Twitter Jack Dorsey scheitert mit der Wiederbelebung

Jack Dorsey erfand vor zehn Jahren Twitter. Er führte den Kurznachrichtendienst bis 2008, dann wurde er gefeuert. Vor einem Jahr kam er als Krisenmanager zurück. Jetzt steht Twitter zum Verkauf.

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Twitter-Chef Jack Dorsey. Quelle: Bloomberg

Keine Diagnose fürchten sie im Silicon Valley mehr als diese: Wir schrumpfen. Vom Schrumpfen aber künden die freien Büroflächen, die derzeit in San Franciscos bester Innenstadtlage zu haben sind. Twitter, einst auf Augenhöhe mit Google und Facebook, entlässt Mitarbeiter. Und sucht einen Untermieter.

Was in anderen Branchen als rationale Anpassungsmaßnahme durchgeht, ist für die allein am Wachstum gemessenen Techfirmen im Valley eine existenzielle Frage: Die Gerüchte, dass der Konzern verkauft werden soll, entwickeln eine Dynamik, die nicht nur Unruhe, sondern auch Tatsachen schafft. Angeblich ist schon eine Investmentbank beauftragt, um den Verkauf zu organisieren. Das Softwareunternehmen Salesforce, Google, Microsoft und der Medienkonzern Disney, so hieß es vergangene, seien interessiert. Seitdem bekannt wurde, dass Google und Disney kein Interesse haben, fiel die Twitter-Aktie zwischenzeitlich um 20 Prozent.

In den verbliebenen Twitter-Konferenzräumen, die dem Vogel-Logo des Zwitscherdienstes entsprechend Wagtail (Bachstelze) oder Waterthrush (Waldsänger) heißen, ist ans Arbeiten kaum mehr zu denken.

Zahlen und Fakten zu Twitter

Beruhigen könnte nur der Hausherr. Doch Twitter-Gründer Jack Dorsey ist in diesen Tagen an der Ostküste unterwegs – für seinen börsennotierten Finanzdienstleister Square, den er parallel zu Twitter führt. In Washington spricht er auf einer Konferenz über die Zukunft des Bezahlens. Twitter erwähnt er mit keiner Silbe. In seiner Doppelrolle, in Dorseys Sprachlosigkeit und in den Gerüchten, die ungefiltert und nicht kommentiert durchs Valley vagabundieren, manifestieren sich die Probleme von Twitter. Sie verraten nicht nur viel über den schwankenden Grund, auf dem sich das Unternehmen bewegt. Sondern auch viel über die großen Egos, wie es sie nur an Amerikas Westküste gibt.

Eines der Gerüchte besagt, dass Dorsey sich vor allem deshalb an der Ostküste aufhalte, um bei einem Abstecher nach New York mit der Investmentbank Goldman Sachs den Verkauf von Twitter zu beraten. Ein Mitarbeiter aus der Zentrale will das allerdings nicht glauben: „Jack hat uns versichert, dass er Twitter nicht verkaufen will.“

Auch Dorsey selbst erweckt nicht den Anschein, als trüge er Verkaufsabsichten mit sich herum. „Wir liefern Nachrichten schneller als jeder andere, und wir tun es mit einer unverwechselbaren Stimme“, bekräftigte er jüngst in einem Interview. Für den Herbst ist eine große „Wiedergeburts“-Offensive geplant. Doch in der Gegenwart herrscht Flaute, nicht Aufbruch.

Erst erwog Dorsey, das 140-Zeichen-Limit bei Twitter abzuschaffen. Jetzt belässt er beinahe alles beim Alten; allein das Zitieren anderer Nachrichten und das Posten von Fotos und Videos gehen nicht mehr auf Kosten der Maximalzeichenzahl. In der Öffentlichkeit entsteht so das Bild eines Konzerns, dem man alle möglichen Gedankenspiele zutraut – und der fast nichts entscheidet.

Es ist ein Bild, das mit dem Selbstbild von Dorsey kollidiert. Der Twitter-Gründer bastelt an einer Autobiografie vom besessenen Multitalent, an einer Geschichte, die das Beste von Elon Musk mit dem Besten von Steve Jobs kombiniert: Dorsey will wie Jobs der einst verstoßene Gründer sein, der bei seiner fulminanten Wiederkehr sein Baby rettet. Der den Minimalismus liebt. Der Perfektion fordert und sein Team mit unerwarteter Kritik am eigenen Produkt zur kreativen Verzweiflung bringt. Der seine ganze Kraft aus der Arbeit bezieht. Für den sein Unternehmen so etwas ist wie seine Familie.

Abgerundet wird die Selbsterzählung von einer Vielfachbegabung à la Elon Musk. Der Twitter-Chef kann nicht nur Codes schreiben, er kann auch eine Jeans professionell schneidern oder eine Rückenmassage fachgerecht verabreichen. Er engagiert sich politisch. Als ein Polizist in Ferguson, Missouri, den schwarzen Schüler Michael Brown erschießt, marschiert der Milliardär bei den Protesten mit. Dorseys langfristiges Berufsziel: Bürgermeister von New York. Und bis dahin managt er nicht nur ein globales Superunternehmen, sondern zwei.

Schritt halten mit seinem Selbstbild

Doch in entscheidenden Punkten kann Dorsey nicht Schritt halten mit seinem Selbstbild: Er mag besessen sein – konsequent ist er nicht. Er mag vieles können – das Wichtige verliert er dabei aus dem Blick.

Dorseys Zweitunternehmen Square läuft zwar gut, seinen Ruhm aber bezieht er von Twitter, wo es nicht recht vorangehen will. Die Nutzerzahlen stagnieren bei gut 300 Millionen, dabei sollten es laut Unternehmensprognose längst 550 Millionen sein. Die Aktie steht auf dem gleichen Stand wie zu Jahresbeginn, nachdem sie zwischenzeitlich um 40 Prozent eingebrochen war. Twitter ist derzeit rund 16 Milliarden Dollar wert. Es waren mal 48 Milliarden.

Die Ursache der Misere: drei Egos

Sucht man nach den Ursachen für die Misere, muss man zurückgehen in die ersten Jahre des Unternehmens. Am 21. März 2006, so geht die Firmenlegende, sitzt Dorsey an seinem Schreibtisch beim Start-up Odeo und überlegt, was er der Welt mitteilen will. Der Entwickler schwärmt für Malerei, Poesie und Mode. Er entscheidet sich gegen die große Kunst und für den Pragmatismus des Programmierers: „Richte gerade mein Twttr ein.“

Es ist die Geburtsstunde von Dorseys Idee: eine Plattform, auf der jeder jedem mitteilen kann, was er gerade macht oder denkt. Finanziert und damit auf den Weg gebracht wird der Geistesblitz von Odeo-Eigentümer Evan Williams und Wagniskapitalgeber Peter Fenton. Als das Unternehmen im November 2013 an die Börse geht, ist die Aktie 30-fach überzeichnet, das Unternehmen 32 Milliarden Dollar wert.

Dorsey, dem Williams einen Teil seiner Aktien übertragen hat, ist reich. Ein Triumph für den Programmierer. Und ein schwerer Schlag für den Manager. Denn schon zwei Jahre nach dem Twitter-Start ist Dorsey von Fenton abserviert worden: Dorsey, so hieß es damals, sei der Aufgabe nicht gewachsen. Die Vorwürfe: schlechter Führungsstil, kryptische Anweisungen. Und Desinteresse.

Dorsey nahm Unterricht an einer Modeakademie, während Twitters Netz mal wieder zusammenbrach. Er müsse sich schon entscheiden, ob er Schneider sein wolle oder CEO, soll ihn sein Gönner Williams gerüffelt haben. Williams übernimmt den Posten. Dorsey wird in den Verwaltungsrat abgeschoben. Ein Posten als Frühstücksdirektor, den er „als Schlag in die Magengrube“ empfindet. Dorsey schwört Rache. Seither hat jede Managemententscheidung bei Twitter eine persönliche Ebene.

Monatlich aktive Nutzer von Facebook und Twitter. Quelle: Facebook

Gelegenheiten zur Revanche gibt es für Dorsey mehrfach. So wie 2011, als Twitter in einer Sinnkrise steckt. Der verstoßene Gründer hat sich beim Aufbau seines Bezahldienstes Square bewährt; jetzt wird er als Produktguru für Twitter verpflichtet, um den Dienst zu vereinfachen. Damalige Mitarbeiter erinnern sich, wie selbstherrlich Dorsey auftritt und alle Leute kaltstellt, von denen er annimmt, sie seien Williams-Getreue. Es ist nur ein kurzes Gastspiel von Dorsey. Der Verwaltungsrat schreitet ein und beendet das Intermezzo. Erster Versuch gescheitert.

Ein ausgeglichener Dorsey

Der zweite läuft gerade. Mit ihm verbinden sich Befürchtungen – und Hoffnungen. Enge Weggefährten wie Twitter-Mitgründer Biz Stone sind überrascht, wie sehr sich Dorsey gewandelt hat. Der Gründer wird im November 40; das mittlere Alter scheint ihn wenn nicht weiser, so doch ausgeglichener gemacht zu haben. Sicher, Dorsey kann mit seinem langen Schweigen weiterhin jeden aus dem Konzept bringen. Seine Lieblingsfrage ist immer noch: Warum? Der Unterschied ist: Dorsey will nicht mehr Menschen abkanzeln. Sondern Debatten befeuern.

Gleichwohl: Seit Dorseys Amtsantritt hat eine Riege von erfahrenen Managern Twitter verlassen, so Marketingchefin Katie Stanton, Produktchef Kevin Weil und Personalleiter Brian Schipper. Dorsey hat knapp 350 von 3900 Mitarbeitern gefeuert und die Verantwortlichkeiten neu definiert. „Ich wusste bei Twitter eigentlich nie, wer gerade tatsächlich für das Produkt zuständig war“, sagt ein CEO aus dem Silicon Valley, dessen Unternehmen mit dem Kurznachrichtendienst kooperiert hat. Das sei nun anders.

Das Problem ist nur, dass Twitter nicht innoviert. Während Facebook-Chef Mark Zuckerberg, mit dem sich Dorsey hin und wieder zum Essen trifft, sein Netzwerk mit neuen Formaten zum Tummelplatz für die ganze Familie entwickelt hat, wird bei Twitter jede Idee probiert und wieder verworfen. So ist bis heute kein nachhaltiges Geschäftsmodell entstanden. Seit der Gründung wurden fast 2,5 Milliarden Dollar verbrannt. Allein in 2015 standen einem Umsatz von 2,2 Milliarden Dollar rund 520 Millionen Dollar Verlust gegenüber. Hat Twitter eine Zukunft?

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Marc Benioff, milliardenschwerer Gründer von Salesforce, ist davon überzeugt. Er würde aus dem Nachrichtenstrom bei Twitter gern ein Frühwarnsystem für Manager basteln, etwa wenn sich Anzeichen verdichten, dass ein neues Produkt beim Kunden durchfällt oder eine Marketingkampagne zu kontrovers ist. Google-CEO Sundar Pichai sieht das ähnlich. Twitter könnte den persönlichen Assistenten aufwerten, den sein Konzern entwickelt. Selbst Disneys Interesse ist nicht weit hergeholt: In dem Maße, wie Smartphones für den Medienkonsum immer bedeutsamer werden, könnte Twitter zu einer Art Programmdirektor avancieren.

Letztlich zeigen die drei unterschiedlichen Beweggründe, woran Twitter und sein Manager Dorsey bis heute scheitern: an zu wenig Ideen und an zu viel Fantasie. Twitter ist weder soziales Netzwerk noch Medienkonzern. Weder simpel noch multifunktional. Die Zeit für eine Entscheidung naht. Endlich.

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