragen sich viele, „warum soll ich mich damit rumschlagen, vielleicht sollte ich einfach nach Berlin gehen“.

Derzeit dauert es im Schnitt gerade einmal drei Wochen, bis ein Start-up eine Stelle neu besetzt – sollte der Bewerber ein Visum benötigen, dürfte es nicht mehr so einfach sein, jemanden einzustellen. Konzerne wie Google und Facebook sind auf derartige bürokratische Hindernisse vorbereitet, bieten meist für neue Mitarbeiter Hilfen bei Formalitäten an – ein Service, den sich kleine Start-ups nicht leisten können.

„Ich denke, wir sind in einer Art Reh-im-Scheinwerferlicht-Modus“, sagt Sonali De Rycker von der Venture-Capital-Gesellschaft Accel. Ein Gründer, der mit seinem Unternehmen den nächsten Schritt gehen, expandieren wolle und überlege, in den kommenden Jahren ein paar hundert Mitarbeiter einzustellen, werde seine Entscheidung jetzt erst einmal auf Eis legen. Aber „wird man immer noch London einem anderen Hub wie Paris, Berlin oder vielleicht Stockholm vorziehen?“, zweifelt sie. „Wir wissen nicht, was passieren wird“. Und klingt damit bei weitem nicht so optimistisch wie die Pressemitteilungen der großen Konzerne.

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