Von wegen Sommerloch. Die Nachricht schlug am Montagnachmittag wie eine Bombe im Silicon Valley ein. Dass mit Marissa Mayer eins der bekanntesten Gesichter von Google den Chefposten bei Yahoo übernehmen würde, damit hatte im Hightech-Tal niemand ernsthaft gerechnet. Denn es galt nur als Formalie, dass der Übergangschef Ross Levinsohn den Vorstandsvorsitz dauerhaft übernehmen würde. Der hatte zuletzt Eindruck gemacht, weil er einen Patentstreit mit Facebook gütlich beilegte. Doch der Hedgefonds-Manager Daniel Loeb, der für den Abgang von Yahoo-Chef Scott Thompson gesorgt hatte, wollte lieber einen Vorstandschef mit Produkterfahrung an der Spitze sehen. Levinsohn ist jedoch vornehmlich ein Medienmanager. Ob er bei Yahoo verbleibt, ist ungewiss.
Noch überraschender: Die Ex-Produktchefin und Vorzeigefrau von Google tritt ihren Job bei der angeschlagenen Internet-Ikone schon am heutigen Dienstag an, pünktlich zur Bekanntgabe der neuesten Quartalszahlen, die wegen zusätzlicher Ausgaben durch Massenkündigungen wahrscheinlich schlecht ausfallen werden.
Mayers Blitzübernahme legt den Schluss nahe, dass Google über die Wechselpläne informiert war. Seit langem gibt es Gerüchte im Silicon Valley, dass Yahoo seine Anzeigenvermarktung an Google auslagern möchte.
Zwar akzeptiert die kalifornische Justiz Wettbewerbsklauseln nicht, wie Hewlett Packard beim Wechsel seines langjährigen Chefs Mark Hurd zu Konkurrent Oracle bereits schmerzlich feststellen musste. Das macht das schnelle Wechseln zum Wettbewerb möglich.
Eine weitere Bombe ließ Mayer dann am Dienstagmorgen via Twitter platzen: Sie und ihr Ehemann, der Anwalt Zachary Bogue, erwarten im Oktober ein Baby. Sie habe im Januar von ihrer Schwangerschaft erfahren und sei dementsprechend hin und her gerissen gewesen, als sie am 18. Juni den entscheidenden Anruf von Yahoo bekommen habe. Allerdings habe niemand im Unternehmen ein Problem damit gehabt, eine schwangere Chefin einzustellen, sagt Mayer. "Sie denken alle sehr fortschrittlich", sagte Mayer. Sie wird ihren neu angetretenen Job also in wenigen Monaten kurzzeitig unterbrechen und anschließend ins Unternehmen zurückkehren.
Mayer kennt Googles Strategie im Detail
Und wer Mayer kennt, weiß auch, dass die Ex-Freundin von Google-Gründer Larry Page nichts machen würde, was ihrem langjährigen Arbeitgeber vorsätzlich schädigt. Andererseits blieb Page auch nichts anderes übrig, als Mayer sofort gehen zu lassen. Denn bis vergangene Woche war sie in alle wichtigen Produktentscheidungen eng eingebunden und kennt Googles langfristige Strategie in allen Details.
In mehreren Interviews mit der WirtschaftsWoche während ihrer Google Karriere hatte die blitzgescheite Blondine mit dem fotografischen Gedächtnis und mathematischen Talent stets klargemacht, dass sie ihre Mission bei der Suchmaschine nicht nur als Job, sondern als Lebensaufgabe sah. Ihre Eltern waren geschockt, als die Stanford-Absolventin 1999 das Startup Google als ihren ersten Arbeitgeber wählte. Dort war die Informatikerin mit dem Spezialgebiet Künstliche Intelligenz Mitarbeitern Nummer 20 und die erste weibliche Entwicklerin überhaupt.
Mayer kennt Googles Strategie im Detail
Mayer gilt als bodenständig und wirkt sympathisch, allerdings wegen ihrer Ungeduld und ihrem Fokus auf Details auch als anstrengende Chefin. Aber sie lässt sich auch umstimmen. „Wenn mir jemand anhand von Daten schlüssig beweisen kann, dass er richtig liegt und ich falsch, habe ich kein Problem damit“, so Mayer. Für Yahoo und seine Mitarbeiter ist die Berufung von Mayer nach der Pleite mit der resoluten Software-Expertin Carol Bartz und dem geschassten Ex-Paypal-Chef Scott Thompson ein Glücksfall. Denn erstmals seit Jahren kehrt dabei wieder etwas Enthusiasmus bei dem angeschlagenen Unternehmen ein, sogar leise Hoffnung. Zumindest bei den Entwicklern. In der Verkaufssparte, die sich auf mehr Einfluss unter Levinsohn gefreut hatte, wollte sich am Montag keine richtige Begeisterung einstellen.
Finanziell unabhängig und glaubwürdig
Die erst 37-jährige Vorstandschefin ist eine der erfahrensten Internet-Expertinnen, hat Trends im Internet vorangetrieben und großen Anteil am Aufstieg von Google. Bei Google war sie zuletzt für dessen lokale Produkte wie die mobile Suche, Google Maps, Street View und Google Earth verantwortlich. Lokale Anzeigenwerbung gilt als das nächste große Wachstumsgeschäft im Internet.
Die mit dem Immobilieninvestor Zachary Bogue verheiratete Managerin ist dank ihrem frühen Einstieg bei Google schwerreich. Ihr Privatvermögen wird auf mehrere hundert Millionen Dollar geschätzt. Damit ist sie finanziell unabhängig. Vor allem aber genießt Mayer – der Prototyp eines Workaholics – wegen ihrer Verdienste und ihres Arbeitseifers hohen Respekt in der Branche. Kombiniert mit ihrer finanziellen Unabhängigkeit, ihrem Wissen und Kontakten kann sie damit bei Yahoo auch Entscheidungen durchsetzen, die sonst nur ein Gründer vertreten könnte und vor allem auch nach innen und außen glaubhaft kommunizieren.
Leicht wird es nicht. Obwohl im Wachstumsmarkt Online-Werbung tätig, leidet Yahoo unter Cash-Flow-Problemen. Das Unternehmen hat begabte Talente und mit ihnen viel Erfahrung an Facebook und Google verloren, von der angeknacksten Mitarbeitermotivation ganz zu schweigen. „Yahoo ist seit mindestens fünf Jahren schlecht geführt worden“, gibt Citigroup-Analyst Mark Mahaney zu bedenken. Er hat Zweifel, dass Mayer „trotz ihrer herausragenden Fähigkeiten“ Yahoo wieder fit machen kann. Ihr finanzieller Spielraum ist eingeengt.
Nach der ehemaligen Google-Topmanagerin Sheryl Sandberg, die als operatives Genie hinter Facebook-Gründer Mark Zuckerberg gilt, drückt nun eine weitere Vorzeigefrau der Branche ihren Stempel auf. Nach HP-Chefin Meg Whitman und IBM-Lenkerin Virginia Rometty ist Mayer nun die dritte Frau an der Spitze eines weltweit tätigen US-Hightechkonzerns. Ihre Berufung hat die Dynamik in der Internet-Branche verändert.
Kopfschmerzen bei Facebook
Facebook und dessen Verbündeten Microsoft wird der Wechsel an der Yahoo-Spitze arges Kopfzerbrechen bereiten. Denn im Silicon Valley erwartet man, dass Mayer enger mit Google kooperieren wird. Wirtschaftlich macht das Sinn. Die Stärken von Google sowohl bei der Vermarktung von suchbasierten Anzeigen als auch bei Online-Bannerwerbung würden Yahoo schnell wieder auf die Füße helfen. Dafür müsste sie allerdings die Allianz mit Microsoft kündigen, was mit Zugeständnissen an den Softwarekonzern verbunden wäre.
Rückhalt der Yahoo-Gründer
Den Segen von Jerry Yang und David Filo hätte sie. Die Yahoo-Gründer hatten nach der gescheiterten Übernahme durch Microsoft ohnehin zunächst den engeren Kontakt mit dem großen Nachbarn gesucht, der als Dienstleister von Yahoo einst seinen ersten großen Durchbruch feierte. Doch die US-Wettbewerbsbehörde machte unmissverständlich klar, dass sie eine Allianz mit Google nicht genehmigen würde. Der im Juni 2008 geschlossene Deal wurde wieder aufgehoben.
Seitdem hat Yahoo mächtig Federn gelassen. Bei der Online-Bannerwerbung im Kernmarkt USA, wo das Medienunternehmen jahrelang Marktführer war, ist es mittlerweile von Facebook und Google abgehängt. Laut Schätzungen des Beratungsunternehmens eMarketer führt dort Google mit 16,8 Prozent knapp vor Facebook. Yahoo hat nur noch 8,1 Prozent des Marktes. Noch schlimmer sieht es bei der Internet-Suche aus. Die im Juli 2009 mit Microsoft geschlossene Allianz entpuppte sich als wahres Gift für Yahoo. Seit Sommer 2010 betreibt Microsoft die Suchmaschine von Yahoo und entwickelt sie weiter.
Zwar garantiert der Softwarekonzern Mindestumsätze für Yahoo, egal wie gut oder schlecht die Geschäfte laufen. Aber dafür hat Yahoo Marktanteile an Microsofts Suchmaschine Bing abgegeben und vor allem sein Schicksal eng mit dem Softwarekonzerne aus Redmond verknüpft. Dessen Chef Steve Ballmer steht selber in der Kritik, weil seine Internet-Sparte auf keinen grünen Zweig kommt und in den vergangenen zehn Jahren rund zehn Milliarden Dollar Verluste produziert hat. Erst kürzlich musste Microsoft eine Abschreibung in Höhe von 6,2 Milliarden Dollar in seiner Internet-Sparte bekanntgeben. Schlimmer noch als die Rekordsumme war das damit einhergehende Eingeständnis, dass die Pläne bei der Online-Bannerwerbung nicht aufgegangen sind. Dort hat Microsoft in den USA laut eMarketer einen kläglichen Marktanteil von 4,4 Prozent.
Kündigt Mayer die Microsoft Allianz?
Die damals gefeierte Allianz mit dem Softwarekonzern hat Yahoo in die missliche Lage gebracht, im lukrativen Geschäft mit suchbasierten Anzeigen von Microsoft abhängig zu sein. Einen gänzlichen Ausstieg aus der Internet-Suche kann sich Ballmer aus strategischen Gründen zwar nicht leisten. Verliert der Konzern allerdings die Lust am Geschäft und kürzt an seinem Budget für das Weiterentwickeln der Such- und Vermarktungstechnologie, würde das auch Yahoo treffen. Dort hatte man ohnehin schon argwöhnisch die engere Kooperation mit Facebook beobachtet. An dem sozialen Netzwerk ist Microsoft nicht nur beteiligt, sondern bindet auch dessen Inhalte in seine Suchmaschine Bing ein. Ballmer ist ein großer Fan von Zuckerberg.
Für Mayer wird nun die erste Herausforderung die Neudefinition der Partnerschaft mit Microsoft sein. Einen allzu engen Schulterschluss mit Google darf sie allerdings auch nicht wagen, weil die US-Wettbewerbsbehörden mit Sicherheit ihr Veto einlegen würden. Mit Facebook darf sie es sich auch nicht verscherzen, weil das soziale Netzwerk vieler seiner Nutzer an Yahoo weiterleitet und somit für Traffic sorgt. Eins ist klar: Yahoo ist dank der Wahl seiner neuen Chefin wieder interessant geworden. Mayer muss nun dafür sorgen, dass sie schnell ihren neuen Kurs absteckt. Die Kritiker werden ihr trotz aller Verdienste nicht viel Zeit geben.